Leidensgeschichte der O


Auf der Bühne ist Karen O eine naturgewaltige Sexgöttin, privat trinkt sie viel Ingwertee und schläft, so lange sie kann. Ihr Leben mit den Yeah Yeah Yeahs bringt sie immer wieder ans Ende ihrer Kräfte. Aber sie kann nicht aufhören. Frau O hat eine Mission: das Bild vom Rockstar zu bewahren.

Sie ging mal wieder durch die Hölle. Mit Ausnahme der unbeschwerten Aufnahmen zum Debüt FEVER TO TELL führt die Entstehung eines Albums der Yeah Yeah Yeahs deren Sängerin Karen O stets in tiefe Täler emotionaler Belastung. Als die New Yorker 2006 für ihr bis heute erfolgreichstes Album SHOW YOUR BONES im Studio standen, trennten sie sich fast. Karen O hat diese Phase rückblickend als „die dunkelsten Momente“ der Band abgespeichert. Auch für das Nachfolge-Album IT’S BLITZ!, für das die einstigen Art-Punks eine Wendung zum Synthie-Pop wagten, findet die 34-Jährige ähnliche Worte: „dunkle Zeiten“. Nachdem sich der Herstellungsprozess ihres Solo-Albums von 2009, dem Soundtrack zu Spike Jonzes Kinderbuchverfilmung „Wo die wilden Kerle wohnen“, für sie immerhin als „okay“ gestaltete, erlebte sie die Aufnahmen zum Ende April erscheinenden vierten Album der Yeah Yeah Yeahs, MOSQUITO, wieder als Martyrium.

„Anders als bei IT’S BLITZ!, wo wir fast das ganze Album im Studio schrieben und somit sehr lange Zeit aufeinander saßen, waren die Songs diesmal schon ziemlich fertig, als wir uns an die Aufnahmen machten. Es ging also etwas schneller“, sagt Karen O. „Aber wir werden uns und einander wohl immer quälen.“ Zum einen macht sie den Druck, der von außen auf der Band lastet, verantwortlich. Nachdem ihr Debüt 2003 mitten hinein in das Garagenrock-Revival explodierte, auf allen relevanten Jahresbestenlisten auftauchte und Karen O als First Lady der Szene etablierte, sind die Yeah Yeah Yeahs eine weitaus größere Band, als sie sich je erhofft hatten. Ursprünglich wollten die drei nur das kühle Armverschränker-Publikum der New Yorker Indie-Clubs aufwecken. Zum anderen sucht und findet Frau O die Ursachen für die komplizierten Workflows der Band auch bei sich: „Ich bin eine schüchterne Person, voller Selbstzweifel und Unsicherheiten.“ Sie sagt das mit sehr viel nervösem Lachen – und belegt damit ihre Behauptung.

Die Privatperson Karen Orzolek könnte sich kaum stärker von der sich auf der Bühne mit Bier überschüttenden und in Glasscherben suhlenden Frontsau, die sie als Karen O gibt, unterscheiden. Am 22. November 1978 als Tochter einer Koreanerin und eines Polen in Südkorea geboren, in der Kleinstadt Englewood, New Jersey, aufgewachsen, verbrachte sie eine in Hinblick auf ihr späteres Berufsleben auffällig unauffällige Jugend. „Es ist mir fast peinlich, wie brav ich als Mädchen war“, sagt sie. Ende der 90er-Jahre traf sie während ihrer Zeit auf dem Oberlin College in Ohio auf den Jazz-Schlagzeuger Brian Chase. Nach ihrem Umzug nach New York City begegnete ihr Gitarrist Nick Zinner in einer Bar. Schnell war klar, dass sie künstlerisch gleich ticken. Die beiden zogen in eine Williamsburger WG mit Mitgliedern der Indie-Rocker Metric. Zunächst stolperten sie etwas als Akustikduo Unitard herum, doch Karen wollte mehr. Sie wollte den Noise der Punk-Bands, die sie in Ohio so beeindruckt hatten. Sie holte Chase nach New York und die Yeah Yeah Yeahs waren geboren.

