Interpol


„Kein Kommentar“ ist nicht gerade eine Antwort, die man sich als Musikjournalist erhofft. Doch es ist das Erste, was Paul Banks für mich übrig hat: „Kein Kommentar“, sagt er höflich, aber streng und schaut dabei durch die dicken Gläser seiner Tom-Ford-Sonnenbrille auf den terrakottabefliesten Boden, während wir im Hinterhof eines Leipziger Clubs mit dem schönen Namen Täubchenthal zwischen alten Weinfässern auf einer merkwürdig deplatziert wirkenden Bierbank sitzen. Interpol werden heute Abend hier auftreten und die ersten Songs ihres neuen Albums EL PINTOR spielen, das der eigentliche Anlass des Interviews ist. Doch ohne dass über die Platte auch nur ein Wort gesagt wurde, hat Paul Banks schon das erste Klischee bestätigt: Er hat’s nicht so mit der Presse. Als er dann noch ein übellauniges „Darf ich fragen, wo du deine diesbezüglichen Informationen überhaupt her hast?“ nachwirft, ist die Konfusion komplett. Gefragt habe ich ihn bloß nach den Fortschritten, die das gerade in der Produktion befindliche gemeinsame Album mit einer anderen New Yorker Legende macht: RZA. Der redet zumindest ein bisschen darüber. Dass „everything very positive“ zwischen den beiden sei, verrät mir Banks dann doch, aber mit mehr Informationen dürfe und wolle er nicht rausrücken. Trotzdem: HipHop ist Paul Banks‘ Lieblingsgenre und scheint als Gesprächsthema allgemein zu fruchten. Der Wunsch, zum ersten Mal zur Gitarre zu greifen, kam bei ihm als Teenager, als er „Dream On“ von Aerosmith hörte. Doch seine eigentliche musikalische Liebe war und ist eine andere. „Als ich zehn oder elf war, habe ich STRAIGHT OUTTA COMPTON von N.W. A. in die Finger gekriegt. Das war zu der Zeit, als die Parental-Advisory-Sticker im Kommen waren. Die haben dem Ganzen etwas Gefährliches, sogar Verbotenes verliehen. Als Kind musste ich sofort alles darüber wissen“, sagt Banks, und auch die dicken Brillengläser können ein gewisses Leuchten in seinen Augen nicht verdecken. „Selber rappen würde ich aber nie, dazu liebe ich Melodien viel zu sehr. Ich glaube auch, dass es schwerer ist, ein guter Rapper zu sein als ein guter Sänger.“

Ein guter Sänger. Dass Paul Banks das ist, weiß man spätestens, seit Interpol 2002 ihr Debütalbum veröffentlichten. Womit wir mitten im Thema sind: Man muss sich nicht lange mit EL PINTOR beschäftigen, um festzustellen, dass es TURN ON THE BRIGHT LIGHTS in allen Belangen sehr ähnelt -allein ein Vergleich der jeweiligen Cover spricht Bände. Und jetzt soll bitte schön keiner behaupten, Interpol haben sowieso immer gleich geklungen: Gerade auf den letzten beiden Alben OUR LOVE TO ADMIRE (2007) und INTERPOL (2010) hat sich die Band oft zu Experimenten mit Bläsern, Synthies und sonstigen Spielereien hinreißen lassen. Damit erschloss sie sich jedoch keine neuen Räume, sondern stieß sich eher den Kopf an der Decke der alten. Nun, vier Alben, einen verschlissenen Bassisten und eine vieldiskutierte Beziehung zwischen Paul Banks und Helena Christensen später kehrt die Band zu ihrem ursprünglichen Sound zurück. Einem Sound, der ganz leicht ein ganzes Jahrzehnt hätte bestimmen können, wäre er nur ein Jahr früher gekommen. In New Yorks Lower East Side war um die Jahrtausendwende herum viel los: Bands wie die Strokes, die aus Ohio zugezogenen National und eben Interpol schossen wie Pilze aus den Laminatböden der örtlichen Konzertclubs. Doch während die Strokes mit IS THIS IT beiderseits des Atlantiks durch die Decke gingen, war der Rest der Szene noch mit seinen Brotjobs beschäftigt.

