Jule Neigel


Der Schweiß tropft von der Zeltdecke. Nicht etwa, weil in Kiel an diesem Tag hochsommerliche Temperaturen herrschen (wie so oft, ist es eher nordisch kühl], sondern vielmehr, weil der fleischgewordene Vulkan Jule Neigel das Publikum zum Kochen bringt. Mit ihrer angestammten Band, einer Chorsängerin und einem Saxophonisten schwitzt sich die Rockröhre aus Ludwigshafen durch ein Repertoire, das keine Wünsche offenläßt: Die 28jährige schlägt eine Brücke zwischen Rhythm’n’Blues und Ballade, zwischen erdigem Rock und sinnlichen Softsongs. Schon der Opener könnte nicht besser gewählt sein. „Herzlich willkommen“, ein fulminanter R’n’B-Fetzer und der Titeltrack von Neigeis neuer LP, beschleunigt die Stimmung binnen Sekunden von 0 auf 1 00. Gleich darauf zwei Songs, die das Publikum – selbst vor der 4000 Personen fassenden Zeltkonstruktion drängen sich die Fans – schon seit Jahren kennen: „Schatten an der Wand“ und „Nur nach vorn“. Danach drei Titel von Jules jüngstem Album: „Träume werden wahr“, „Die Seele brennt“ und „Alles was du brauchst“. Die Kieler jubeln, der Live-Test ist bestanden. Jetzt wartet das Publikum nur noch auf einen Song. „Sehnsucht“, brüllt einer vor der Bühne, und Frau Neigel, den wohlgeformten Leib in Lack und leichte Spitze gehüllt, läßt sich nicht lange bitten. Mit der Leidenschaft einer schwarzen Sängerin röhrt die in Sibirien geborene Lady aus Ludwigshafen deutschen Rhythm’n’Blues – und mit „Sehnsucht“ genau jenen Song, der die deutliche Hinwendung der Jule Neigel Band zu härteren Tönen erneut unterstreicht. Wer in Kiel gediegene deutsche Unterhaltung erwartet hat, ist fehl am Platze. Die Neigel schreit, flüstert, fleht. Für den nötigen Druck sorgt ihre exzellente Band. Die agiert freilich im Hintergrund – bei dieser Frontfrau eine fast schon zwangsläufige Folgeerscheinung. Wenn Jule Neigel wie in Trance die Arme ausbreitet, wird den solistischen Leistungen ihrer Musiker kaum die verdiente Aufmerksamkeit zuteil – was zuallererst Jule selbst bedauert: “ Was wir erreicht haben, haben wir zusammen erreicht. Die Band steht bei uns an erster Stelle und nicht eine einzelne Person.“ Dieser Auftritt hat es erneut bewiesen.