Fischer-Z – Aufstieg eines Alleskönners


Unterwegs zu Fischer Z. In Gatwick, dem zweiten qroßen Londoner Flughaien, holt mich John Watts ab. „Wir fahren nach Brighton“, sagt er, „mit dem Zug“. „Wen treffen wir dort noch?“ frage ich. „Niemanden“, sagt er, „nur meine Freundin“. „Ist Fischer Z jetzt ein Einmannbetrieb“, frage ich. Ja“, antwortet John.

Remember Russia: da war Fischer Z noch eine richtige vierköpfige Band Mit GOING DEAF FOR A LIVNG, dem zweiten Album, habe dieses Konzept dann Risse bekommen, erzählt John. In der Band habe man ruhig und offen darüber gesprochen, und einen neuen modus vivendi gefunden. Fischer Z betreibt John Watts jetzt in eigener Regie, Keyboard-Spieler Steve Slolnik ist ganz ausgestiegen, David Graham, der Bassist, und Steve Liddle, der Drummer, kommen zu Plattenaufnahmen ins Studio und spielen auf Tourneen. John Watts‘ kreative Kreise stören sie jedoch nicht.

England hat eine neue Generation von Alleinunterhaltern hervorgebracht, ohne Zweifel. Denken wir an John Fox, Gary Numan, Brian Eno, David Cunningham von den Flying Lizards, oder an den Spätzünder Peter Gabriel. Sie alle arbeiten im Dunstkreis der New Wave, sind ernst, vielseitig begabt und auch erfolgreich. Diese Merkmale gelten gleichermaßen für John Watts, auch wenn er in seiner englischen Heimat bislang kaum Aufsehen erregt hat. Umso besser kennt man ihn, oder genauer – Fischer Z, in der Bundesrepublik, in Belgien, Holland und Australien. John Watts ist klug, hat ein Psychologie-Studium abgeschlossen, schreibt derzeit an einem Theaterstück (obwohl, wie er sagt, auch ein Roman dabei herauskommen könnte) und macht sich vor allem bei der Beschäftigung mit Musik furchtbar viel Gedanken. Erweitert man den Kreis dieser von Motörhead wie von Bill Haley weit entfernten Musiker über die englischen Grenzen hinaus und bezieht zum Beispiel noch einen David Byrne in New York mit ein, dann steht man vor einem weltweiten Phänomen: Die Rockmusik hat wieder einen starken intellektuellen Ast entwickelt, zu einem Zeitpunkt, an dem eine nachgewachsene Generation Antworten auf Schlüsselfragen ihrer Existenz sucht, alternative Antworten vor allem. Der Zufall hat eine Band wie Fischer Z also nicht in die Welt gesetzt.

John Watts‘ großes Thema ist zur Zeit der Rückzug des Individuums, des Individuellen. Wir stoßen auf dieses Thema im Zug nach Brighton, auf dem bequemen Weg in eine Stadt, die sich über Hügel hinzieht, die geradewegs zum Meer abfallen; eine Stadt, die ihren eigenen Charakter ebenso unterstreicht durch die Vielzahl von Häusern aus früheren Jahrzehnten unseres Jahrhunderts, die man hier nicht abgerissen hat. „In London“, sagt John, „gibt es Rockgruppen wie Sand am Meer“. Auch deshalb sei er nach Brighton gezogen.

He’s a real Nowhere Man, sitting in his Nowhere Land, making all his Nowhere plans for nobody. Seit John Lennon dieses Lied komponiert hat, ist die unheimliche Entwicklung noch schneller vorausgeschritten. „Als wir letztes Jahr die Fischer Z-Tour durchzogen“, meint John, „fiel mir auf, wie viele Teile der Welt sich inzwischen total gleichen. Stadtbilder, Flughäfen, Hotels – alles dasselbe. Es ist so wichtig, daß einzelne Menschen, wie auch ganze Staaten ihren eigenen Charakter, ihre eigenen Wesensmerkmale behalten. Wenn das nicht passiert, sehe ich eine ganze Kette von Folgen. Die Leute verlieren immer mehr ihre persönliche Freiheit. Sie können ihr Dasein nicht mehr bestimmen, ihr Schicksal nicht mehr beeinflussen, und eine Menge furchtbarer Sachen passieren.“

Wenn John Watts lange nach einem Aufnahmestudio sucht und schließlich im Manor-Studio landet, das in einem alten Herrenhaus weit draußen in der grünen, sanften englischen Landschaft installiert wurde, wenn er schon in der Schule als Wahlfach Russisch belegte, weil fast alle seiner Mitschüler Deutsch lernen wollen; wenn er heute in Brighton wohnt, um sich vom Heer der Rockgruppen abzuheben, das London bevölkert, dann zeigt sich, daß RED SKIES OVER PARADISE, das jüngste Fischer Z-Album, keine intellektuelle Spielerei ist, sondern stark autobiogratische Züge aufweist und ein Kernproblem seines Schöpfers reflektiert. lohn Watts hat den Rückzug des Individuellen zum durchgehenden Thema dieser LP gemacht, hat also im Grunde ein Konzeptalbum vorgelegt. „Die Songs“, sagt er, „behandeln verschiedene Aspekte dieses Grundthemas. Nimm den Song „Luton To Lisbon“. Luton ist ein Ort nahe London. Erst wenn du nach Lissabon kommst, so weit weg von London, beginnen die Dinge sich zu ändern. Portugal hat noch starke individuelle Charakterzüge. Meist sind es aber Städte, von denen man so etwas sagen kann. Städte wie Berlin oder New York. Auch wenn New York so unschön und so unwirtlich ist – ich mag die Stadt, denn sie besitzt ungeheuer viel Energie.“

