Getarnte Bastion


Hinter einer schlichten blauen Türe im Süden Londons betreut das Team von Domino-Records die kreativen Größen des Alternative-Rock.

Karge „Animals -Romantik: Düster und tempelhaft überschattet das vierschlotige Battersea Power Station Gebäude (siehe Cover der 77er Pink Floyd-LP) das verwahrloste Industriegebiet im Süden der Waterloo Station. Zwei holprige British Railway Minuten von hier wird’s etwas wohnlicher, die rostigen Raffinerietaiiks und rußigen Türme machen englischer Kleinstadtromantik Platz: Wandsworth Town ist ein Londoner Vorort mit niedlichen, kaminbespickten Ziegelhäuschen, Pubs, gepflastertem Asphalt und mehr Plattenlabels als die meisten Metropolen beheimaten. Auf engstem Raum verstecken sidi hinter blauen Türen bedeutende britische Independent-Labels wie MoVVax und Domino Records, „Angetangen hab‘ ich vor acht fahren in meinem kleinen Zimmer mit Telefon, einem Faxgerät und sonst nichts“, erzählt Domino-Chef Laurence Bell, der seitdem mit seiner Firma mehnnals umgezogen ist. Den Anstoß zur Untemehmensgründung gab Dinosaur ]i -Veteran Lou Barlow: 1993 suchte er für sein Projekt Sebadoh ein Label und erklärte kurzerhand seinen Freund Bell zu seiner Plattenfirma. „Ich hatte schon einige Zeit im Business als Angestellter Erfahrung gesammelt“, erzählt Bell über einem vormittäglichen Bloody Mary, um seinen Kater zu zähmen. „Ich hab‘ mich einfach selbständig gemacht, mein Zimmer als Büro angemeldet und Sebadoh hat sofort funktioniert. Wir hatten eigentlich von Beginn an Erfolg“. Und obwohl Domino Records im lahr 2000 um die 30 Bands „unter Vertrag“ hat (Bell weiß von gut der Hälfte der Künstler weder was sie gerade tun, noch wo sie sich aufhalten), hat sich die sympathische Philosophie nur wenig geändert. Sieben Mitarbeiter beantworten in dem kleinen Zweizimmer-Apartment in furchterregender Unordnung geduldig Emails von Fans aus Österreich, Dänemark und dem Rest der Welt, reichen sich und allen Besuchern eine Monstertafel Schokolade und sind so schüchtern, dass sie nur unter Androhung körperlicher Cewalt bewogen werden können, die Augen auf die KameTa des ML/Sounds-Fotografen zu richten. „Es gibt zwei Dinge, die ein Label für Künstler attraktiv machen“, erklärt Laurence Bell. „Entweder man ist so reich, dass man Musikern astronomische Gehaltsund Vorauszahlungen versprechen kann – das ist bei uns aber illusorisch. Oder man schafft einfach ein freundliches, ehrliches Klima und drängelt die Künstler nidit. Ich gebe ihnen Zeit, sich zu entwickeln und mische midi nicht rein. Ich sage dann zwar schon, ‚lungs, ich höre keine Single, das ist eine kommerzielle Katastrophe‘, aber das ist nur Spaß und wir lachen uns tot.“ Lind nachdem sich diese Ideologie rumgesprochen hatte, schlössen bald erstklassige Acts wie The Folk Implosion, Pavement und lim O’Rourke Verträge. Das Unternehmen Domino floriert, obwohl – oder vielleicht weil – die großen Firmenriesen immer mächtiger werden: „Die Meldung über den Aufkauf von EMI durch Warner Music hat mir überhaupt keine Angst gemacht. Je mehr sich die Majors zusammenballen und den Mainstream kontrollieren, desto mehr Platz ist für Independent-Labels“, analysiert Bell. „Im großen Geschäft muss heute alles schnell gehen. Entweder dein erstes Album schafft’s, oder nicht Hop oder Top, Ijeben oder Tod. Die bedenken einlach nidit, was sich über eine Spanne von, sagen wir mal, sieben Alben entwickeln kann.“ Und um das kreative Klima für seine Bands noch angenehmer zu gestalten, schweben Bell für die Zukunft zwei eigene Aufnahmestudios vor: „Das eine soll irgendwo auf dem Land entstehen, das zweite im hauseigenen Keller“, verrät er. Keller? Bell: „Haben wir einen Keller? Gute Frage. Naja, wir haben… Sdiaufeln“. (lin)

MAX TUNDRA

Cakes 327 Mit einem digitalen Inferno beamt sich Max Tundra in eine musikalische Zukunft, die in einem fernen Parallel-Universum vielleicht bald Alltag sein wird, definitiv aber nicht auf unserem Planeten. Mit Stolz präsentiert Domino Records diesen unfassbaren Klangneurotiker, der als Ben Jacobs mitiocc, Nik Kershaw und Art Of Noise aufWuchs, bi5 er selbst Songs aufnahm, die die Hörer zunächst gnadenlos überforderten: 40 Drum Vi’Bass Labels haben seine Tapes mit der Begründung abgelehnt, Jacobs habe „zu viele Ideen“ und „zu oft den Faden verloren“. Anerkennungfand er jedoch für zwei Mogwai-Remixe und so schloss er sich ’99 zu Hause ein und wrang die LP „Some Best Friend You Turned Out To Ee“ aus den Drähten seines Computers.

