Mr. Wilsons große Schnauze


Ohne Stehaufmännchen Tony hätte es Factory, Hacienda und manches Spektakel mehr nie gegeben.

Tram-Haltestelle G-Mex, Treppe runter, über die Straße, da ist die Atlas Bar. „Ein historischer Ort“, heißt es im Barführer für Manchester: „Früher verkehrten hier die Köpfe der Hacienda.“ Auch eine Dekade danach führt in dieser Stadt kein Weg am Dance-Club Hacienda vorbei. Noch weniger am Plattenlabel Factory, in dessen Katalog die Hacienda mit Nummer Fac 51 eingetragen war. Ein Dutzend Jahre sind verstrichen, seit Factory an den Schulden erstickte, zehn, seit die Hacienda vor den Gangstern die Segel strich. Tony Wilson ist immer noch da. Er sitzt am Fenster der Atlas Bar, vor ihm aufgebaut die neuesten Mini-Gadgets der Kommunikationsindustrie. „Moment“, sagt er. „ich muß noch eine Mail schreiben. An Moby.“

Es grenzt an ein Wunder, daß sie noch miteinander reden – New Order, Wilson, Debbie Curtis, Vini Reilly, Happy Mondays und Mike Pickering. „Wir haben so viel durchgemacht zusammen“, sagt Wilson, „daß es unausweichlich ist, daß wir uns verbunden bleiben.“ Es begann 1976. Tony Wilson, ein Mann mit hemmungsloser Schnauze und Literaturstudium im Plus, war Moderator einer TV-Musiksendung . Ein Sex-Pistols-Konzert stellte seine Welt auf den Kopf. Es war das gleiche Konzert, das Peter Hook dazu bewog, den ersten Baß zu kaufen. Wilson olle sich ins Vertrauen des Fernseh-Bosses. Dererlaubte ihm. Punks ins Programm aufzunehmen als Punks als die Ausgeburt Satans galten. „Die Pistols kamen zwar aus London, aber ihre Haltung paßte besser zu Manchester“, sagt Wilson. „Manchester war näher am Punkgeist dran. Warsaw, The Slits, Buzzcocks im Electric Circus – das war die Essenz. „Wilson hatte geerbt. Er steckte alles in das Label Factory, das er zusammen mit Kumpel Alan Erasmus, Produzent Martin Hannett und Joy-Division-Manager Rob Gretton startete. Bald war auch Grafiker Peter Saville an Bord – ohne ihn wäre es nicht gegangen. Mit Konzepten, die Wilson bei Marx, Adorno, Foucault und den Monkees abgeguckt hatte, machte man sich daran. Manchester zum Zentrum des Universums umzubauen. Es klappte. Die Covers von Joy Division. Durutti Column. A Certain Ra-tio waren derart prägnant, reduziert und modern, daß sie keiner übersehen konnte. Rough Trade war das Heim verstiegener Musiker; Factory das Heim verstiegener Musiker, verstiegener Grafiker und verstiegener Geschäftspraktiken. Die Bands hatten keine Verträge, alles basierte auf Vertrauen.

Dann entdeckte Bernard Sumner die New Yorker Clubwelt. und Factory startete auch noch die Hacienda. Jahrelang pfiff der Club aus dem letzten Loch. Doch dann ging es los mit Acid-House. Kein Londoner Indie-Kid hätte sich in eine Disco begeben, in Manchester gab es diese Berührungsängste nicht. Erstens hatten New Order eh für Verwirrung gesorgt mit ihrer Fusion von Indie und Moroder. Zweitens schwärmten selbst Indie-Typen wie die Stone Roses von den Northern Soul-Discos, den nordenglischen Clubs, die ausschließlich harte Soul-Nummern aus den frühen 60s spielten. Unter der Führung von DJ Mike Pickering (später M Peoplel erlangte die Hacienda legendären Status. Wilson nahm die Happy Mondays unter Vertrag, die Acid mit Dance und Indie kombinierten. Durch deren Erfolg war es möglich, die Löcher im Budget etwas länger zu stopfen. Aber dann stürzten die Mondays ab und New Order hatten kein neues Album parat: Alles war vorbei. Im Dezember 1992 machte Factory Konkurs, zwei Jahre später die Hacienda.

Später ist ein Film über all das gedreht worden: „24 Hour Party People“ (2OO2), basierend auf dem Buch von Wilson: „Toller Film“, sagt der. „Toller Film. Viel besser als erwartet. Lauter Lügen. Aber das war abgemacht. Wenn die Wahl ist zwischen Wahrheit und Legende immer die Legende.“ Wilson hat – das rechnet man ihm hoch an – nie aufgegeben. Er reißt große Sprüche [„Für mich ist Factory ein intellektuelles, theoretisches Experiment in Sachen Kunst und Politik“], aber sein Herz ist am rechten Fleck. Seit 1992 führt er mit Partnerin Yvette „In The City“, eine Art Popkomm: „Es darf nicht alles aus London kommen. Warum wehren sich andere Provinzstätte nicht?“ Factory Records ist bei der vierten Inkarnation angelangt. Sie heißt F4 und kümmert sich vorerst um die Geschicke des HipHop-Quintettes Raw-T. Was ihn vorwärts treibe sei Enthusiasmus: „Es ist die Freude eines Gärtners, die Schösslinge wachsen zu sehen. Es gibt nichts Aufregenderes.“ Das Leben in der Musikindustrie sei überhaupt nicht streßig: „Traurig ist nur, dass Leute wie ich Fehler machen. Die Happy Mondays zum Beispiet. Ich hab Kokain gern, wie jeder Mensch – aber für mich ist es der Killer der Rockszene. Als Shaun Ryder anfing, Crack zu nehmen, waren wir überzeugt, das sei das Ende. Dann kamen Black Grape, und sie waren brilliant. ‚Scooter Girl’von Shaun solo – fantastisch. Wrong again!“

Sein nächstes Projekt sollte jedoch ein ganz unzweifelhafter Erfolg werden. Nach einigem hin und her soll die Verfilmung von Debbie Curtis’s Memoiren noch 2005 in Angriff genommen werden. Wilson ist als Co-Produzent dabei. „Wir haben als Autor die Nummer drei der wichtigsten britischen TV-Dramo-Produktionsfirma an Bord. Toller Typ. Total brillant. Und er lebt mit der Direktorin der Agentur zusammen.“ Selbstverständlich kommen sie alle aus Manchester. „Eine großartige Stadt“, sagt Wilson.

Ein Interview mit Tony Wilson gibt es unter www.musikexpress.de zu lesen.