In späteren Interviews verriet Paul Banks (genau wie Matt Berninger von The National), dass es durchaus an seinem Ego nagte, den Kollegen bei ihrer Starwerdung zuschauen zu müssen. Seine eigene Band gab es schließlich schon wesentlich länger. Er kündigte seine Stelle in einem Café, Interpol wurde für alle Beteiligten nach und nach zum Vollzeitprojekt. Als TURN ON THE BRIGHT LIGHTS schließlich im Sommer 2002 veröffentlicht wurde, war es das genaue Gegenteil von IS THIS IT. Julian Casablancas‘ Westen dürften damals schon mehr gekostet haben, als Interpol für einen ihrer Auftritte als Gage bekamen. Und während der Strokes-Chef ein Auge für die Frauenwelt des Big Apple hatte, besang Paul Banks lieber den Dreck auf dem Bürgersteig. IS THIS IT spiegelte das unbeschwerte New York vor 9/11 wieder, TURN ON THE BRIGHT LIGHTS das angsterfüllte danach.

Es ist mittlerweile 14 Uhr. Der Club verwandelt sich langsam in so eine Art menschlichen Ameisenhaufen: Überall schleppen Leute Kabel und Instrumente durch die Gegend, während der verdächtig wie der amerikanische Rapper Action Bronson aussehende Tontechniker der gestresst wirkenden Tourmanagerin in aller Genauigkeit erklärt, warum das Glastonbury so fürchterlich geworden sei und dass es die wirklich guten Festivals nur noch in Osteuropa gebe. Im Hintergrund schlurft Banks höchstpersönlich in T-Shirt und Trainingshose vom Tourbus zu einem eben eingetroffenen roten Ford, der ihn gleich zum Hotel fahren wird. Eigentlich sollte das Interview schon beginnen, doch Banks ist gerade erst aufgewacht und hat es vorgezogen, noch einmal duschen zu gehen. Im Vorbeigehen sagt er zu einem Roadie: „Es ist schon einige Wochen her, seit ich das zum letzten Mal gemacht habe.“ Was er damit meint, wissen wir nicht, doch die schon jetzt perfekt sitzende Frisur deutet darauf hin, dass es wohl kaum das Duschen sein wird.

Also erst Daniel Kessler. In all diesem Gewusel wirkt der gelassene Gitarrist der Band etwas fehl am Platz: In seinem Anzug, den er trotz der Hitze anbehält, sieht er selbst mit fast 40 Jahren ein bisschen aus, als hätte man ihn gerade vom Abschlussball abgeholt. Er könne sich nicht an den letzten Tag erinnern, an dem er keinen Anzug trug, sagt Kessler und spricht dabei ziemlich leise und überlegt, wenn auch unglaublich schnell. Er klingt dabei aber nicht wie ein Amerikaner. Eher wie jemand, der krampfh aft amerikanisch klingen will. Die eigentümliche Klangfarbe seiner Sprache ist biografisch bedingt: Genau wie Paul Banks wurde er in England geboren, zog dann mit sechs Jahren nach Frankreich und mit elf Jahren nach New York. Damals war sein Französisch sogar besser als sein Englisch. „Ich hatte einen britischen Akzent, bis ich etwa 15 war, aber es fiel mir relativ leicht, mir den abzugewöhnen und mich meinen Klassenkameraden anzupassen“, sagt er. Es passt ganz gut, dass sein Weg zum musikalischen Kopf von Interpol auf der anderen Seite des Musikgeschäfts beginnt: Nach einigen Jobs bei kleineren Labels gründet Kessler den US-Ableger des Indie-Labels Domino Records, wird zu dessen Chef und zeitweise einzigem Mitarbeiter. Das Hauptquartier befindet sich in seinem Schlafzimmer, semi-legendäre Platten wie die ersten beiden Clinic-Alben INTERNAL WRANGLER und WALKING WITH THEE, Four Tets ROUNDS und Caribous erste Werke (damals noch als Manitoba) erscheinen unter Kesslers Ägide. „Ich wollte beruflich jeden Tag mit Musik zu tun haben, aber ich war Realist. Ich dachte, ich könnte nicht einfach eine Rockband gründen, also hab ich Labelarbeit gemacht.“

