Mariah Carey: Ave Mariah


Ist sie wirklich nichts weiter als eine Kopie von Whitney Houston. ME/Sounds-Korrespondent Wolf Kohl hatte beim Rendezvous in New York doch seine Zweifel.

Mariah Carey empfängt mich im typisch New Yorker Ambiente: im schummrigen Hinterzimmer eines italienischen Restaurants. Ihr Tisch steht genau gegenüber der Toilette: es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Außerdem wuseln ständig gestreßte Kellner auf dem Weg zur Küche vorbei, und aus den Beriesel-Lautsprechern sickert musikalischer Mantovani-Matsch.

Am Tisch gegenüber der Toilette sitzt eine 20jährige Sängerin mit wunderschönen, ernsten Augen. Sie möchte mir erzählen, wie alles anfing.

„Es war wie im Kino“, beschreibt Mariah Carey jenen Montag vor knapp zwei Jahren, als CBS-Boß Tommy Motiola sie aus heiterem Himmel anrief und ihr einen Plattenvertrag anbot. Das Timing war perfekt, sein Angebot kam keine Sekunde zu früh. Denn Mariah hatte ihre Ersparnisse vom letzten Job als Kellnerin aufgebraucht, und die Miete für die Wohnung, die sie sich mit drei Freundinnen teilte, war fällig. Da kam Mottolas Anruf gerade recht. Der Mann hatte kurz vorher auf einer Firmenparty Feuer gefangen. „Eine Freundin schleppte mich zu dieser Party“, erzählt Mariah mit einem verträumten Schimmer in ihren dunklen Augen. „Sie stellte mich Tommy vor: ,Das ist meine Freundin Mariah, sie singt.'“

Und die Freundin steckte dem CBS-Boß ein Demoband von Mariah zu. Der schob es auf der Nachhausefahrt gelangweilt in den Kassettenrecorder seines Wagens, meinte, eine zweite Whitney Houston singen zu hören, trat auf die Bremse und raste schnurstracks zurück zum CBS-Wolkenkratzer in der 52. Straße, wo die Party noch im vollen Gange war.

Manah Carey war jedoch schon nach Hause gegangen. Und auf der Tonbandkassette stand keine Telefonnummer.

Das nächste Wochenende in jenem denkwürdigen November 1988 verbrachte Mottola hektisch telefonierend. Am Montag hatte er endlich die Nummer, die er brauchte, um Mariah einen Vertrag anbieten zu können. Die ließ sich nicht lange überreden: „Seit ich fünf Jahre all war, wollte ich nichts anderes als Sängerin werden.“

Vielleicht liegt das in den Genen: Mariahs Mutter ist eine ehemalige Sängerin der New York Citv Opera und Gesangslehrerin. „Sie drängte mich nie zu einer Gesangskarriere“, sagt das Mädchen mit der markigen Stimme. „Abersie wußte, wiesehr ich Musik liebte. Wenn sie Opernrollen einstudierte, ahmte ich sie nach. Ich konnte außerdem jede Tonlage genau treffen und den Ton auch halten.“

Später ließ sie sich von den Platten von Stevie Wonder, Gladys Knight. AI Green oder Aretha Franklin dazu inspirieren, ihre eigenen Songs zu schreiben. Während die Klassenkameradinnen nach der Schule in der Eisdiele saßen und mit den Boys die ersten Hormonräusche auskosteten, blieb das brave Mädel daheim und komponierte Songs. Sie war eben von Anfang an eine reine, unschuldige Heldin – ein zarter Sing-Vogel, ein sensibles Schneewittchen des Showbiz.

Wen wundert’s da, daß Mariah jetzt allein mit ihren zwei siamesischen Katzen, die sie Ninja und Thompkins nennt, in einem Loft in Chelsea lebt und des nachts lieber auf dem Keyboard als auf einem Boyfriend herumklimpimpert? Mit ihr werden sich die Klatschreporter jedenfalls keinen Kaviar verdienen können. Da müssen sie sich wohl eher an Whitney Houston halten, die ja auch nicht grade ein Lotterleben führt.

Der gleiche antiseptisch cleane Romantizismus wie bei Whitney findet sich auch in Mariahs Balladen wie „Alone In Love“ oder „Love Takes Time“. Aber braucht die Welt wirklich noch eine zweite Whitney? „Ich betrachte es natürlich als Kompliment, mit ihr verglichen zu werden“, lächelt Manah irgendwie gequält. „Sie ist ein Superstar und eine großartige Sängerin. Man könnte mich ja immerhin auch mit weitaus schlechteren Sängerinnen vergleichen. Außerdem bin ich ja noch lange nicht so gut bekannt.“

Aber daran wird sich in absehbarer Zeit wohl auch nicht so viel ändern. Denn obwohl sie von ihrem Debütalbum bald zwei Millionen Kopien in den USA alleine verkaufte und obwohl die Single „Vision Of Love“, die am 11. Juni 1990 erschien, den ersten Platz der Charts erreichte, plant die Sängerin mit dem für jeden Videoclip idealen, unterkühlten SexAppeal und mit der Fünf-Oktaven-Stimme vorerst keine Tournee.

„Frühestens nach der nächsten Platte“, vertröstet sie. Bis dahin ist freilich noch viel Zeit, und es gilt nicht nur für CBS-Manager Mottola, die Cinderella-Story des Jahres 1990 gebührend auszuschlachten. Denn im Grunde läßt sich Mariah Carey nämlich gar nicht so leicht in eine bestimmte Schublade stecken.

„Wenn man mich sieht, hält man mich zunächst für eine Weiße. Aber wer meine Platte hört, meint zumeist, eine Schwarze singt. Sicher ist aber, daß ich nicht eine blonde Vollblut-Skandinavierin mit einer ungeheuer schwarzen Soul-Stimme bin.“

Immerhin waren die Eltern ihres Vaters „halb Venezolaner und halb ein Gemisch aus Indern und Schwarzen. Und meine Mutter ist ohnehin durch und durch irisch. “ Aber nicht zuletzt deshalb weiß Mariah Carey auch ganz genau: „Eine starke Soulstimme kommt vom Herzen und nicht von der Hautfarbe.“

Wen stört da noch der rege Publikumsverkehr zum stillen Örtchen in einem profanen italienischen Restaurant in New York mit Mantovani-Berieselung?