Kunst aus Japan


Als sie 1978 auf der Bildfläche erschienen, wurden sie als Poseure belächelt. Sechs Jahre später jubelten zwar die Kritiker, doch Japan warfen trotzdem das Handtuch. Aus den Ruinen der Gruppe keimt nun neues Leben. ME/Sounds-Mitarbeiter Steve Lake sprach mit allen Beteiligten.

Unbeirrbar gehen sie ihren Weg. Ob richtig oder falsch. Schließlich haben sie es immer so gemacht. Kein Wunder: In ihrer sechsjährigen Existenz haben Japan den Opportunismus von Kritikern in besonders krasser Form erfahren. Anfangs wurden sie verspottet — dann, fünf Minuten bevor sie das Handtuch warfen, lobte man sie in den Himmel.

Mit der Publikumsgunst ging es ihnen nicht besser: Es war ein langer Kampf um die Akzeptanz bei der Masse — und als es dann endlich soweit war, entschied Vordenker David Sylvian, daß Ruhm hohl und unbedeutend sei. Er löste die Gruppe auf. Wie Aasgeier kreisten ehemalige Konkurrenten um Japan’s Ruinen. Die Bandmitglieder wurden mit Angeboten überhäuft, doch sie schlugen sie alle aus. Mit geradezu heroischer Verachtung für die lukrativen Offerten versagte sich Bassist und Saxophonist Mick Kam die Chance, mit Pete Townshend. Phil Collins, Joan Armatrading und Peter Frampton zu arbeiten. Er hatte anderes im Sinn. Er wollte an seiner Skulptur arbeiten. Er heuerte in einer Gießerei an und lernte, seine Arbeiten in verschiedenen Metallen auszuführen. Die Popmusik konnte warten.

Sänger Sylvian dachte ähnlich. Seine Fotoausstellung namens „Perspectives“ wurde in London. Mailand. Turin und Tokyo gezeigt. Sylvians Bruder, der Schlagzeuger Steve Jansen, und der Keyboarder Richard Barbieri gingen nach Japan (in das Land, wo die Gruppe Japan sinnigerweise am populärsten war), um in aller Abgeschiedenheit Filmmusik zu schreiben.

Weder Sylvian noch Barbieri sind seit 1982 live aufgetreten. Mick Karn ließ sich fünf Jahre Zeit, bevor er mit dem Jazzgitarristen David Torn ein paar kleinere Tourneen machte. Einzig Steve Jansen ist mehr oder minder regelmäßig aufgetreten. Jedes Jahr tourt er mit seinem alten Freund Yukihiro Takahashi vom Yellow Magic Orchestra durch Japan.

Die Wiedervereinigung fand im Studio statt

Im Studio aber haben die ehemaligen Japan-Mitglieder wieder ihre Kräfte gesammelt und sich in verschiedenen Kombinationen neu gruppiert. Sylvian und Jansen spielen mit Karn. Barbieri und Jansen nehmen als The Dolphin Brothers auf. Jansen und Barbieri wirken auf Sylvians Platten mit. Eine verzwickte Geschichte, die sich 1987 mit drei der kreativsten Alben des Jahres voll auszahlte: David Sylvians SECRET OF THE BEEHIVE. Mick Karns DREAMS OF REASON PRODUCE MONSTERS und The Dolphin Brother’s CATCH THE FALL allesamt exotische Platten im positivsten Sinne: bemerkenswert ungewöhnlich und sonderbar fesselnd.

Es ist, als ob diese Männer still und heimlich ein neues Genre erfunden hätten — eine neue Art, mit Musik umzugehen. Ein Paar hilflose Kritiker haben versucht, ihnen das Etikett New Age aufzukleben, aber das hält nicht. Diese Musiker sprechen zu viele Emotionen an, um so nachlässig in eine Schublade gelegt zu werden. Ihre Songs drehen sich um Gefühle, und nicht um irgendeinen weltflüchtigen Transzendentalismus…

Ich gehe in der Zeit zurück und höre mir die erste Japan- Single „Adolescent Sex“ von 1978 an. Grauenhaft! Mit selbstzerstörerischer Offenheit singt Sylvian .. Wir sind auch bloß so ein Hype“. Damals sah er noch wie ein skandinavischer Transvestit aus, mit wasserstoffblonden Haaren und dickem Make-up. Das einzige, was sich von diesen Glam-Rock Tagen gehalten hat, ist Mick Karns Angewohnheit, sich die Augenbrauen zu rasieren.