Trotzdem geht Kessler stets mit einem offenen Auge für potenzielle Bandmitglieder durch New York. Seinen Freund Greg Drudy kann er als Drummer anheuern, den Bassisten Carlos Dengler lernt er in einer Philosophievorlesung kennen. Banks hatte er bereits während eines Auslandssemesters in Paris getroffen und läuft ihm einige Zeit später zufällig in New York über den Weg -die Band war geboren. Als Drudy dann im Jahr 2000 ausstieg, wurde er durch Fogarino ersetzt, Verkäufer im Plattenladen von Kesslers Vertrauen. Die klassische Interpol-Besetzung stand. Kessler sollte Domino dennoch lange die Treue halten, erst unmittelbar vor der Tour zu TURN ON THE BRIGHT LIGHTS, also ein halbes Jahrzehnt nach der Gründung seiner Band, kündigte er.

Die Arbeiten an EL PINTOR begannen exakt zehn Jahre nach dem Release des InterpolErstlings an einem Augustwochenende im Jahr 2012. Kessler und Banks trafen sich, damals noch ohne den Dritten im Bunde, Sam Fogarino, in ihrem New Yorker Proberaum. Kessler kam mit einer Handvoll erster Skizzen im Gepäck, Banks mit dem Selbstbewusstsein seines damals frisch eingespielten zweiten Soloalbums BANKS, auf dem er erstmals einen Bass bediente. Kesslers Ideen hatten ein entscheidendes Detail mit dem gemeinsam, was seinerzeit den Reiz von TURN ON THE BRIGHT LIGHTS ausmachte: Wenn man diese Stücke auf der Gitarre nachspielen will, kommt man früher oder später an einen Punkt, an dem es nicht mehr weitergeht. Nicht, weil es zu schwer ist, sondern weil es einfach keinen Sinn ergibt, was man spielt: Die Gitarren von Paul Banks und Daniel Kessler bringen erst durch ihr Ineinandergreifen den Zunder zum Brennen -allein deshalb sind Interpol schon doppelt so viel Television wie Joy Division und damit wiederum der Tradition ihrer Wahlheimat New York verpflichtet, nicht der ihrer eigentlichen.

Unter Kesslers Ideen befand sich zum Beispiel das spätere Riff von „Anywhere“ und viele weitere Fragmente, aus denen sich später die Songs des Albums herausschälen sollten. Bei Banks trafen diese auf Gegenliebe -und Ratlosigkeit: „Ich fand es gut, aber ich wusste nicht, wie wir weiter vorgehen sollten. Es fiel mir keine zweite Gitarrenspur ein, keine Gesangsmelodie“, sagt Banks. Er ist mittlerweile vom Hotel zurückgekehrt und hat T-Shirt und Trainings-durch Hemd und Anzughose ausgetauscht. Eine entscheidende Sache habe ihm nämlich gefehlt: der Bass. „Ich bin ein Sänger, der sich immer am Bass orientiert hat, und solange es keine Bassline gibt, weiß ich nicht, was ich singen soll.“ Anstatt jedoch Carlos D. wieder ins Boot zu holen, brachte Banks am nächsten Tag kurzerhand selbst einen Bass mit. Sowohl er als auch Kessler werden nicht müde zu betonen, wie souverän er das Instrument beherrscht. Schon im Video zur Leadsingle „All The Rage Back Home“ präsentiert Banks zwischen Schwarz-Weiß-Ästhetik und Surf-Aufnahmen stolz seine neu entdeckte Liebe zum Viersaiter -und kommt damit auch seinem Selbstverständnis als Musiker wieder ein Stück näher: „Als ich angefangen habe, mich musikalisch zu entwickeln, hab ich mich gar nicht als Sänger gesehen. Ich hatte ein paar Gedichte und eine Gitarre. Im Endeffekt hat sich mein Werdegang immer mehr um ein Instrument gedreht als um meine Stimme.“