Die Welt schien auf sie gewartet zu haben: Bald nach ihren ersten Proben luden Bands der damaligen Stunde wie die Strokes und die White Stripes ins Vorprogramm. Doch nicht nur die Welt, auch Karen war bereit: Wie der Hulk aus Bruce Banner brach Karen O aus Karen Orzolek heraus, zerlegte über die Jahre Bühnen, Instrumentarium und Teile ihrer selbst. Karen O hatte Feuer gefangen und hinterließ viel verbrannte Erde. Ende des vergangenen Jahrzehnts schaltete sie dann auf Sparflamme um. Sie ging nach Los Angeles, wo sie die meiste Zeit „zu Hause herumlag“ und nur noch selten ausging. „Ich hatte einfach nicht mehr die Energien wie Brian und Nick. Ich zog mich nach Shows gleich ins Hotelzimmer zurück, trank meinen Ingwertee, ging ins Dampfbad und versuchte, so viel Schlaf wie möglich zu bekommen.“ Vor zwei Jahren zog sie nach New York zurück, ihre Schicksalsstadt. „Ich musste mich den Geistern meiner Vergangenheit stellen und – wie nicht anders zu erwarten – hat mich das in eine Persönlichkeitskrise gestürzt“, sagt sie mit ihrem Teenagerlachen. „Aber diese Zeit war für uns alle schwer: Nick musste gerade eine Trennung verarbeiten, wir waren alle ziemlich am Boden. Wir benutzten das Songschreiben als Therapie.“

Das funktionierte: MOSQUITO klingt allerdings nicht wie das Kind von Traurigkeit und Verunsicherung, das es hätte sein können. Die Vierte der Yeah Yeah Yeahs verbindet den Bass-Bumms von IT’S BLITZ! mit dem schmutzigen Rock der Anfangszeit. Opener „Sacrilege“ verwandelt sich in einen euphorischen Gospelchor, und auf dem von James Murphy produzierten „Buried Alive“ gelingt ein kleines Wunder: ein Rocksong mit einem Rap-Part – hier von Oldschool-Legende und Genre-Freak Kool Keith -, der nicht wahnsinnig nervt. MOSQUITO ist wie für den Frühling geschaffen. Und das trotz düsterer Songtitel wie dem eben erwähnten „Buried Alive“, „Under The Earth“, „Slave“ und „Despair“. „Ein paar der Songs schrieben wir in New Orleans. Auch Jahre nach der Katastrophe von Hurrikan Katrina ist die Stadt von einer schwarzen Gothic-Stimmung durchzogen. Die hat wohl auf die Namen abgefärbt, aber eigentlich sind das ja positive Songs“, erklärt Karen O.

Das einzige Ärgernis, das auf dem Album direkt und ohne jede Metapher aufgearbeitet wurde, sei die albumtitelgebende Mücke. Karen O: „Ich hasse Mücken. Warum gibt es nicht mehr Songs gegen sie?“. Spontan fallen uns da auch nur der bizarre Post-Morrison-Urlaubshit der Doors, „The Mosquito“ und „The Mosquito Song“ von den Queens Of The Stone Age ein. Wirklich nicht viel für 60 Jahre Rock’n’Roll. Aber wie geht Karen O mit der sommerlichen Bedrohung selbst um? „Ich warte, bis die Mücke vollgesogen ist, dann ist sie wie betäubt. Wenn ich sie in diesem Zustand zerdrücke, ist das für sie am fairsten, weil sie nicht viel davon mitbekommt und für mich auch, weil sie mir dann nicht mehr ständig davonfliegen kann.“

Das ausführlich diskutierte und von einer Mehrheit sich im Internet ausdrückender Fans abgelehnte Cover von MOSQUITO zeigt ein lilafarbenes Baby, das von einer übermächtigen Mücke festgehalten wird. Der Designer Beomsik Shimbe Shim gab dazu zu Protokoll: „Die Mücke repräsentiert für mich Karen – diesen kriegerähnlichen, weiblichen Rockstar.“

Eine weitere Maßnahme also, um die Kluft zwischen dem sensiblen Privatmenschen und dem mystifizierten Riot Grrrl Karen O zu vergrößern. Aber ist das der Weg? Ist es sinnvoll, eine schnell in Psychokrisen abgleitende Person in der Öffentlichkeit als diese 20-Meter-Frau darzustellen? Oder ist diese Ambivalenz gerade hilfreich, da in jedermanns Brust ach zwei Seelen schlagen und die schwache Karen Orzolek die starke Karen O ganz gut als Ventil gebrauchen kann? „Diese Künstlerfigur wird nur dann zu einem Problem, wenn ich umgeben von betrunkenen Jugendlichen bin, die denken, mit mir könne man endlos Party machen. Da habe ich dann Angst, die enttäuschen zu können“, sagt sie. Aber so oft bringt sie sich schließlich nicht mehr in Situationen, wo sie unversehens von Feierwütigen umzingelt wird. „Sonst komme ich mit diesen zwei Personen aber gut klar. Mir ist es als Künstlerin wichtig, Fans diese Projektionsfläche eines Rockstars zu bieten. Wo sind denn heute Bands, zu denen wir damals aufschauten, wie The Make-Up oder The Jon Spencer Blues Explosion? Ich sehe es als meinen Job an, den Rockstar an sich am Leben zu erhalten.“