CUNIC

The Second Line 227 Nach dem Tundra-Ideen-Overkill geht’s minimalistisch weiter: Clinic gelten in Großbritannien als Postpunk-Hoffnung. Mit ihrer verquirlung von Velvet Underground-, Devo- und Can-Einflüssen haben sie das Publikum beim Glastonbury Festival ebenso überzeugt wie den legendären Radio-DJ und „Opinion-Leader“ John Peel.“The Second Line“ auf der CD im ME ist die vierte Single der sechs Liverpooler, deren seit drei Jahren überfälliges Debüt-Album „The Return Of Evil Bill CDs“ in einem umgebauten alten Labor aufgenommen wurde und im Mai erscheinen soll.

THE FOLK IMPLOSION

E.Z.LA. 530 Seit gut fünf Jahren ist The Folk Implosion Lou ßarlows Spielwiese für Experimente außerhalb seiner Indie-Institution Sebadoh.

Zusammen mit dem Multiinstrumentalisten John Davis bannte er mit „One Part Lullaby“ nun zum dritten Mal die faszinierenden Ergebnisse einer diskussionslastigen Partnerschaft auf Platte: „Seit Beginn unserer Zusammenarbeit haben wir viel Zeit damit verbracht, über ein Konzept zu diskutieren“, erklärte Davis einst. Ziel war und ist es, eine von „Aboveground und Underground“ beeinflusste Musik zu schaffen, die folkigen Mainstream mit experimentellen Indieklängen vereint. „E.Z.L.A.“ (Easy LA.) auf der CD im ME vereint nach Barlows Ansicht die genannten Widersprüche am eindrucksvollsten.

PAVEMENT

CreamOfGod3:47 „Ich denke, Pavement sind vielleicht unsere engsten musikalischen Verwandten“, sagt Folk Implosion-Chef Lou Barlow über die kalifornische Lofi-Rockband. Anfang der 90er gehörten Pavement zu den einflussreichsten Independent Acts, die dem US-Untergrund entstiegen, um kryptischen Noiserock mit Feedbacks und lakonischem (Un-)-Gesang zu etablieren, der später von Bands wie Blur aufgegriffen wurde. Das fünfte und zugänglichste Album „Terror Twilight“ das in Deutschland nicht von Zomba, sondern von Virgin vertrieben wird – nahm Bandleader Stephen Malkmus erstmals auf luxuriösen 24 Spuren auf, als Produzent wurde Nigel Godrich (Radioheads“OK Computer“, Becks „Mutations“) verpflichtet.

ROYAL TRUX DeaferThan Blind243

Neil Hagerty und Jennifer Herrema begannen ihre seltsame musikalische Partnerschaft als Teenager 1984. Zwischen exzessivem Konsum von Tabletten und Science Fiction gelanges dem Duo, in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen abstruse Punk-oder-so Platten in San Francisco zu veröffentlichen.

Kritiker nahmen das sperrige Material etwas ratlos, aber wohlwollend auf, Royal Trux wurden über die Jahre zu einem beständigen Faktor in der Alternative-Szene. Als „Band“ mit fester Besetzung kann man RTX seit 1994 betrachten, in jüngerer Vergangenheit öffneten sich die Amerikaner mit harmonischeren Klängen und potenteren Labels einem breiteren Publikum.

SMOG

HitTheGround Running6 52 Kalkweiße Knochen schimmern durch die hauchdünnen Songs von Bill Callahan aus Maryland, der zwischen 1988 und ’93 über eigene oder Independent-Labels Vierspurtapes und EPs veröffentlichte. Verstörend intim war Callahan schon bei seinen Homerecording-Bemübungen, sein respektables Songwriting vermochte aber erst 1993 Kollege Jim O’Rourke als Produzent voll zur Geltung zu bringen. Das Album „Knock Knock“ von ’99 vereintauf geniale Weise O’Rourkes Pop-Gespür zwisehen Harmonie und Industrtal-Noise mit dem fragilen Skelett-Charme von Callahans Kompositionen. Wie oft hört man schon einen Kinderchor artig aber falsch übertou Reed-Gitarren singen? Nicht oft, aber auf jeden Fall auf der CD im ME.

PRAM

Space Siren 5:17 Wie der Bandname (Deutsch: Kinderwagen) vermuten lässt, wählen Pram für ihren elektronischen Musikspielplatz eine bewusst kindliche Perspektive, die allerdings zu angstbesetzt und albtraumhaft ist, um unschuldig-naiv zu sein. Sängerin Rosie Cuckston aus Birmingham schart heute Multiinstrumentalisten und Digital-Bastler wie Matt Eaton und Max Simpson um sich, was es Pram mit ihrer zehnjährigen Erfahrung erlaubt, Ausflüge in den Jazz und HipHop zu unternehmen. „Space Siren“ ist ein Uve-Klassiker und erinnert an die 60er Jahre-Experimente von Elektronik-Pionier Bruce Haack (siehe MC/Sounds Januar 2000).

