Geld spielt keine Musik


Alle reden von der Gema. Wir auch. Aber macht die Inkassoanstalt das Musikleben nun reicher oder ärmer? Lässt sie Clubs sterben? Eine Bestandsaufnahme zu ihrem 110. Geburtstag.

Es ist wahr: Die Gema wirkt nicht musikalischer als ein Finanzamt. Man muss weit hinaufsteigen im schmucklosen Gebäude der Generaldirektion Berlin, um Spuren des gewöhnlichen Musiklebens zu finden. In einer Büroflucht steht ein Kontrabass. Darüber hängt ein Ölgemälde, es zeigt Richard Strauss, den Großvater der Gema. Abgerundet wird das Stillleben von einem Notenständer mit Johann Sebastian Bachs „Französischer Suite“ von 1722, ihre öffentliche Aufführung wäre gebührenfrei. Im siebten Stock sitzt Martin Schweda. Der Bezirksdirektor wacht über das Lizenzieren von Musikstücken. Bevor er vor fünf Jahren in die Führungsebene der Gema wechselte, war er Verkaufsleiter bei einem Hersteller von Salzgebäck. Er könne weder singen noch ein Instrument spielen, sagt Schweda fröhlich, vielleicht höre er mehr klassische Musik als früher bei den Knabberwaren. Er schlägt einen Aktenordner auf, um die umstrittene Reform der geltenden Tarife zu erörtern. Schweda spricht vom „M-U III 1c“ und vom „M-V“. Der M-U III 1c ist der seit 30 Jahren übliche Vergütungssatz für Diskotheken, der M-V soll ihn sobald wie möglich ablösen. Die Gema, die „Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte“, schafft es nach wie vor, Begriffe zu erfinden, bei denen man nicht ans Tanzen denkt. Die Anstalt wurde 1903 von der Genossenschaft Deutscher Tonsetzer gegründet, auf Betreiben des geschäftstüchtigen Komponisten Richard Strauss. 1933 wurde der Name Gema festgelegt, Strauss war inzwischen Präsident der Reichsmusikkammer.

Auch 80 Jahre später gilt die Gema wieder als Politikum. Es geht um die Tarifreform, und es geht dabei längst um mehr: den Wert von Musik, den Mehrwert des Nachtlebens, die deutsche Kulturlandschaft. Als im vergangenen Frühjahr die Tarifumstellung angekündigt wurde, waren es zunächst die Clubbetreiber, die apokalyptische Szenarien entwarfen. Ihnen wandte sich die öffentliche Meinung lieber zu als den Berechnungen der Gema. Der Empörung wiederum folgte die Politik. Klaus Wowereit qualifizierte sich als Party-Bürgermeister zum entschiedenen Gema-Gegner. Der Bundesverband der Musikveranstalter zog vor das Schiedsgericht des Patent- und Markenamts. Die neuen Tarife wurden vom 1. Januar 2013 auf den 1. April verschoben, Übergangsvereinbarungen wurden unterzeichnet. Mit der Einführung wird jetzt nicht mehr vor 2014 gerechnet – nach einem nun anberaumten Mediationsverfahren. Die Linke wirbt im Bundestag dafür, die Gema unter staatliche Aufsicht zu stellen. Die Piraten feiern den Aufschub der Tarifreform als Anfang vom Ende der Gema. Angela Merkel sagt: „Man kann ja fast kein Fest mehr feiern, weil man sich dumm und dämlich bezahlt.“

Als Martin Schweda, der Bezirksdirektor, neulich bei der Gema ein privates Fest anmelden wollte, wiesen ihn die eigenen Mitarbeiter darauf hin, dass weniger als 100 Gäste bei ihm unentgeltlich so viel gemapflichtige Musik anhören könnten, wie sie wollten. In der allgemeinen Aufregung des heißen Herbsts 2012 hat sich die Gema von der sperrigen Musikverwertungsgesellschaft, die sie ist, in einen monströsen Mythos verwandelt. Es spielt keine Rolle mehr, dass die Geschichten so nie stimmen: Die Gema sperrt Videos auf YouTube. Die Gema treibt in Kindergärten Geld für Kinderlieder ein. Die Gema schickt Agenten mit Zollstöcken aus, um Tanzböden zu vermessen und Gebühren astronomisch zu erhöhen. Wie einer Behörde wird der Gema jederzeit jede Beamtenwillkür zugetraut. Sie ist ein Verein für Komponisten, Liedermacher und Musikverleger. Die Aufnahmegebühr beträgt 60, der Jahresbeitrag 25 Euro. Jährlich, zum Sommeranfang, wird eine Mitgliederversammlung abhalten und der Vorstand legt Rechenschaft ab. Im Aufsichtsrat sitzen wohlhabende Musiker wie Klaus „Tatort“ Doldinger und Funktionäre wie Frank Dostal, von ihm stammt das „Lied der Schlümpfe“. Über Neues wird abgestimmt, zuletzt wurde „Inka“ beschlossen, die „Inkassobezogene Abrechnung im Bereich U-Musik“. Der Verein leistet sich zwei größere Direktionen in München und Berlin mit je 300 Angestellten und 500 Außendienstmitarbeitern, die in Kneipen, Friseursalons und Pornokabinen nach meldepflichtiger Musik fahnden. Je mehr die Musik in den Alltag eindringt, umso tiefer greift auch die Gema hinein.