Berlin“ heißt auf RED SKIES OVER PARADISE ein Song, der erste des Albums sogar. An Berlin fasziniert John Watts die Atmosphäre, die dort durch die „exotische Verbindung von alter Welt und neuer Welt* entstanden sei. Eine Stadt mit vornehmlich alten und jungen Menschen, mit großem Baubestand von Häusern aus den dreißiger Jahren hart neben neuen Betonlandschaften. Tradition und sogenannter Fortschritt. Spannung, die Konflikte, aber auch eine eigentümliche Atmosphäre schafft. Ein Brennpunkt, aber einer mit Charakter. In Berlin oder in New York will John Watts die nächste Fischer Z-LP aufnehmen.

Verstehen die Leute eigentlich all die Dinge, die er durch seine Platten vor ihnen ausbreitet? Ja“, antwortet er, „auf jeden Fall. In meinen Texten drücke ich mich durch einfache Worte aus; je komplexer das Thema, je tiefer die Analyse, desto einfacher die Texte.“ Zudem, erklärt er, passe er auf, das das Gewicht der Worte nicht die Musik an die Wand drückt. Deshalb sage er vieles auch indirekt. „Ich beobachte Tatsachen, und die kommen kommentiert in Form von Gefühlen wieder aus mir heraus.“ John Watts fährt also zweigleisig, versucht über Text wie Musik zu kommunizieren. Kann man die Gefühle und das was sie vermitteln wollen, auch allein durch die Musik mitbekommen, bei völliger Mißachtung der Texte? „Oh ja“, sagt John, „auf jeden Fall“.

Haben wir es hier sozusagen mit intellektuellen Emotionen zu tun? Ich glaube ja, denn der Song „Cruise Missiles“ zum Beispiel sagt mir allein mit der Hilfe der Musik mehr als drei schlaue Leitartikel in der „Süddeutschen Zeitung“. Leute wie John Watts haben die Rockmusik, die als emotionales Kommunikationsmedium ja anfangs recht undifferenziert eine neue Art von Lebensgefühl und neue Lebensinhalte verbreitet hatte, einen Feinschliff verpaßt, mit dem man der Realität der achtziger Jahre auf der Spur bleiben kann Nicht nur Hard- und Heavyrocker sind offenbar unfähig, da noch mitzuhalten – John Watts beurteilt sogar einen großen Teil der aktuellen britischen New Wave-Produktionen recht kritisch. „Da wird Jugendarbeitslosigkeit beklagt und Rassendiskriminierung. Das sind natürlich Tatsachen. Aber wer redet über die Ursachen? Mich interessiert genau das. Ich möchte solche Phänomene analysieren. Das allerdings ist bei einem großen Teil der englischen Musikszene verpönt. Daneben gibt es noch den Eskapismus, die Flucht vor den realen Anforderungen des Lebens in Zerstreuung und Vergnügen. Jene Musik berücksichtigt überhaupt nicht mehr, was in der Welt wirklich vorgeht.“

Baby let the good times roll – das ist wohl nicht mehr. John Watts ist zwar kein säuerlicher Weltverbesserer, sondern besitzt eine gute Portion britischen Humors (weshalb der bissige Sozialkritiker der sechziger Jahre, Ray Davies, wohl auch sein Idol ist). Dennoch wehrt er sich dagegen, Rockmusik ins Unterhaltungsgetto sperren zu lassen. „Die Musik ist ein Verstärker dessen, was um uns und in uns vorgeht“, betont er. „Und sie ist auch ein Mikroskop, das vieles deutlicher macht.“

John Watts‘ Musik ist mit seiner neuen LP kraftvoller, schneller, packender geworden. Sie entspricht mehr dem Charakter der live-Auftritte als dem etwas zu weich gezeichneten Studiosound der Debüt-LP WORD SALAD. Dies als Trost für alle, die fürchten, dem Psychologen sei zwischen Luton und Lissabon womöglich der Wortsalat zu Kopf gestiegen. Fischer Z hat mit RED SKIES OVER PARADISE ein ausgereiftes und erregendes Stück Musik vorgelegt. John Watts redet gern, aber er singt noch besser, spielt auch gut Gitarre und die Keyboards, schreibt hervorragende Songs und steht als Produzent seinen Mann. Auf zwei Ebenen teilt er uns etwas mit und teilt etwas mit uns; die Angst vor 1984.