Dass Paul Banks wirklich ein guter Bassist ist, lässt sich auf EL PINTOR nachhören. Trotzdem scheinen er und Kessler die klaffende Lücke wegdiskutieren zu wollen, die überhaupt erst zur Notlösung „Banks am Bass“ geführt hat: Original-Bassist Carlos Dengler war bis zu seinem Ausstieg im Jahr 2010 nicht nur der einzige „echte“ New Yorker in der Band (Drummer Sam Fogarino kommt aus Philadelphia und hat sizilianische Wurzeln), er war auch ihr heimlicher, nein: offensichtlicher Frontmann. Dengler wirkte nicht nur, als hätte man ihn mittels copy/paste aus einem Film noir oder dem Bandfoto einer 80er-Jahre-Post-Punk-Band geschnitten und ins Partyleben der Lower East Side geschmissen. Bevor er sich kurz vor seinem Austritt den Schnurrbart des Jahrzehnts wachsen ließ, sah er mit seiner bleichen Haut und den hart gezeichneten Gesichtszügen aus wie ein Vampir oder -glaubt man den Modeexperten des „Guardian“ – wie Graf Zahl, wenn er Mitglied der Hitlerjugend gewesen wäre. Hosenträger, Springerstiefel, rote Krawatten und leere Pistolenhalfter machten ihn nicht nur zum stilistisch auffälligsten Bandmitglied, er war mit seinen regelmäßigen DJ-Sets und Eskapaden im New Yorker Nachtleben bei Interpol der bunte Hund, der den Rock’n’Roll wirklich lebte. Neben ihm wirkten der Vegetarier Kessler, das Pickelgesicht Banks und der leidenschaftliche Hobbykoch Fogarino wie Deko. Und auch wenn im Zuge der Trennung oft der Begriff „freundschaftlich“ fiel, hörte man nun einmal auch das Wort „Arschloch“. Fogarino sagte vor zwei Jahren in einem Interview zum zehnjährigen Geburtstag von TURN ON THE BRIGHT LIGHTS, wie sehr er Dengler vermisse -und verachte. Auf die Frage, ob noch Kontakt bestehe, antwortet Banks mit einem geradezu herrischen Nein, Kessler mit einem zögerlichen Ja.

Was man jedoch nicht totschweigen kann, ist Denglers musikalisches Vermächtnis, und das besteht aus nicht weniger als dem faszinierendsten Bassspiel, das der Indierock der Nullerjahre gesehen hat. Man kann Paul Banks nur schwer glauben, dass er sich früher gesanglich am Bass orientiert hat. Stücke wie „The New“ oder „Take You On A Cruise“ klingen vielmehr, als hätten drei Viertel der Band ihre Parts bereits fertig eingespielt und Dengler mit dem Bass darüber improvisiert. Selbst Slint-Legende David Pajo, der den Bass auf der Welttournee 2010/2011 bediente, wurde stutzig: In Denglers Basslines wiederholt sich fast nichts.