„Die Gema ist Don Quixote“, sagt Martin Schweda kopfschüttelnd am Konferenztisch der Berliner Direktion. Er meint die ewigen Kämpfe gegen üble Nachrede und schlechte Presse, gegen die sinkende Zahlungsmoral von Musikkonsumenten und die Unterwanderung des alten Urheberrechts im digitalen Zeitalter. Es ist wie immer in verfahrenen Konflikten: Beide Seiten wollen nur das Beste; allen geht es um nicht weniger als um die Rettung der Musik. Auch die Tarifreform wirbt für Gerechtigkeit. 2009 reichte die Schwäbin Monika Bestle, Leiterin der Sonthofer Kulturwerkstatt, eine Petition ein: Sie forderte die Gema auf, ihre Berechnungsgrundlagen zu überdenken, sie durchschaubarer und weniger sprunghaft zu gestalten. Das Patent- und Markenamt prüfte und gab ihr recht, die EU-Enquetekommission ebenso. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband trat als Lobby der Musikveranstalter mit der Gema in Verhandlungen. Aus elf Veranstaltungstarifen wurden zwei: für Livemusik (U-V) und für Musikkonserven (M-V). Aus der guten alten Diskothekenpauschale (M-U III 1c), einer – verglichen mit den Sätzen für einmalige Veranstaltungen – geringfügigen Abgabe, wurde der reformierte Tarif M-V. Die Rechnung passt auf einen Bierdeckel: Der Club führt jede Nacht 10 Prozent vom Preis für jede Eintrittskarte ab, multipliziert mit den Quadratmetern des Clubs. Den Richtwert liefert eine Studie der Senatsverwaltung von Berlin: Sie rechnet mit anderthalb Gästen pro Quadratmeter, die Gema rechnet großzügig mit einem. Weiteren Studien zufolge beträgt der Anteil des Eintritts an den Einnahmen eines Clubs im Schnitt 17 Prozent. Damit würde er 1,7 Prozent für die Musik bezahlen müssen, ohne die kein Mensch zum Tanzen käme. An die Gema, an die Schöpfer. Martin Schweda schaut zufrieden in die Akten.

Wieso dann aber die Hysterie der Clubszene? Ihre Protestmärsche gegen die Gema, gegen die „Gehilfin Einer Miesen Angela“, mit Tafeln wie „Gema nach Hause“ und „Gemainheit“? Weshalb trugen Trauerumzügler in Pappsärgen die Clubs zu Grabe? Warum ließen DJs bundesweit Schlag fünf vor zwölf ihre Musik ersterben, um die drohende Stille der Tarifreform vorwegzunehmen? Alles Panik, Pop und Politik? Zum einen: Durch die günstigen Tarifsätze bisher sind 1 000 Prozent Steigerung für gut besuchte, einträgliche Clubs wie Watergate und Berghain durchaus realistische Szenarien. Andererseits sind Diskotheken keine schwarzen Löcher mehr, in denen plastiktütenweise Geld verschwindet. Sondern überwiegend mittelständisch sachgemäß geführte Unternehmen mit den üblichen Bilanztricks. Ihre Vorbehalte sind grundsätzlicher Natur. Sie richten sich gegen die Mitgliederstruktur der Gema und ihr Kastenwesen: Stimmberechtigt sind allein die ordentlichen Mitglieder, gerade fünf Prozent von 65 000, die Besserverdienenden. Neben den Außerordentlichen zehn Prozent gibt es den mehrheitsfähigen Rest der Angeschlossenen ohne jedes Stimmrecht. „Auch in der Handwerkskammer können Hobbyhandwerker nicht mitbestimmen“, erklärt Martin Schweda. Er beherrscht die Gema-Rabulistik: Kritiker nennen die Gema jetzt schon einen trägen Wasserkopf, und wären alle 65 000 gleich- und stimmberechtigt, wäre das aus Schwedas Sicht dann auch tatsächlich so.