Eine Aufgabe, die sich Karen O für MOSQUITO gestellt hat, war, den Sex in den Rock’n’Roll zurückzubringen. „Niemand ist heute mehr sexy, also wirklich sexy, aufregend sexy.“ Dafür, dass Karen O aufregend sexy wirken soll, sorgt Modedesignerin Christian Joy, eine enge Freundin. Karen ist ihr Lieblingsmodell. Seit Gründung der Yeah Yeah Yeahs ist sie für die teilweise monströse Bühnengarderobe der Sängerin zuständig. Jedes der Outfits ist genau auf den wilden Show-Charakter Karen O abgestimmt. Ein zunächst undankbarer Job, da Karen die aufwendig gestaltete Kleidung meist wie Wegwerfprodukte behandelte. „Am Anfang war das schon frustrierend“, gibt Joy zu, „wenn ich die Klamotten nach der Show bierbesudelt, zerrissen und voller Blutflecken zurückbekam. Aber dann nahm ich mir Yoko Onos Ansatz zu Herzen, wonach ein Kunstwerk sich laufend ändern müsse. Und natürlich sieht ein verschmiertes, durchlöchertes Kleid in einem Rock’n’Roll-Museum cooler aus als ein sauberes, frisch gebügeltes.“ Joys Geschick und Karen Os Gebaren näherten sich einander sukzessive an und ergaben im Lauf der Jahre einen unverwechselbaren Stil. Einen Stil, bei dem es laut Joy nie darum geht, „auf Teufel komm raus verrückt auszusehen“. Feuerspuckende BHs würden bei Karen nicht funktionieren. Ein kleiner Seitenhieb gegen die andere große, grelle New Yorkerin, Lady Gaga. Das sei nicht sexy.

Was sexy ist, unterliegt freilich individueller Deutungshoheit. Das US-amerikanische Musikmagazin „Spin“ wählte Karen O 2004 und 2005 zur „Sexgöttin des Jahres“, Konkurrenzblatt „Blender“ nahm sie 2006 in eine Liste von „Rock’s Hottest Women“ auf. 2010 kürte sie der britische „NME“ zur „heißesten Frau des Jahres“. Sogar ein Angebot vom „Playboy“, sich nackt ablichten zu lassen, erreichte sie schon. Sie hat abgelehnt. „Bei solchen Auszeichnungen und Anfragen laufe ich sofort rot an“, sagt sie. „Nicht, weil ich sie sexistisch finde, ein wesentlicher Bestandteil der Rockmusik ist für mich ja ihre Sexyness. Aber meine Selbstwahrnehmung könnte nicht weiter von diesem Image entfernt sein. Wenn ihr wüsstet, wie ich zu Hause herumrenne.“ Seit Kurzem trägt sie platinblondes Haar. Ihr natürliches Schwarz wächst schon wieder nach, allerdings sei sie schlicht zu faul zum Nachfärben. Sieht ja keiner. Was zählt, ist einzig die Bühne. Karen Os Interpretation von Rock’n’Roll basiert auf einem interpretierfähigen Image, einer Fantasie.

Kein Wunder, dass sie sich als Kind in die Bilderwelt ihres überlebensgroßen Vorbilds Michael Jackson hineinträumte. Im Video zu „Heads Will Roll“, der zweiten Single aus IT’S BLITZ!, verneigte sich die Band vor dem „King Of Pop“ – und ließ sich von ihm zerfleischen. Ein Tänzer, wie Jacko zur „Smooth Criminal“-Zeit mit Anzug gekleidet, sich aber, wie Jacko zur „Thriller“-Zeit schon in der Mutation zum Werwolf befindend, schindet mit seinen Moves Eindruck auf einem YYYs-Konzert, zerreißt dann aber seiner Natur entsprechend sowohl Gäste als auch Band; statt Blut strömt Konfetti aus den Körpern.