Ansonsten ist die Coolness, die sie heute zur Schau tragen, erheblich unverkrampfter. Lange vorbei sind die Tage, wo Manager Simon Napier Bell (der uns später mit Wham! beglückte) Sylvian als den „schönsten Jungen im Pop! Das Gesicht von Monroe und den Körper von Sinatra!“ verkaufte.

Es ist unmöglich, den Sylvian von damals mit dem von heute zu vergleichen: ein introvertierter, bebrillter, sensibler Erwachsener, der in einem Interview lieber über moderne Poesie diskutiert, als über sich selbst zu reden. Konnte dieser Mann wirklich jemals Popstar werden wollen?

„Damals dachte ich“, seufzt er, „daß Berühmtheit ein Weg wäre, aus meiner Umgebung herauszukommen.“ (Japan stammen alle aus dem farblosen Londoner Vorort Catford.) „Aber auch als Popstar mußte ich ein falsches Image aufbauen, um überhaupt den Mut zu haben, auf die Bühne zu gehen und Musik zu präsentieren. Ich habe mich hinter dieser Person geradezu versteckt. Nach ein paar Jahren habe ich dann gemerkt, daß ich Material schrieb, das zum Image paßte. Mit meiner eigentlichen Person hatte das nichts mehr zu tun.“

Mit dem dritten Album QUIET LIFE begann er eine langsame Revolution gegen das Frankenstein-Monster, das er geschaffen hatte. Und mit der Musik von Japan ging es sprunghaft bergauf. Für mich klingt das Live Doppel-Album OIL ON CANVAS immer noch außergewöhnlich gut, auch wenn Sylvian es nicht mehr hören kann. „Es ist noch immer zu gestylt. Zu künstlich.

Wir wollten die kreischenden Fans loswerden

Ich behaupte nicht, daß irgendwas von dem, was ich seither geschrieben habe, geniale Musik ist; aber wenigstens kann ich sagen, daß alles so ehrlich ist, wie ich es nur machen kann … der direkte Ausdruck meiner Erfahrungen. Ich versuche nicht, es in eine kommerzielle oder gar unterhaltsame Richtung zu lenken. Und natürlich schrumpft mein Publikum von Jahr zu Jahr!“

Er lacht. „Das ist aber völlig okay. Als Japan auseinanderging, haben wir alles darangesetzt, gewisse Teile unseres Publikums abzuschütteln. Wir wollten die modischen Schnösel und die kreischenden Teenager loswerden. Natürlich hoffe ich. daß ich gleichzeitig andere, qualifiziertere Hörer gewinne. „

Die Kamikaze-Einstellung kann sich Sylvian natürlich eher leisten als seine alten Partner. Als Schreiber des überwiegenden Japan-Materials kassierte er die gesamten Tantiemen. Die Dolphin Brothers und Mick Kam bewegen sich existentiell schon eher auf Messers Schneide.

Kam, der gezwungen war, sich mit dem kommerziellen Fehlschlag seiner ersten Solo-LP TITLES auseinanderzusetzen, berief 1985 eine Vollversammlung ein. „Ich dachte, es wäre vielleicht Zeit, Japan wieder auferstehen zu lassen. Aber die anderen Jungs lehnten alle ab.

Ihre Entscheidung war letztlich aber eine Erleichterung für mich, wirklich! Daß auch Richard und Steve nein sagten, gab mir einen Tritt in den Arsch. Ich war beeindruckt. Ich dachte: Sie haben recht. Nicht auf allen Lorbeeren ausruhen! Vorwärts!“

Kam war Japans extrovertierteste Komponente, sowohl visuell als auch musikalisch. Er entwickelte einen höchst eigenwilligen Baß-Stil, in dem jede Note verwaschen und verwischt wirkt. (Es ist keine Überraschung, daß er auch Maler und Bildhauer ist; er modelliert und schraffiert seine Musik auf eine sehr plastische, malerische Art.) Der Weg, den er inzwischen mit DREAMS OF REASON PRODUCE MONSTERS eingeschlagen hat, ist allerdings weit sorgfältiger, überlegter. Es sieht so aus, als ob sich Sylvian zur Improvisation hin entwickelt, während Kam eine ganz andere Richtung einschlägt und vielleicht gar als Komponist im klassischen Sinn endet.

