Im illusionslosen Post-Punk Britannien ist romantische Filigranmusik angesagt


Öko-Freaks und Vegetarier, Pazifisten, Mystiker und Märchenerzähler - auf den britischen Inseln tummeln sich an allen Ecken und Enden der Rock-Szene die "Neuen Sensiblen". Und schuld daran sind nur die Smiths. Denn sie zeigten, daß auch grüblerische Brüter glaubwürdige Musik machen können. Hanspeter Künzler erforschte feinfühlig die Zusammenhänge zwischen der Vaterfigur Morrissey und seinen Söhnen, Töchtern und Enkeln.

Früher fahndete man in allen Ecken Groß-Beatanniens nach den „neuen Beatles„. Heutzutage geht es um andere Werte – um die würdigen Nachfolger der Smiths. Schon als die Band noch existierte, suchten nimmermüde Bewunderer allerorten nach Doppelgängern und Ersatz-Schmieden – und nicht zuletzt Morrissey, der sphinx-artige Frontmann der Smiths, betätigte sich in Interviews gern als Orakel und lobte junge Bands, die seinem Stil nacheiferten: Kombos wie Raymonde oder James erfreuten sich solcherart höchst offizieller Anerkennung und kamen wohl auch deswegen schnell bei größeren Plattenfirmen unter.

Doch das Phänomen reicht tiefer. Der eingefleischte Vegetarier Morrissey setzte sich mit seinen Smiths lediglich an die Spitze einer Bewegung, die auf den britischen Inseln seit einigen Jahren immer mehr Zuwachs findet: Zurück zur Natur heißt die Devise; romantische Filigran-Musik, verträumte Innerlichkeit und pure akustische Schönheit finden immer mehr Anhänger – sowohl unter den Plattenkäufern als auch unter den jungen Musikern. Die neuen Sensiblen aus Engel-Land heißen Cocteau Twins oder Sundays, Shellyan Orphan oder eben schlicht James.

Es läßt sich nicht leugnen, daß derzeit vier von fünf britischen Bands, die wissen, wie man eine Gitarre hält und deren Durchschnittsalter nicht über 30 liegt, blankgespielte Smiths-Platten im Regal stehen haben. Das entspricht dem Stellenwert, den die Smiths zumindest für die englische Szene einnahmen: Während die Band anderswo kaum je die Pop-Charts verunsicherte, verbuchte sie auf den Inseln zwischen November 1983 und Dezember 1987 geschlagene 16 Top-30-Hits – mehr als alle Simple Minds. Showaddywaddys oder Simply Reds je schafften. Kein Wunder, daß in diesem breiten Fahrwasser der Smiths hunderte von ähnlich tönenden Bands zu agieren begannen.

Der Mut der Smiths zeigte sich am deutlichsten in der Person von Morrissey: Da präsentierte sich ein Mann, der konsequent gegen den Strom anschwamm. Obwohl er unbestreitbar aus den düsteren Arbeitervierteln von Manchester stammte, war aus ihm kein deftiger Witz- und Raufbold mit Vorliebe für Steaks, Titten und Bier geworden, wie es zu befürchten stand. Er präsentierte sich auch nicht als party-geiler Weltenbummler mit amüsanten Publicity-Tricks und dicker Gurke in der Hose. Selbst die Indie-Nummer mit grünem Anorak und pseudo-provokativen Protestslogans hielt Morrissey nicht durch. Er war statt dessen der Prototyp des neuen Sensiblen.

Seine Äußerungen in der Öffentlichkeit waren meist präzis gezielte Nadelstiche gegen den sogenannten „gesunden Menschenverstand“. Er ließ wie weiland die Blumenkinder Gladiolen aus der Jeanstasche hängen und verdammte – ganz militanter Vegetarier – den traditionellen sonntäglichen Rinderbraten als Mord am Tier. Trotzdem leugnete er seine geistigen Wurzeln im Arbeiterquartier nicht. Solche Provokationen wurden im Ausland kaum richtig gewürdigt, lösten aber beim britischen Publikum furiose Debatten aus. Außerdem erwies sich Morrissey nach Jahren punkiger Schnoddrigkeit als Pionier einer neuen wohlartikulierten Sprache in den Texten von Popsongs. So konnte er über Themen und Emotionen schreiben, die lange unberührt geblieben waren: „Heaven Knows I’m Miserable Now“ – hinter diesem tristen Statement verbirgt sich auch ein typisch englischer, herzhafter Lacher.