Als Jackson einen Monat nach der Videopremiere starb, machten umgehend Verschwörungstheorien ihren Lauf: Der Clip sei nach Jacksons „Blood On The Dancefloor“ der nächste Schritt gewesen, um die Welt auf den Tod des Königs vorzubereiten. Dazu haben die Yeah Yeah Yeahs einen Song namens „Isis“, benannt nach der ägyptischen Göttin des Todes, im Programm. Und Jacksons letzte Konzertreihe hätte den Namen „This Is It“ getragen – da steckt ja auch das „Isis“ drin. Ein Riesenquatsch, der aber – neben der Massenkompatibilität des Songs – half, die Band weiter in den Mainstream zu schieben. Schlüsselfiguren in der Unterhaltungsindustrie wurden so erstmals auf das Trio aufmerksam: Der Remix des kanadischen DJs A-Trak war ein internationaler Club-Hit, landete im Videospiel „DJ Hero 2“, wurde im Blockbusterfilm „Project X“ gespielt und stand bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe wieder mal in den deutschen Charts. Höhepunkt dieser Entwicklung war ein Mash-up des Stücks mit Jacksons „Thriller“ in der zweiten Staffel der supererfolgreichen US-amerikanischen Musicalsendung „Glee“. „Ich kam mir so unwürdig vor“, sagt Karen O. Niemand wird jemals auch nur in die Nähe von Michael Jackson kommen – und dann hörst du da deinen eigenen Song in seinen eingewickelt! Das war einer der verrücktesten Momente meines Lebens.“

Bald könnten weitere bislang unvorstellbare Momente Einzug in die Biografie der O halten. Denn mit der Langzeitwirkung von „Heads Will Roll“ und der Hitdichte von MOSQUITO könnten die Yeah Yeah Yeahs 2013 ihren endgültigen Durchbruch in die Heavy Rotations schaffen. Keine allzu angenehme Vorstellung für die Band, denn noch heißt ihr Arbeitgeber Universal Music – der Vertrag läuft planmäßig nach dem MOSQUITO-Zyklus aus, wird aber neu verhandelt – und der wird als Marktführer auf gesteigerte Nachfrage mit mehr Angebot reagieren. Das kann bedeuten: mehr Promo-Termine, mehr Interviews, mehr Shows. Und so sehr sich die Figur Karen O auf der Bühne verausgabt, in brachialen Tanzmanövern auch mal von der Bühne stürzt, sich erheblich an Kopf und Rücken verletzt, den Song dennoch zu Ende bringt, danach ins Krankenhaus gebracht wird und zwei Tage später im Rollstuhl auf die Bühne fährt, so sehr graut es ihr gerade vor den Folgen des vielen Unterwegsseins. „Gerade das Ende einer Tour stürzt mich regelmäßig in lange Depressionen, dieses Herunterkommen …“, sagt Karen O. „Auf einmal bist du wieder zu Hause und musst dich mit dir selbst konfrontieren, mit dem Alltag zurechtkommen. Keine meiner Stärken.“

Nach einem Gespräch wird klar, wie gut geeignet Karen O für die Komposition des „Wo die wilden Kerle wohnen“-Soundtracks war. Letztlich ist sie dem kleinen Max sehr ähnlich, wie er da ein unzufriedenes Leben in seinem Kinderzimmer fristet. Alle paar Jahre zieht sie sich ihren Wolfspelz an und erlebt die unglaublichsten Abenteuer in der großen weiten Welt. Hoffen wir, dass, wenn sie von der kräftezehrenden anstehenden Tour zurückkommt, wie im Buch das Essen auf sie wartet und noch warm ist.

Albumkritik S. 91, Covervisionen ME 4/13

Und sonst so?

Was die anderen beiden Yeahs in den vergangenen Jahren getrieben haben

Nick Zinner: Der Gitarrist verfolgte seine Zweitkarriere als Fotograf. Zuletzt stellte Zinner in New York und L. A. aus und war für die Werbekampagne von Lee Jeans für deren Winterkollektion 2011 verantwortlich. Er gehörte zu den Gästen, die Damon Albarn für die UK-Tour seines Projekts Africa Express versammelte, das afrikanische mit westlichen Musikern zusammenbrachte. Vor Kurzem wiedervereinigte er seine alte Band Challenge Of The Future für ein Benefizkonzert.

Brian Chase: Der Drummer kooperierte viel mit Experimentalmusikern wie dem Saxofonisten Seth Misterka, mit dem er 2010 das zweite gemeinsame Album THE SHAPE OF SOUND veröffentlichte. Bis 2009 spielte er im Line-up des Klezmer-Fusion-Ensembles The Sway Machinery.