Vor allem aber darf die Gema laut Gesetz vermuten, dass in einem Club durchweg Musik von ihren Mitgliedern gespielt wird und der Club gefüllt ist. Die „Gema-Vermutung“. Wer also der Meinung ist, sein Repertoire sei gemafrei, wer weniger Besucher hat als Quadratmeter, muss es beweisen. Martin Schweda sagt, jeder Veranstalter könne die abgespielten Stücke einreichen und mit den Kassenbons zu ihm kommen. Was allerdings kaum einer täte. Aus Scheu vor einer offenen Buchführung, sagt die Gema. Aus Prinzip, aus bürokratischem Verdruss, aus mangelndem Vertrauen in die Gema, sagt die Clubszene. Die Clubs wollten auch keine Black Boxes über den Tanzflächen zu hängen haben, tadelt der Bezirksdirektor. Mit den Black Boxes wird das Programm ermittelt für die Ausschüttung. In deutschen Diskotheken hängen 120 solcher Kisten, in denen ein Zufallsgenerator wöchentlich die angebotene Musik aufzeichnen lässt, immer für eine Stunde. Und obwohl es dafür von der Gema Geld gibt, lehnen es Betreiber wie der Technoveteran Dimitri Hegemann grundsätzlich ab, sich von der Black Box kontrollieren zu lassen. „Wir sagen auch lieber Hitbox“, erklärt Martin Schweda. Wie der Kasten aussieht, weiß er selber nicht: „Ich bin kein Clubgänger.“

Auch Jürgen Brandhorst stellt sich nicht als glühender Tänzer vor. Er überwacht die Ausschüttung der Generaldirektion. Ein heiterer, geduldiger, etwas gebeugter Mann mit Doktortitel und dem Grundsatz: „Wir können und wollen Musik nicht ästhetisch bewerten.“ Zu den populärsten Gema-Vorwürfen gehört der „Dieter-Bohlen-Topf“, ein mythisches Gefäß zur ungerechten Umverteilung. Von unten nach oben, von der ehrbaren zur erfolgreichen Musik, von Burial zu Bohlen. Bei der Gema heißt es Diskotheken-Topf, und Jürgen Brandhorst schwört darauf wie auf die Hitbox und die Hochrechnung. Er schwärmt von einem Dortmunder Professor für Statistik und dessen „schönen stochastischen Formeln“. Brandhorst sagt: „Leider findet der Mensch per se zur Musik leichter Zugang als zur Statistik.“ Für die Auswertung des Boxeninhalts ist das Hitparaden-Institut Media Control zuständig, wo angeblich sachkundige Hörkräfte die Stücke ihren Urhebern zuordnen. Zuletzt lagen sechs Millionen Euro Jahreseinnahmen im Diskotheken-Topf. Wer häufiger gespielt wurde, bekam mehr Geld. Weil anspruchsvolle Clubs, in denen DJs ominöse Weißpressungen auflegen, über das weite Land verteilt eher seltener sind als Dissen für die besten Songs der 70er bis 90er, Krawallläden und R&B-Formatnächte, schüttet die Gema mehr für zweifelhafte Musikanten aus. Allerdings keineswegs auf Kosten schützenswerter Musiker, die auch nur das kriegen, was ihnen die Statistik zuweist. Daran würde sich auch wenig ändern, wenn die DJs ihre Playlisten einreichen würden wie Konzertmusiker. Oder wenn die Black Boxes ersetzt würden durch Tag und Nacht aktive digitale Messstationen mit Musikerkennungssoftware. Es ist das System.

Systemisch für die Gema ist weder die gern beklagte fehlende Transparenz noch ein irgendwie willkürliches Ausschüttungsmodell. Es ist die kaufmännische Logik einer Treuhandanstalt. Sie verwaltet kulturelle Werte, und die Werte werden nach Tarif berechnet. Die Tarifreform vereinfacht die Berechnungen künftig auf Kosten einer immer größer werdenden Vielfalt von Musik. Jede Veranstaltung wäre dann entweder M-V oder U-V mit einem jeweils eigenen Topf, in den am Ende alles kommt und anschließend nach der bezifferbaren Zuwendung des Publikums verteilt wird. Was der Gema vorgeworfen wird, ist ihre systematische Geschäftsgrundlage. „Ich bin der festen Überzeugung, etwas Gutes zu tun“, sagt Jürgen Brandhorst, der Statistiker. „Es ist unser Auftrag, dass Menschen, die erfolgreich Musik machen, auch davon leben können. Hätte Mozart bereits Mitglied der Gema sein können, wäre ihm das Armengrab erspart geblieben.“ Es gibt durchaus anständige Musiker, Sven Regener zum Beispiel, die der Gema öffentlich die warmen Worte spenden, die sie so vermisst.

