„Formel Eins“


Nach 23 wöchentlichen Ausstrahlungen im vergangenen Jahr stand Deutschlands einflußreichste und gleichzeitig beliebteste Rock-TV-Sendung fest. Ihr Name: „Formel eins“, ihr Konzept: die Präsentation von Hitparaden aus den USA. Großbritannien. Holland und der BRD via Video.

Im Spätherbst 1983 dann verschwand der Charts-Fernseh-Renner in eine Winterpause, um sich nun wieder zurückzumelden. Allerdings mit leichten Änderungen im Design, die sowohl Zuschauer als auch Macher mit einem lachenden und einem weinenden Auge verfolgen werden.

Hatte der „Formel eins‘-lnitiator Rolf Spinrads noch vor gut einem Jahr ME/ Sounds erklärt:.. Wenn diese Sendung nicht mindestens 20 Jahre lang läuft, dann verstehe ich die Welt nicht mehr. Ich würde fast Wetten darauf abschließen, daß .Formel eins‘ immer noch läuft, wenn ich am Krückstock gehe“, so dürfte er bei der Comback-Ausstrahlung in der zweiten Januarwoche zumindest leicht gramgebeugt gewesen sein.

Zum erneuten Einstand nämlich hatte Moderator Peter Illmann bekennen müssen, daß man ob rechtlicher Verfügungsgewalt weniger der beliebten Musik-Videos einsetzen kann und statt dessen gezwungen ist. sie durch Liveaufzeichnungen mit Playback zu ersetzen. Illmann:“.Schade ist es schon, denn die Sendung lebt natürlich sehr von den Videos, gerade von den gut gemachten. Die wollen nicht nur die Leute sehen, sondern die wollen wir selbst auch drin haben, weil es uns Spaß macht. „

Und:“.Schwieriger ist es für uns nun auch, da die Aufzeichnungen viel mehr Zeit in Anspruch nehmen. Aber ich glaube, unsere Livemitschnitte werden immer noch so interessant sein, daß die Leute auch weiterhin gern zusehen.“

Was war geschehen? Die Plattenfirmen, die die Videos bislang praktisch kostenlos zur Verfügung gestellt hatten, haben die Senderechte für ihre Video-Clips der „Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten“, kurz GVL, übertragen. Und die fordert nun für Video-Ausstrahlungen von den Fernsehmachern Geld, nicht unbeträchtliche Summen.

„Formel eins“-Produzent Andreas Thiesmeyer: „Die Summe, die die GVL fordert, ist für uns einfach nicht aufzubringen. Allein rückwirkend für die Sendung des vergangenen Jahres steht da eine Summe von sage und schreibe zwei Millionen Mark als Forderung im Raum. Die Leute der Plattenindustrie überschätzen unseren Geldpott gehörig. Dem Fernsehen geht es auch nicht mehr so gut in finanzieller Hinsicht.“

Hatten die „Formel eins‘-Macher früher 500 DM als Pauschale für jedes ausgestrahlte Video an die Plattenfirmen überwiesen, so kam die GVL nun mit der Forderung von 1500 DM pro angefangener Video-Sendeminute.

Der Streit, der entbrannte, trug bald schon ideelle Züge: Während die krisengebeutelte Plattenindustrie argumentierte, aus den einstigen Promotion-Videos seien mittlerweile kleine Filmkunstwerke geworden, die in der Herstellung um ein wesentliches teurer sind als früher, konterten die Fernsehredakteure: Einst rannten uns die PR-Leute der Plattenfirma die Bude ein und bettelten uns an. ihre Videos doch einzusetzen. Jetzt machen wir es. helfen den Firmen damit zum Platten-Umsatz und sollen obendrein noch zur Kasse gebeten werden.

Andreas Thiesmeyer: „Ich behaupte, daß für eine Plattenfirma ein Video selbst dann billig ist. wenn seine Herstellung beispielsweise eine Viertel Million Dollar kostet. Immerhin erzielt die Industrie ja damit den Effekt, den Künstler oder die Gruppe zum Platten-Start weltweit im Fernsehen präsentieren zu können. Und jeder weiß, daß sich mit TV-Einsätzen mehr Platten absetzen lassen. In Amerika. England oder auch Holland stellen die Firmen deshalb dem Fernsehen ihre Videos kostenlos oder aber für einen Minimalbetrag zur Verfügung. Nur bei uns wurde mit der GVL wieder einmal ein typisch deutscher Bürokraten-Apparat ins Leben gerufen. „

Die Bosse aus der Plattenindustrie dürften sich mittlerweile im klaren darüber sein, daß sie mit ihrer Neuregelung ein zweischneidiges Schwert geschmiedet haben. Fernsehen brauchen sie. zum Beispiel für Kool & The Gang, die Ende Januar auf Deutschland-Tournee gehen. Weil das Video allerdings nicht eingesetzt werden kann, wird die Gruppe nun früher herübergeholt und ins „Formel eins“-Studio geschickt, um dort live aufgezeichnet zu werden.