Weiter ins Gewicht gefallen sei Denglers Abwesenheit bei den Aufnahmen zu EL PINTOR jedoch nicht: „Vielleicht hätten wir mehr darüber nachgedacht, wenn wir an unsere Grenzen gekommen wären“, so Kessler, „aber das sind wird nicht. Und wenn wir einmal konzentriert sind, achten wir nur noch auf das, was da ist, und nicht auf das, was fehlt.“ Doch zumindest Banks sieht einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Sound der Platte und dem Besetzungswechsel: „Vielleicht klingen wir wie in unseren Anfangsjahren, weil wir damals eine neue Band waren und es heute auf eine verrückte Weise auch wieder sind.“

Gleich zu Beginn des Interviews hatte Banks gefragt, ob er rauchen dürfe. Nachdem er die erste Hälfte des Gesprächs mit einer Marlboro Gold in der linken und einem Feuerzeug in der rechten Hand herumgefuchtelt hat, steckt er sich die Zigarette endlich an, nimmt einen kräftigen Zug und beginnt, kaum merklich zu lächeln. Seine Gemütslage ist schwer einzuordnen. Der Miesepeter, als den man ihn anhand seiner Texte leicht einordnen könnte, ist Banks wohl nicht. Doch gerade EL PINTOR bietet genau dafür wieder genug Angriffsfläche und erinnert auch auf dieser Ebene an TURN ON THE BRIGHT LIGHTS: Einer der schwermütigsten, depressivsten, aber auch undurchdringlichsten Texte früher Tage war „Roland“: Banks thematisiert die schwer kontrollierbaren dunklen Abgründe seiner Seele und identifiziert sich sogar mit dem Serienmörder Jack The Ripper, genauer gesagt: mit dem polnischen Juden Aaron Kosminski, einem Verdächtigen im Ripper-Fall. Er singt von einem nicht näher charakterisierbaren Trieb, den er in der Öffentlichkeit in Schach halten muss. Der Songtitel selber ist ein Amalgam aus „Poland“ und „Ripper“ – und schon steckt man mittendrin, zwischen den Zeilen von Banks‘ schizophrenem Mikrokosmos, in denen man so vieles finden, aber auch so schnell ertrinken kann. Bei EL PINTOR verraten einem schon die Songtitel, wo der Hase läuft. „Everything Is Wrong“,“Twice As Hard“,“All The Rage Back Home“: Wie schreibt man solche Lieder? Banks fängt an, nervös auf den Tisch zu klopfen. „Bei uns steht die Musik am Anfang, die Texte kommen erst ganz zum Schluss. So ist jedes Lied für mich schon eine eigene Welt mit einer eigenen Atmosphäre, bevor ich mit den Lyrics überhaupt angefangen habe. Die sorgen dann dafür, dass die Stimmungslage der Musik auch auf dieser Ebene funktioniert“, erklärt er sein Prinzip. „Da kann auch mal eine Handvoll Zeilen komplett autobiografisch sein, während der Rest des Songs nichts mit mir zu tun hat. Wenn man so will, sind meine Texte tonnenweise Wahrheiten und tonnenweise Lügen.“

Wenn man Banks nach konkreten Themen fragt, bleibt er stets auf einer Metaebene: Beziehungen, Spannungen, Aggression, Emotion und Verletzlichkeit nennt Banks als lose Koordinaten seiner Texte, stets mit sehr langen Pausen respektive Zigarettenzügen dazwischen. Wer Hintergründe erfahren will, muss wohl selbst zwischen den Zeilen wühlen.