THE PASTEIS

Cycle4 : 33 Obwohl außerhalb der Indie-Szene kaum bekannt, sind die schottischen Pasteis eine der einflussreichsten und beständigsten Underground-Bands ihres Genres, das salopp als „Anorak-Pop“ bezeichnet werden kann. Seit der Bandgründung 1982 in Glasgow kümmerte sich Stephen Pastel wenig ambitioniert um seine Karriere, brachte sporadisch auf wechselnden Labels Platten auf den Markt und schuf so ganz nebenbei ein Gesamtwerk, das als Meilenstein des britischen Äquivalents zu amerikanischem 8oer/goer-Underground gilt. Die Pasteis wurden von den Beastie Boys und Nirvana gelobt und beeinflussen bis heute massiv eine neue Generation von schottischen Bands wie Belle & Sebastian.

PAPAM

Up North Kids 505 David Pajo aus Louisville/Kentucky steckt hinter Papa M, Aerial M, M, M Is The I3th Letter und sämtlichen zukünftigen Band-Projekten, die ein großes, einsames M im stets gewandelten Namen tragen und Ambient-Guitar-Psycho-Pop veröffentlichen. Pajo spielte in Punk- und Top-40 Coverbands, bis er sich als Tourgitarrist von Royal Trux,The For Carnation, Tortoise, Stereolab und anderen mehr und mehr im Sonderbaren zu Hause fühlte. Wenn sie, liebe Leser, zu den Leuten gehören, die nachts Stimmen hören, lassen sie Vorsicht walten: M lullt sie erst mit monotonen Gitarrenläufen in Trance, um sie dann mit einem mehrseitigen leeren (!) CD-Booklet in den Wahnsinn zu treiben.

OUICKSPACE

Gloriana 5:58 Nach der Auflösung der Faith Healers gründete Tom Cullinan Mitte der 90er mit Quickspace eine Combo, die nach dem fußballerprobten Rotationsprinzip funktionierte: Das Line-Up wechselte permanent, Bandmitglieder kamen und gingen und kamen wieder, nach Auskünften von Domino Records bisweilen sogar während eines einzigen Songs. Als heute relativ beständiges Quintett nahmen Quickspace ihr aktuelles Album in einer Hütte in den Wäldern von Staffordshire auf. Mit bewusst schlampigem Duettgesang von Cullinan und Gitarristin Nina Pascale läutet „Gloriana“ den Sommer ein und treibt Nachbars Hund in einen Weinkrampf.

TELE:FUNKEN 360 4:24 Tom Fenn heißt der Tüftler.der hinter diesem Pseudonym Stunden und Stunden programmiert, bastelt, lötet und samplet. Seit 1996 veröffentlicht Fenn sporadisch beachtliche Klangbasteleien, ohne dass bislang irgendetwas über seine Person bekanntgeworden wäre. Keine leichte Aufgabe, aber es lohnt, wenigstens zu versuchenden Mann im Auge zu behalten.

THETHIRDEYE FOUNDATION

I ve Lost That Loving Feline4:3i Überraschend intim und zugänglich kann Drum’n’Bass at its best sein. Vier Jahre alt ist dieses Projekt des ehemaligen Flying Saucer Attack-Mitglieds Matt Elliott aus Bristol, der mit der aktuellen LP „üttle Lost Soul sein bis dato persönlichstes und melancholischstes Werk veröffentlicht. Die Tonnen Elektronik dienen hier keinem Selbstzweck, sondern multiplizieren nur die Möglichkeiten, mit denen Elliott seine Phantasien vertont. Ein Künstler der Gegenwart mit Potenzial für die Zukunft.

MOVIETONE

Sun Drawing 3:36 Neben anderen Künstlern aus dem Kreativpool Bristol mischt Matt Elliott von der Third Eye founöation auch bei Movietone mit. Deren Repertoire besteht hauptsächlich aus semi-melodischen Schlafliedern, die mit jazzigen Arrangements Kate Wrights traurige Stimme über verschneite Eisflächen tragen.

„Ich versuche, Momente zu schaffen, die sich nie verändern, eingefroren in ihrer Schönheit“, so Wright über die Kompositionsarbeit, die zu dieser Mondscheinmusik geführt hat. Aufgenommen wurde das Album laut Info auf einer Achtspur-Maschine im Cafe Mono und „in Häusern“.

THE FOR CARNATION

Empowered Man’s Blues 8:11 Drei Jahre dauerte der Reifungsprozess für das vorliegende Werk von The For Carnation. Bandleader Brian McMahan leitete in einem Wohnzimmer in Louisville/Kentucky bereits ’97 die ersten rauhen und schaurig minimalistischen Improvisationen, die mit neuem Line-Up in LA. erst zwölf Monate später verfeinert wurden. Mit diesem Abstand erkannte McMahan die Notwendigkeit, den Sound mit Hilfe von John McEntire (Tortoise) als Produzenten wärmer zu gestalten, und nach letzten Tüfteleien in Chicago kann das Album jetzt als sensibles und meditatives Kunstwerk in die Regale, (lin)