Nicht nur daß der Band dabei eventuelle hochbezahlte Auftritte in Amerika abgehen – für die insgesamt 18 Mann (inklusive Roadies) von Kool & The Gang muß die Tonträgerfirma der Band zusätzliche Reiseund Übernachtungskosten aufbringen. Vom Fernsehen bekommt sie aber nur den üblichen Spesenzuschuß von 500 DM.

Andreas Thiesmeyer dazu:.. Gäbe es das ganze unerfreuliche Gerangel mit der GVL nicht, hätten wir einfach das Video genommen – und die Plattenfirma von Kool & The Gang hätte schätzungsweise 30000 DM gespart. „

Gern ist man deshalb zwischenzeitlich bereit, einen Kompromiß zu finden. Plattenboß Manfred Zumkeller von der WEA: “ Von den ursprünglichen 1500 DM pro Sendeminute sind wir abgekommen. Die GVL hat nun ein Angebot von 800 DM vorgelegt, verbunden mit der Zusage, die nachgeforderten Kosten für 1983 zu vergessen und für dieses und das nächste Jahr einen zusätzlichen Einführungsrabatt zwischen 30 und 40 Prozent zu gewähren. Dem Fernsehen würden damit bei der Ausstrahlung eines Drei-Minuten-Videos Gebührenkosten zwischen 1600 und 1700 DM entstehen. Unter der Berücksichtigung, daß ja auch den TV-Anstalten die Live-Aufzeichnungen mehr kosten, ist das, glaubeich, ein sehr faires Angebot.“

Trotzdem sind die Verhandlungen bis jetzt gescheitert, am, wie man in der Branche munkelt, Einspruch des ZDF. das wohlneidisch ist auf die ARD-Konkurrenz von „Formel eins“ und an einer schnellen Regelung daher gar nicht so brennend interessiert ist.

Andreas Thiesmeyer muß deshalb bis auf weiteres ein“.Notprogramm“, wie er es nennt, fahren, zu dem er meint:“.Die momentane Situation kann ich nur insofern als positiv sehen, daß es für uns eine Herausforderung darstellt, unter erschwerten Bedingungen eine tolle Sendung auch mit populären Namen zu machen. Die Kleingläubigen meinten natürlich sofort, wir kriegen nun nur noch Rex Gildo und andere deutsche Schlagersänger. Aber das ist absoluter Unsinn.“

In der Halle 10 des Bavaria-Filmgeländes. gelegen vor dem noblen Münchner Stadtviertel Grünwald, tummelten sich denn im Januar auch allerhand Prominente aus der Pop- und Rock-Zunft: Slade, Nena. Kool & The Gang, Herbie Hancock. Kim Wilde, die Thompson Twins. um nur einige zu nennen. Und sie alle hatten augenscheinlich Spaß in dem großen Studio, in dem all die bunten Autowrackteile beständig zwischen der angedeuteten Tankstelle und dem Kulissen-Prunkstück, der nahezu unverbeulten Isetta, herumgeschoben und in farbiges Licht getaucht werden.

Da geht es improvisierter zu als im sterilen „Musikladen‘, arbeitet die junge. 37köpfige „Formel eins‘-Crew vom Ausstatter, dem Beleuchter, der Maskenbildnerin über die Kameramänner und den Regisseur bis hin zum Produzenten Andreas Thiesmeyer und seinen beiden Redaktionsmitgliedern Angela Bernhardt und Georg Löser Hand in Hand. Die Atmosphäre ist entspannt, es wird zügig, aber nicht hektisch und nach Stoppuhr gearbeitet.

