Grimes


Claire Boucher liebt die Nacht. Und Animal Collective. Ihr neues Album entstand unter Speed und Schlafentzug.

Im Film „Insomnia“ aus dem Jahr 2002 stakst Al Pacino mit tiefen Augenrändern durch Alaska, unfähig Schlaf zu finden. In einem Anfall von Verzweiflung klebt er Pappen vors Fenster, um endlich Erlösung zu finden. Claire Boucher, die Frau hinter dem Künstlernamen Grimes, hat genau das Gleiche getan: Pappen geklebt. Türen abgedichtet. Den Computer rausgeschmissen. Nicht in Alaska, aber in einem Ort, in dem es ähnlich barbarisch kalt werden kann: im kanadischen Montreal.

Drei lange Wochen verbarrikadierte sich Boucher in ihrem Zimmer. Die 23-Jährige brauchte die Nacht, um ihre Songs zum Leben zu erwecken. „Ich sagte mir: Ich werde erst wieder Tageslicht sehen, wenn ich dieses Album fertig habe“, erzählt sie an einem Tag, an dem das Thermometer in Berlin minus 14 Grad zeigt. („Pfff…, das nennst du kalt?“). Die Idee, sich komplett zu isolieren, reizte sie. „Ich hatte davor auch einiges über die Menschen in mittelalterlichen Klöstern gelesen und mich gefragt: ‚Was würde wohl passieren, wenn ich eine Zeit lang mit niemandem spreche?'“

Visions passierte – das Album, das sich Boucher in diesen drei Wochen von der Seele schwitzte. Ein Kritiker fühlte sich beim Hören an „Enya auf Speed“ erinnert. „Stimmt genau“, sagt Boucher grinsend, „ich liebe Enya und war während der Aufnahmen oft high.“ Wo Enyas Stimme aber tief abtaucht, schraubt sich Grimes hoch und höher, von Schleppbeats und Synthieschichten unterlegt.

Boucher: „Ich spiele kein Instrument, deshalb nutze ich meine Stimme für alles. Ich lege Tonnen von Gesangsspuren übereinander. Es ist ziemlich schwierig, dass sich so etwas gut anhört. Aber wenn es passt, ist es fantastisch.“

Simone Deckner

Albumkritik S. 95