Und es gibt Gema-Mitglieder wie Deichkind, die für ihre Geldeintreiber immer weniger übrig haben. Sie haben die Gema über Facebook schon „Evolutionsbremsen“ genannt. Da ging es um die Klage gegen YouTube. Das Portal wollte die Gema mit symbolischen Pauschalen für die Musiker abspeisen und sperrt seit Prozessbeginn zu Propagandazwecken Videos für deutsche Zuschauer. Schuld ist wieder die Gema, auch für Deichkind. Einerseits ist YouTube über Google zum Milliardenunternehmen aufgestiegen, auch indem es den Musikmarkt untergräbt. Andererseits: Aus ihrer Warte haben Deichkind trotzdem recht. Sie möchten selbst entscheiden dürfen, was aus ihrem Werk gemeinfrei sein sollte und was gebührenpflichtig. Die Gema exekutiert das Urheberrecht des 20. Jahrhunderts, das dem digitalen Zeitalter nicht mehr gewachsen ist. Das ist ihr Kerngeschäft, der Auftrag ihrer ordentlichen Mitglieder. Sie kann nicht anders, und das, was sie kann, erledigt sie mit deutscher Gründlichkeit. Um Martin Schwedas Konferenztisch saßen kürzlich mit ihm Abgesandte aus betroffenen Clubs zusammen, zukünftige Opfer der Tarifreform. Sie legten eine Liste mit 500 exquisiten Stücken vor, um zu beweisen, dass die Gema zwar für Großraumdiskotheken zuständig sein sollte, nicht aber für Clubs mit kreativen DJs. „Wir haben die Playlist prüfen lassen, bei 70 Prozent Gema-Pflicht haben wir aufgehört zu zählen“, ruft Schweda. Für ihn ist die Gema immer zuständig. Von Ausnahmen und Einzelfallprüfungen hält er wenig. Er will keine Rücksicht nehmen auf die Sonderwünsche einer Band wie Deichkind. Er möchte für die Sven Regeners da sein, die sich von ihm einwandfrei vertreten fühlen. Ob Mitgliederstruktur, Gema-Vermutung oder individueller Umgang mit dem geistigen Eigentum: Die Gema rechtfertigt sich gegenüber ihren Gegnern, indem sie sich deren Kritiken zu eigen macht. „Wir sind ein Apparat, der 127 Millionen im Jahr kostet. Das sind 15 Prozent unserer Einnahmen. Wenn es nicht 20 Prozent werden sollen, müssen wir die Lizenzierung so einfach wie möglich vornehmen“, erklärt Martin Schweda: Töpfe und Tarife.

„Die Gema“, sagt Martin Heker, der Vorstandsvorsitzende, „ist ein gutes Monopol.“ Das sehen alle Monopole so. Während die öffentlichen Zweifel daran wachsen, tritt der Widerstand nach der Protestfolklore in die Phase der Vernunft. Seit Monaten versucht sich eine konkurrierende Gesellschaft zur Verwertung von Musik zu gründen. Die „Cultural Commons Collecting Society“, kurz C3S, stellte sich bereits bei einem Kongress in Hamburg vor, vor Laptop-Enthusiasten und Musikbefreiern. Überschrieben war der Auftritt mit „Der Mord fällt aus“. Das hieß: Die C3S wolle die Gema keinesfalls vernichten, sondern Musikern eine Alternative bieten. Auch ihr Weg führt über das Patent- und Markenamt, wo das Verfahren um die Anerkennung seit Beginn des Jahres läuft. Als Gründungskapital verlangen die Beamten 30 000 Euro und eine funktionstüchtige Software zur Musikauswertung. Weil die C3S noch keine Musiker vertreten darf, muss sie beglaubigte Erklärungen von Musikern vorlegen, die sich von der C3S vertreten lassen würden, wenn das Amt es zulässt. Niemand weiß, ob die verwirrenden Kriterien sich jemals erfüllen lassen. Aber es spricht sich herum, dass sich Gebühren für Musik durchaus auf andere Art kassieren ließen, um als Musiker nicht zu verarmen. Deutlich wird, was wirklich an der Gema stört. Die C3S plant eine basisdemokratische Genossenschaft. Jeder kann selbst entscheiden, was er frei der Allgemeinheit zur Verfügung stellen möchte und woran er Geld verdienen will. Die C3S wird nichts zu ihren Vorteilen einfach vermuten. Oder wie es Meik Michalke sagt, der Gründer: „Das Modell sieht die kollektive Vertretung aller Mitglieder vor, ohne dabei das restriktive Rechtsverständnis aus analogen Zeiten fortzusetzen.“ Schon zum Ausklang des vergangenen Jahrhunderts hatte Meik Michalke sein Debütalbum veröffentlicht und gemafrei ins Netz gestellt, die Band hieß Angstalt. Mit ihr macht er immer noch Musik.