Dazwischen Peter Illmann, der in seinen Ansagen schon mal einen flapsigen Spruch losläßt, wenn ihm ein Titel mal so ganz und gar nicht benagt: „Ich versuche zwar, keinen Song schlecht zu machen, nehme mir aber schon die Freiheit heraus, meine Meinung zu sagen. Damit schade ich dem Titel nicht, denn die Leute, die ihn mögen, stehen so oder so drauf. Und wenn ich ein Stück wirklich ganz übel finde und es dann als großen Knüller anpreise, käme ich mir ziemlich verloren vor. ich bin froh, daß mir da niemand hineinquatscht; ich sagen kann, was ich will.“

Peter Illmann. der aufgrund der jetzigen Situation pro Woche drei statt der früheren eineinhalb Tage im „Formel eins“-Studio verbringen muß, macht seine Ansagen spontan. Er bedauert nur, daß in der Sendung die Zeit fehlt, mit den Bands zu reden, Kurzinterviews zu machen.

Zum Unterschied zwischen Fernseh-Aufzeichnungen und Video-Clips meint er: „.Live-Aufzeichnungen können da nicht mithalten, weil die Videos natürlich viel abwechslungsreicher sind als das, was wir im Studio realisieren können. „

Ganz auf Videos müssen die Macher und die Zuschauer zum Glück nicht verzichten. Etliche ausländische Plattenfirmen haben nämlich den Dreh herausgefunden, daß sie, wenn sie ihre deutschen Tochter- oder Vertriebsfirmen umgehen und die Videos mit entsprechenden Verträgen direkt dem Fernsehen anbieten, nicht von der GVL belangt werden können. Ein absurder, aber offenbar gangbarer Weg.

Und Produzent Thiesmeyer reibt sich die Hände, weil er darüberhinaus mit einem Super-Video der GVL ein Schnippchen schlagen kann: In den Statuten der GVL steht doch tatsächlich, daß erst Video-Streifen, deren Spieldauer zehn Minuten überschreitet, als Kurzfilm (damit auch als Kunstwerk?) gelten und deshalb nicht mehr kostenpflichtig sind. Ende Januar kommen die deutschen Fernsehzuschauer folglich in den Genuß, das neueste Michael Jackson-Video zu sehen, das sage und schreibe 13 Minuten dauert und nicht weniger als 1,2 Millionen Dollar gekostet hat. Produziert hat es der „American Werwolf“-Regisseur John Landis zum Titel „Thriller“.

Und ein Thriller, mit Michael Jackson als Werwolf und Zombie in irren Trick- und Tanzszenen, ist ihm damit in der Tat geglückt. Was in Amerika in den großen Kinos als Vorfilm läuft und die Musikfans scharenweise in die Lichtspielhäuser treibt, können wir nun Ende Januar in „Formel eins“ betrachten. Mit dem Segen der Plattenfirma, die Michael Jackson in Deutschland vertreibt und wahrscheinlich froh ist, daß sie die ungeliebte GVL-Forderung in diesem Fall umgehen kann.

Denn zwischenzeitlich ist man sich bei den meisten Plattenfirmen darüber einig, daß das GVL-Gerangel letztlich allen schadet. Ein Kompromiß, so meinen Insider, steht deshalb praktisch vor der Tür. Wir dürfen hoffen. Allerdings noch nicht darauf, daß es bei uns in absehbarer Zeit einen eigenen Rockmusik-Kanal gibt wie in Amerika die Privatstation „MTV“.

Die nämlich sendet Tag für Tag, rund um die Uhr, unterbrochen nur von Werbespots. Rock und Pop via Video über den Bildschirm und hat sich als wichtigster Hitmacher in den Staaten etabliert.

Who-Chef Pete Townshend: „An MTV kommt heute keiner mehr vorbei, wenn er in Amerika einen Hit landen will.“

Hierzulande wird sich, wenn die ersten Kabelprojekte angelaufen sind, entscheiden müssen, ob ein eigener Musikkanal Chancen hat. Konkurrenz sieht das „Formel eins“-Team auf längere Sicht nicht. Andreas Thiesmeyer:“.Ich schätze, daß es noch mindestens fünf bis sechs Jahre dauert, aber irgendwann einmal wird es mit Sicherheit so etwas wie MTV auch in Deutschland geben. „

Bis es soweit ist, will er mit „Formel eins“ Woche für Woche (für 1984 stehen insgesamt 40 Sendungen auf dem Terminplan) und hoffentlich bald wieder mit völlig freier Video-Auswahl heiße Musik in die bundesdeutschen Wohnzimmer bringen. Und immerhin kann er dabei mit Fug und Recht behaupten, daß „Formel eins“ wie „MTV“ auch bei uns bereits Hits gemacht hat. Gruppen wie Catch, Endgames oder Boytronic etwa ständen ohne das internationale Hitparaden-Rennen von „Formel eins“ wohl noch in den Boxen.