Jane’s Addiction: Bock auf Schock


Sex and Drugs and Rock 'n' Roll Jane's Addiction besinnen sich auf gute alte Werte - und sind trotzdem die Prügelknaben der Nation. ME/Sounds-Mitarbeiterin Martina Wimmer sprach mit dem Sänger Perry Farrell über rote Tücher und schwarze Schafe.

Wir schreiben das 20. Jahrhundert, und der Rock „n‘ Roll lebt längst in geordneten Verhältnissen: Saubermänner in Lederkluft trinken gereinigtes Perrier – und alle Musiker dieser Welt intonieren ein überzeugtes „Just Say No“. Wirklich alle?

Nicht ganz. In Venice Beach/Los Angeles leistet eine vierköpfige Truppe unbeugsamen Widerstand gegen etablierte Langeweile. Mit Erfolg: Wenn Jane’s Addiction eine Platte veröffentlichen, schreit der US-Elternverband PMRC empört auf und MTV pinselt aufgeregt schwarze Balken über delikate Videodetails.

Der Weg in neue Dimensionen – wer einmal Farrells Augen standhalten durfte, kann ahnen, wie weit die Reise geht. Und wer Jane’s Addiction’s zweite Studio-LP richtig hört, hat die Koffer schon halb gepackt. RITUAL DE LO HABITUAL ist, noch ausgeprägter als der Erstling NOTHING’S SHOCKING, ein Klangtrip durch alle Zeiten und Räume des Musikuniversums. Grenzenlos, aber nicht formvollendet, ergänzen sich unzählige Splitter zu ausschweifenden Epen und kurzen Zwischenspielen, zu einer seltsam geordneten Konfusion aus Wah Wah und Voodoo.

Vergleiche? Nein danke. Perry Farrell rollt die Augen (Hilfe!) und lacht: „Dein erster Kollege heute morgen meinte, wir wären eindeutig von Rap und HipHop beeinflußt, der zweite wollte ganz deutlich Van Haien und Led Zeppelin gehört haben. Aber mit Kategorisierungen kommt man bei uns nicht weit.“

Für 360 Kehrtwendungen pro Minute Musik gibt es einen hübschen Begriff: Art-Rock. Würde daran nicht hartnäckig der Mief pseudo-intellektueller Hippie-Romantik kleben, könnte Farrell mit diesem Etikett gut leben. „Dieser Bezeichnung hängt so ein abfälliger Unterton an, das verstehe ich nicht. Für mich war Musik immer Kunst, ich bin stolz darauf, Künstler zu sein, das ist doch nichts Negatives.“ Amerikanische Vertriebsketten, Kaufhauskonzerne und Elternverbände sind da anderer Meinung.

Multikünstler Farrell, der gegenwärtig auch begeistert seinen ersten Film fertigstellt („Nein, ein normaler Spielfilm wird das nicht werden. Normal ist wohl das falsche Wort. Haha!“), hat seine Kreativität nicht nur auf Vinyl, sondern auch auf den jeweils dazugehörigen Hüllen verewigt. Die Konsequenzen blieben nicht aus. Die nackte „siamesische Zwillinesskulptur seiner Freundin Casey Niccoli auf NOTHING’S SHOCKING verschwand in Amerikas Plattenregalen unter einem schwarzen Plastikschuber, nachdem acht große Vertriebsketten sich geweigert hatten, die Platte im Originalcover auszuliefern. Doch Farrell bleibt seiner Kunst beharrlich treu. RITUAL DE LO HABITUAL ziert im Original ein flotter Dreier aus Pappmachee, wohl zu wenig verdeckt von einer leichten roten Stoffbahn.

Die Doppelmoral seines Heimatlandes konnte Farrell natürlich voraussehen: „Kurz nach der Veröffentlichung wurde bereits der erste Händler verhaftet.“ Für die USA hat Farrell daher ein Alternativ-Cover bereit: RITUAL DE LO HABITUAL wird dort ganz in weiß mit einem Abdruck des „First Amendments“ der US-Verfassung (in dem das Recht auf freie Meinungsäußerung garantiert wird) an den Kunden gebracht. „Für mich ist meine Kunst eine Art Prüfstein für die Stimmung im Land. Unser Land ist krank. Wir werden unterdrückt. Aber es gibt gewisse Dinge, die kann man nun mal nicht unterdrücken: Sexualität oder Freiheit werden einfach an anderen Orten weiterleben, wenn man versucht, sie aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Amerika pocht immer so auf seine Freiheit, aber ich glaube, man kann inzwischen fast in jedem Land Europas freier leben, auch in Deutschland.“

Tatsache ist, daß – auf wessen Betreiben auch immer – selbst in diesem unserem Lande bereits eine vorbildliche Kaufhauskette die LP RITUAL DE LO HABITUAL kurzerhand aus ihrem Sortiment gestrichen hat. Man stelle sich das schließlich mal vor: Da kommt Oma Müller, vorweihnachtlich gestimmt, in die Schallplattenabteilung des sonst so gesitteten Warenhauses, um ihren Enkel mit einem Benjamin Blümchen-Tape zu erfreuen – und wird von halb sichtbaren Genitalien aus Pappmachee in die Nähe der Herzattacke getrieben. (Einen Museumsbesuch mit all den Rubens-Schweinereien im Großformat überlebt die durchschnittliche Kaufhauskundin nie und nimmer.) Perversion. Blasphemie und natürlich Drogengerüchte machen Jane’s Addiction zumindest in ihrem Heimatland zum klassischen Prototypen der fast schon vergessenen Spezies „gefährlicher Rock V Roller am Rande der Gesellschaft“. Nach der letzten Tour erholte sich Perry erstmal in einer Therapieklinik, ihrem ersten Manager kündigten sie nicht ganz unsanft, als er von ihnen Urinproben forderte, um ihren Drogenkonsum zu überprüfen.

Und stimuliert nicht nebenbei auch ihre uferlos vor sich hintreibende Musik ein wenig zur illegalen Stimulanz?

„Man kann den Geist einer Person durch viele Dinge beeinflussen, durch Worte, Töne oder auch Drogen. Alles, was ein Mensch aufnimmt, verändert ihn. Unsere Musik verändert, jeder kann das spüren, auch ohne Drogen … Aäh, aber natürlich kann es auch eine großartige Erfahrung sein, unsere Musik stoned anzuhören. „

Farrell kämpft „innerhalb des Establishments gegen das Establishment“, mit dem Geld der Industrie für seine Freiheit. Ein 31 jähriger Freak, der mit 16 seine Eltern verließ, Jahre seines Lebens auf der Straße verbrachte, in Mexiko von einer Hexe getraut wurde, dabei statt Eheringen mit seiner Frischvermählten Blutstropfen tauschte und obendrein völlig verquere Rockmusik macht. Wer sollte diesem Mann seine Kinder anvertrauen und warum?

Das Innen-Cover der umstrittenen LP weiß Antwort: „Wir haben mehr Einfluß auf Eure Kinder als ihr, aber wir glauben, daß, auch wenn ihr Euren Kindern Dinge erklären müßt, die ihr selber für falsch haltet, es immer noch besser ist, die Freiheit zu haben, diese Dinge in Euren eigenen Worten zu erklären als von einer Regierung zum Schweigen verurteilt zu sein.“