Privat ist er ein kommunikativer, gestenreicher Typ — auch wenn die Augenbrauen fehlen. In der Band haben sich alle mit Mick am besten verstanden. Sylvian ist lieber mit Mick zusammen als mit seinem Bruder. Steve Jansen geht’s genauso. Jansen und Barbieri treiben sich jede Woche mit Mick herum; Sylvian hingegen sehen sie vielleicht „zweimal im Jahr“.

Was das psychologische Make-up angeht, scheinen die Dolphin Brothers das genaue Gegenteil von David Sylvian zu sein. Beide Brothers sind Sportfans; Sylvian kann man sich kaum bei einem Fußballspiel vorstellen. Davids Tendenz zum Mystischen und Metaphysischen übersteigt das geistige Fassungsvermögen der Dolphin Brothers. Während Sylvian über „Sonnenschein durch turmhohe Bäume“ sinniert, findet man die Dolphin Brothers eher im nächsten Kasino, wo sie Blackjack und Poker spielen. Sie lieben Glücksspiele und hoffen insgeheim, daß das ein Weg ist, die Dolphin Brothers vorerst über Wasser zu halten. Richard Barbieri: „Ich hob so einen Typ im Flugzeug getroffen. Er war sturzbetrunken. Er hat mir ein System aufgeschrieben, wie ich mit Roulette gewinnen kann. Sehr kompliziert. Ich bin mir noch nicht im Klaren, ob das nur wieder so ein Verrückter war oder ob er tatsächlich was auf dem Kasten hatte.“

Begeistert über das Thema Glücksspiel schwatzend, klappen die Münder der beiden schlagartig zu, als ich auf die Musik zu sprechen komme. Sie können

oder wollen nicht darüber reden, wie ihre Musik entsteht.

Steve Jansen, größer, dunkler und dem Schönheitsideal mehr entsprechend als sein Bruder, versucht mir entgegenzukommen. „Richard und ich haben so lange zusammengearbeitet, daß wir uns wirklich nicht mehr darüber unterhalten, ob ein Stück gut ist oder nicht. Wir sind ohnehin fast immer einer Meinung.“

Er stimmt zu, daß die Musik der Dolphin Brothers sehr europäisch, filmreif und oft sehr melancholisch klingt — keine Frage, daß sie weit ab vom Pop-Mainstream ist; aber es ist ihm ein Rätsel, warum das so ist.

Immerhin stehen er und Richard nach wie vor auf Pop. Sie lieben Talk Talk, mögen die Talking Heads und Barbieri ist sogar Madonna-Fan (..auch wenn ich ihre Texte nicht mag“). Warum merkt man nichts von diesen Einflüssen auf ihren Platten?

David Sylvian ist das Maß aller Dinge

Die Antwort heißt wahrscheinlich David Sylvian. Er hat zu Japan-Zeiten sein eigenes Wertsystem in ihre jungen, leicht zu beeindruckenden Köpfe übertragen. Wahrscheinlich, daß sich die musikalischen Maßstäbe der Dolphin Brothers allesamt auf die Discographie von Japan beschränken.

Sylvian dazu: „Ich bin sicher, daß sie sich ganz natürlich von dem, was ich mache, entfernen werden. Bei Japan habe ich sie. glaube ich, sehr eingeschüchtert. Wir haben uns täglich gestritten.“

Während die Dolphins nach Eigenständigkeit suchen, steht Sylvian kurz davor, wieder auf die Bühne zu gehen. Er denkt an eine siebenköpfige Band, in der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch der Trompeter Mark Isham und der Gitarrist David Torn sein werden. Sie werden seine Songs spielen und improvisieren.

Inzwischen stapelt sich das Material. Da ist die Musik für ein Ballett namens „Kin“, die David für die Tänzerin Gaby Agis schrieb. Und da ist ein gemeinsames Album mit dem exzentrischen Kölner Holger Czukay. das Virgin im Frühjahr herausbringen wird. David Sylvian könnte eine Woche lang durchgehend spielen, ohne einen einzigen Japan-Song einbeziehen zu müssen.

Er hat das geschafft, was er sich so sehnlich wünschte: sich von seiner Vergangenheit freizuschwimmen.