Stattdessen gerät Banks irgendwann selbst in Fragelaune: Er möchte wissen, wie ich den manipulierten Gesang auf „Twice As Hard“ finde, der eben noch Gegenstand unserer Unterhaltung war, und was ich generell von Stimmbearbeitungsprogrammen halte. Höflich und distanziert wirkt er dabei immer noch, doch eine gewisse neugierige, geradezu kindliche Aufgeregtheit macht sich auf einmal auch bemerkbar, auch wenn seine Stimme ihre Lage kaum spürbar verändert. Diese Aufgeregtheit erreicht ihren Höhepunkt, als wir auf die Cartoonserie „Family Guy“ zu sprechen kommen (eine von Banks‘ Lieblingsszenen ist Peters Besuch beim Ground Zero), ist aber wie weggeblasen, als es um verschiedene Bekanntschaften geht, die Interpol im Laufe ihrer Karriere im „Business“ gesammelt haben: Im Vorprogramm von U2 spielten sie vor einigen Jahren auf der 360°-Tour jeden Abend vor Zigtausend Menschen -die alle sicher nicht wegen der Vorband gekommen waren. Banks überlegt lange und versucht, die Situation dann so in Worte zu fassen: „Wenn du aus einem Flugzeugfenster schaust, hast du keine Angst. Wenn du auf einem sechsstöckigen Gebäude stehst und nach unten blickst, schon. Ich glaube, das liegt daran, dass der Mensch, wenn man sehr weit in der Geschichte zurückgeht, solche Höhen wie im Flugzeug gar nicht gewohnt ist. Deswegen gibt es gar keinen natürlichen Mechanismus, der in solchen Fällen Angst auslösen kann. Wir sind einfach sprachlos. Wenn wir vor 70 000 Menschen spielen, ist das ganz ähnlich. Wir denken uns einfach nur: Pff.“

Wow. Einerseits erinnert es ein bisschen an das, was Wolfgang Joop einmal im Finale der Castingshow „Germany’s Next Topmodel“ gesagt hat: „Hier sind so viele Leute, da hat man schon wieder das Gefühl, man ist alleine.“ Andererseits muss man ganz schön abgezockt sein, um vor 96 540 Menschen (so viele waren es beim Paris-Gig) nicht mehr als ein „Pff“ übrig zu haben. Des Weiteren, erklärt Paul, sei Bono ein ziemlich netter Kerl und Robert Smith von The Cure, mit denen Interpol auch auf Tour waren, ein richtiger „Bro“ – Pokerturniere im Nightliner inklusive. Lediglich David Lynch sei ein Genie, wenn auch ein freundliches. Man merkt schnell: Banks spricht hier längst nicht mehr über Vorbilder, sondern über Mitstreiter und Gleichgesinnte, im Falle von Lynch sogar über Dienstleister: Der große Regisseur drehte nämlich die Live-Visuals zum INTERPOL-Song „Lights“. Die Art und Weise, wie Banks über all das redet, macht eins deutlich: Dass er nicht mehr der Milchbubi von 2002 ist, dürfte jedem klar sein, aber jetzt, mit EL PINTOR, ist er mehr Rockstar als je zuvor.

So scheint es auch irgendwie ein Akt der Abgezocktheit zu sein, als Banks seine bis zum Filteransatz gerauchte Zigarette fein säuberlich ausgedrückt in die Packung zurückgleiten lässt. Er müsste jetzt eigentlich in die Halle, der Soundcheck wartet. Doch während ich für meinen Teil fertig bin, hat er noch eine letzte Frage: „Hast du dir unser neues Album eigentlich angehört?“ Ich, verdutzt, weil wir eben noch lang und breit über Selbiges diskutiert haben, bejahe. „Und, wie findest du’s?“, möchte Banks wissen. „Sehr gut. Mindestens besser als die letzten beiden“, antworte ich ehrlich. „Schön. Sind wir uns eigentlich schon einmal begegnet?“ Ich verneine. „Dann war es schön, dich kennenzulernen“, sagt er und trabt nach einem überraschend laschen Händedruck in den Club zurück, dessen mit Diskokugeln und Kronleuchtern verzierte Decken gerade in einer Höllenlautstärke mit No Doubts „Hella Good“ beschallt werden. Nein, der „frustrated man“, aus dessen Sicht er „My Desire“ singt, ist Banks nicht. Aber wer ist er dann? Vielleicht taugt die erste Zeile der Heimatballade „NYC“ am besten als Antwort auf diese Frage: „I had seven faces, thought I knew which one to wear.“ Wahrscheinlich weiß er mittlerweile, wann ihm welches steht. Vielleicht sind sogar noch ein paar dazugekommen. Aber ob wir das jemals erfahren werden? Kein Kommentar. Albumkritik S. 81