Jethro Tull – Neues vom Waldmenschen


Ian Anderson und Jethro Tull sind wieder unterwegs. Im Spätwinter starteten sie in England ihre jüngste Welttournee, im März waren sie – mit immensem Erfolg – in den USA, in der zweiten Aprilhälfte stand Deutschland auf dem Programm. Nach dem Rock’n ‚Roll-Abstecher auf der vorletzten LP propagierte Ian diesmal die Rückkehr zur Natur und zog ab in die Wälder. In der Kluft des Landjunkers – passend zur jüngsten Platte „Songs From The Wood“ – handelte er sich einhelliges Lob der Rockschreiberzunft ein. Vor allem in England, obwohl gerade dort die Journalisten seit jeher gern von Herrn Anderson durch den Kakao gezogen werden.

So mußte sich Chris Welch vom Melody Maker ein anzügliches Ständchen gefallen lassen. Ian Anderson widmete ihm während eines Konzerts den Song „Too Old To Rock ’n‘ Roll: To Young To Die“. Und ein amerikanischer Kolumnist, der es einmal fertigbrachte eine Flamenco-Darbietung des Jethro Tull-Supports „Carmen“ als albernen Stepptanz zu mißdeuten, bekam letztens in Los Angeles ebenfalls sein Fett: „Du hast dasselbe Publikum wie wir,“ schulmeisterte Ian. „Wenn ich die Zuschauer zum Töten animiere, kann es sein, daß in zwei Stunden draußen ein toter Polizist liegt. Wenn Du unsere Platten als Schrott bezeichnest, dann halst Du die Kids vom Kaufen ab.“ Später bekam der arme Schreiber in einem Interview nochmals einen rechten Haken: „Der läuft mit stolz geschwellter Brust herum, seitdem er weiß, daß er der einzige war, den ich während der Tour namentlich erwähnte,“ erklärte Ian.

Tull in Hochform

Solch ein kleiner Privatkrieg ist seit einigen Jahren Ian Andersons Hobby. Daß er gerne Witze auf Kosten seiner Mitmenschen macht und selbst schwer einstecken kann, gibt er zu. Ein sensibler Künstler ist er, der besonders dann verletzt reagiert, wenn ihn jemand kritisiert, der sonst immer mit seiner Arbeit einverstanden war. Aber mit den Resonanzen auf seine jüngste Tournee kann er durch und durch zufrieden sein. Seine Tour wurde einmütig als „Rückkehr zum Sound der 70er Jahre“ gewertet.

Ian eröffnete die Show mit einigen akustischen Titeln, dann folgte die Band, kompakt und heavy, mit einem Querschnitt durch das Tull-Repertoire: Aqualung, Songs From The Wood, Benefit, Thick As A Brick. Girarrist Martin Barre und Keyboardmann David Palmer erhielten Sonderlob. Ian turnte seine übliche Kür, balancierte auf einem Bein, mißbrauchte seine Flöte zwischendurch für Obzönitäten und zeigte sich musikalisch wie rhetorisch in Hochform. Zu alt für den Rock’n’Roll? Er nicht. An einen Rückzieher ist so schnell nicht zu denken. „Ich arbeite sogar noch rentabel, wenn ich 10 000 Platten verkaufe“, erklärte der Tull-Boß selbstbewußt. Zur Zeit hantiert Jethro Tüll jedoch noch weltweit mit Millionenumsätzen.

Kreativer Groll

Daß „Songs From The Wood“ so relaxt und ausgeglichen ausfiel, hat nicht zu bedeuten, daß Ian mit der Zeit ruhiger geworden ist. Der Wechsel von den ewigen Hotelzimmern zu einer privaten Atmosphäre in einem 500 Jahre alten Landhaus und die Vorfreude auf die Geburt seines ersten Kindes haben ihn zwar für kurze Zeit in ausgesprochen friedliche Stimmung versetzt. Doch das nächste Album – so verkündete er bereits – werde wieder sehr viel schärfer ausfallen.

Ian, der ewige Prediger, hat sich auf Gassenhauer und Küchenprosa gestürzt. Warf man ihm früher vor, seine engagierten Texte seien unausgegoren, so verteidigt er heute seinen Anspruch. Immerhin sei er erwachsener und damit intellektueller geworden. Und damit nicht irgendjemand auf die Idee kommt, die comichafte Geschichte „Too Old To Rock’n’Roll: Too Young To Die“ zu mißdeuten: Die Hauptfigur, sagt Ian, habe nichts mit ihm selbst zu tun. Es gehe in der Story um das Musik-Business und um die Fans, die wie Schafherden hinter einem Trend herlaufen.

So richtig zufrieden ist Ian Anderson mit sich, seiner Musik und seiner Umwelt eigentlich nie. Irgendetwas stört ihn immer. Zum Beispiel, daß jedermann ihn nach seiner jeweils jüngsten LP beurteilt, während er schon wieder mit dem Konzept für ein neues Opus beschäftigt ist. Er möchte dann bereits jeden daran teilhaben lassen, niemand soll ihn nach den Songs von gestern beurteilen. Und dabei kalkuliert er durchaus ein, daß er mit dem neuen Produkt eine Reihe von Fans vor den Kopf stoßen wird. „Es gibt Leute, die wollen immer dasselbe mit einem neuen Etikett“, meint er. Aber darauf will er keine Rücksicht nehmen. Da sich seine Plattenumsätze noch in beachtlichen Höhen bewegen, kann er sich das auch noch leisten und innerhalb des Gruppen-Konzeptes ungestört experimentieren.

Die blaue Invasion

Da ist aber noch etwas, das ihn ärgert. In einem Interview mit dem Rolling Stone erklärte Ian seine Aversion gegen die Übermacht der blauen Jeans, die ihm „das Vergnügen, den Himmel oder das Meer zu betrachten, schon vergällt haben“. Wenn es nach ihm ginge, würde er seinen Fanscharen, die sich nach der Show Autogramme holen, verbieten, in den blauen Beinkleidern anzutanzen. Der alte Levi würde sich für diese Invasion in Blau im Himmel schon zu verantworten haben. „Wenn Jesus auf die Erde zurückkommen würde,“ grollt Ian, „würden wir zwei unsere braunen Cordhosen anziehen, in den nächst besten Jeansladen gehen und die Ständer mit Jeans umwerfen… . Am nächsten Morgen würden wir dann gekreuzigt…“ Was steckt hinter dieser Abneigung? Ist Landjunker Anderson doch schon zu alt für den Rock ’n‘ Roll?