„Meine musikalischen Wurzeln liegen im weißen englischen Pop der 60er Jahre“, erklärte Morrissey im Mai 1986: „Ich habe nie den Underground gemocht. Auch im Kino konnte ich diese schrägen, disziplinlosen Filme von Leuten wie Richard bester nicht ausstehen.“ So zeigten die Smiths im illusionslosen Post-Punk-Britannien, daß auch grüblerische, poetische Brüter glaubwürdige Musik machen können – selbst wenn sie nicht auf Funk, Soul oder Iggy Pop stehen. Und dadurch ernteten die Smiths abgrundtiefen Haß und abgöttische Liebe – und sie ebneten den Weg für unzählige andere sensible Jungmusiker mit Idealismus und vielen guten Absichten.

So entstand ein Freiraum für neue musikalische Ideen, den einerseits die romantische Versponnenheit der Cocteau Twins ausfüllte, die stets ein wenig an „Alice In Wonderland“ erinnerte. Und am anderen Ende des Spektrums fanden The Jesus And Mary Chain mit ihren melodischen Feedback-Symphonien Gehör. Zwischen diesen Extremen richteten sich Bands wie The Wedding Present. My Bloody Valentine, Railway Children oder die Weather Prophets ihre eigenen Nischen ein. Die Darling Buds und die Primitives hingegen, zwei Bands, die sich kaum auseinanderhalten lassen, orientierten sich eher an Deborah Harrie von Blondie. Doch alle setzten elektrische oder akustische Gitarren so ein, wie sie es von den Smiths gelernt hatten. Dazu kamen der sensible, oft auch einfach schwachbrüstig wirkende Gesang, tiefe Verachtung für Computer jeder Art und eine gleichgültige Haltung schwarzer Musik gegenüber, die hie und da in gefährliche Ignoranz umkippt – nicht umsonst sieht sich die Szene bisweilen dem Vorwurf des latenten Rassismus ausgesetzt.

Nachdem man sich schon nach innen kehrte, ließ auch die Besinnung auf die britische Song-Tradition nicht lange auf sich warten. Man durfte wieder ernsthaft über die Folk-Rockszene der 60er Jahre reden, ohne sich lächerlich zu machen – über Gruppen wie Trees, Incredible String Band oder gar Dando Shaft. Die Gemeinsamkeiten lassen sich in der Tat nicht leugnen: Schon in der damaligen Szene blieb der Einfluß des Blues minimal; allerlei kuriose Instrumente wie Krummhörner, Schalmeien und Dudelsäcke sowie keltische Mystik verbanden sich statt dessen oft mit honigsüßen Frauenstimmen.

Ein gewisser Stephen Duffy beispielsweise ist gar nicht so weit von dieser Folkrock-Vergangenheit entfernt: Als Tin Tin und Dr. Calculus fabrizierte er zunächst elektronische Tanzhits, bevor er die Folk-Klänge seiner Jugend wiederentdeckte und die Gruppe Lilac Time gründete:

„Ich wollte zurück zu einer provinziellen Attitüde finden, die sich nicht, wie in London üblich, ständig nur an den neuesten Trend hängt. “ Des Knaben Duffys erstes Konzert bestritt in grauer Vorzeit die Incredible String Band: „Diese Musiker klangen deshalb so überraschend neu, weil sie andere Ideen hallen – nicht etwa, weil sie eine neue Maschine gekauft hatten. Zu dieser Klarheit möchte ich zurückfinden.“

Die Formation All About Eve koppelt in ihren Konzerten ähnlich filigrane Einflüsse wie Stephen Duffy mit dem Trockeneis-Wabern der Gruftis und erzählt vor dieser nebulösen Kulisse romantischen Klatsch und Tratsch über Trolle und Feen. Auch die Musiker von All About Eve stammen – wie erstaunlich viele ihrer auf der gleichen Wellenlänge funkenden Kollegen – aus dem Norden Großbritanniens. Mag sein, daß in der Tat an Stephen Duffys Erkenntnis was dran ist, in der Provinz lasse sich unbefangener und unbeeinflußt von den kurzlebigen Moden musizieren. Aber vielleicht trifft auch einfach zu, was viele Lästermäuler behaupten: im grauen Norden gebe es schlicht nichts anderes zu tun, als über Feen und Elfen zu singen.

Wie auch immer: Auf jeden Fall reißt der Strom der neuen Sensiblen, die das Erbe der Smiths aufgreifen, nicht ab. Die Sundays, deren Sängerin Harriet Wheeler aus allen Poren das versponnene Aroma der Cocteau Twins schwitzt, bekennen sich ausdrücklich zu dieser geistigen Verwandtschaft mit den Smiths. So sagt Gitarrist David Gavurin: „Wir entstammen eben der englischen Indie-Musik der 80er Jahre. Sicher spielt dabei ein gewisser Folk-Einfluß mit, aber Engländer sprechen uns darauf kaum an. Denen kommt das wohl so alltäglich vor, daß sie’s gar nicht bewußt registrieren.“

In den Texten der Sonntags-Kinder ist die verbale Schärfe der Smiths einer „sensiblen Vagheit“ gewichen, die den Zuhörer zum Interpretieren und genauen Mithören herausfordert. „Mir gefällt es“, meint Gavunn, „wenn Songs nicht immer genaue Schlüsse zulassen, sondern Widersprüche und Unklarheiten stehen bleiben. Wir wollen aber nicht einfach verwirren, sondern eher stimulierend wirken. “ In der Tat halten die Post-Smiths-Bands ihre Songtexte normalerweise für überdurchschnittlich wichtig, selbst wenn sie auf den Nichteingeweihten wie purer Nonsense wirken.

Guy Chadwick, der Sänger von House Of Love. deren zweites Album FONTANA kürzlich auf Anhieb in die Top 10 der britischen Charts sprang und die in Live-Reviews schon öfter Vergleiche wie „Smiilis fiir die großen Stadien“ provozierten, spielt dieses Thema zwar herunter: „Meine Texte haben nichts mit sozialen oder politischen Tatsachen zu tun. Andere Menschen werden sie zu Recht bedeutungslos finden.“ Aber so ganz ohne weiteres mag man ihm diese Bescheidenheit nicht abnehmen.

Und selbst wenn der Gesang bei anderen Bands so zierlich und scheu tut, daß er sich im Gitarrensturm kaum noch orten läßt (beispielsweise bei Gruppen wie den wundersamen Lush oder den Pale Saints, bei Birdland und Summerhill) – selbst dann vermutet der Beobachter noch tiefes Sinnschürfen. Oder wenigstens doch ein paar schlaue Witze mit ernstem sozialem Hintergrund.

Fragt sich nur, wer von all diesen zerbrechlichen jungen Pop-Pflänzchen wirklich die innere Kraft hat, um das schwere Erbe der Smiths zu übernehmen. Die Sundays? In England wurden sie zwar zu Beginn dieses Jahres als die kommenden Superstars gepriesen – doch von solchen überzogenen Vorschußlorbeeren blieb nach sechs Monaten allenfalls eine handwerklich brave, sympathische Austrahlung übrig.

Aber alle Tage ist kein Sonntag, und vielleicht schlägt das Pendel auch schon wieder um – von der neuen Sensibilität zur ganz neuen Wurschtigkeit. Die Stone Roses aus Manchester fahren damit jedenfalls nicht schlecht. In ihren lakonisch dahingebrabbelten Ohrwürmern setzen sie als stilprägende Maßnahme einen wuchtig-fruchtigen Tanzbaß ein, und sie benehmen sich arrogant und aggressiv wie früher The Who und die Rolling Stones. So begossen sie den Boß ihrer früheren Plattenfirma und dessen Freundin während einer kleinen Streiterei kurzerhand mit blauer Farbe.

Und schon war die schöne neue Sensibilität ganz schnell wieder flöten.