Neil Young: Wilder Reiter


Neil Young ist und bleibt ein Querkopf. Er setzt Konzert-Besucher vor die Tür. Er geht nach zehn Jahren Pause wieder mit Crazy Horse für ein paar wilde Rückkopplungs-Orgien ins Studio. Und im Gespräch mit ME/Sounds-Mitarbeiter Peter Jebsen ist ihm eh alles scheißegal.

Das kann sich nur Neil Young leisten. Hätte es ein anderer Musiker gewagt, seiner multinationalen Plattenfirma ein Album wie RAGGED GLORY vorzulegen, hätte man ihn wahrscheinlich hochkant zur Tür hinausbefördert. Wüste Garagen-Bands mit brachialen Gitarren-Sounds, schrägen Harmonie-Gesängen und endlosen Rückkopplungen haben in der glattgebügelten Musikszene der 90er Jahre höchstens noch bei Independent-Labels eine Chance.

Oder ihr Chef heißt Neil Young. Der 44jährige Rock-Veteran tat sich für seine neue Platte nach zehn Jahren Trennung wieder mit Crazy Horse, seiner Lieblings-Begleitband, zusammen. Deshalb muß das seit langem angekündigte ARCHIVES-Projekt mal wieder warten: Mit einer CD- und einer Video-Zusammenstellung will Young die 25 Jahre seiner Karriere chronologisch dokumentieren.

Jetzt hat er aber erst einmal andere Prioritäten gesetzt. „Vorausgeplant war RAGGED GLORY nicht. Wir trafen uns erst einen Monat vor den Aufnahmen und entschieden uns sponlun, eine neue Platte aufzunehmen“, meint der Meister im Gespräch in einem Strandhotel in Malibu. Als Adjutanten hat er seine Mitstreiter von Crazy Horse mitgebracht: Billy Talbot (Baß), Frank Sampedro (Gitarre) und Ralph Molina (Schlagzeug) – ein Quartett, das auch außerhalb des Studios mit lärmender Launigkeit auftritt. Als während des Interviews das Zimmertelefon klingelt, meldet sich Frank Sampedro als italienischer Pizza-Bäcker und versucht, dem perplexen Anrufer eine Bestellung abzunehmen. Danach zerlegen die Vier den Apparat in seine Einzelteile, die sie in die Ecke feuern.

Ja. ja. das Leben eines Rockmusikers birgt doch immer wieder hübsch humorige Situationen, an denen zu partizipieren meist viel erfrischender ist als die übliche erkenntnisschwangere Sinnschürferei mit Basis und Überbau in kniffligen Frage-und-Antwort-Spielen.

Auch deutsche Konzertbesucher wurden schon Opfer von Youngs herzerfrischendem Humor, was der Künstler selbst zunächst aber bestreitet: „Ach, was – daran kann ich mich nicht erinnern.“ Doch ME/ Sounds sieht alles und hört alles und kommt deshalb nicht umhin konkret und schonungslos auf ein Konzert in Hamburg hinzuweisen, in dessen ohne Zweifel feuchtfröhlichem Verlauf die Zuschauer von der Bühne aus wie Pudel mit Bier begossen wurden. Solche Gedächtnisstützen lösen bei Young & Co. unbekümmertes, freudiges Gelächter aus, und gemeinsam setzen sie ihre Erinnerung in Gang: „Oh ja, damals hatten wir mit einem Typen aus dem Publikum Probleme.“

Zurück zum Ernst des Lebens: Das Album RAGGED GLORY nahmen Neil Young und Crazy Horse als erfahrenes Team, das sich seit knapp 25 Jahren kennt, fast im Blindflug auf. „Zwischen dem allerersten Treffen und der Ablieferung des Bandes lagen genau drei Monate,“ berichtet Neil. „Die eigentlichen Aufnahmen dauerten jedoch nur zweieinhalb Wochen.“ Und Billy ergänzt: „Ich glaube, das Geheimnis unseres Sounds liegt in der Improvisation, wir versuchen, die Songs so zu spielen, wie wir sie gerade fühlen – und nicht etwa exakt so, wie sie geschrieben wurden. Im Studio spielen wir live in einem Raum – deswegen klingt alles so roh.“

Kein Wunder, daß sich Neil Young noch immer mit der Punk-Szene der 70er Jahre musikalisch verwandt fühlt. „An der Punk-Bewegung gefielen mir vor allem die Vitalität und die Lebenseinstellung, weniger die Musik einer bestimmten Band. Es war richtiger Rock’n’Roll – so wie damals, als Buffalo Springfield, die Rolling Stones oder die Doors anfingen.“

Als akustische Abrundung der digital aufgenommenen, abgemischten und gemasterten Primitiv-Sounds von RAGGED GLORY („schäbige Pracht“) schwingt fast jeder Song mit einer ellenlangen Gitarrenrückkopplung aus. Was will uns Neil Young damit sagen? „Die Rückkopplung hat normalerweise nie eine Chance. Bei uns aber soll sie den Gaumen für den nächsten ,Gang‘ freimachen“, erklärt Neil, und Billy Talbot fügt hinzu: „Der lange Ausklang hilft dir, dich aufs nächste Stück einzustellen. In Sushi-Restaurants gibt es zu diesem Zweck zwischen den einzelnen Fischsorten ein bißchen Ingwer.“

Neben den Rückkopplungen macht Crazy Horse auch sonst viel Lärm. Ein amerikanischer Kritiker mutmaßte deshalb. Neil Youngs Rumpel-Rock beruhe zwar manchmal auf Absicht, meistens aber auf bloßer Schlamperei. Diese Meinung erntet allgemeines Gelächter. „Mir ist es scheißegal, wie man unsere Musik beschreibt“, stellt Young klar. „Wenn unsere Ungeschliffenheit funktioniert, nennt man es Absicht. Wenn sie in die Hose geht, war’s angeblich bloß Schlamperei. „

Seine Texte schreibt Young mit ähnlich lockerer Einstellung: „Ich will vorher nicht über das nachdenken, was ich schreiben werde. Denn wenn ich erst mal angefangen habe, führt sowieso ein Wort zum anderen. Das entspringt alles meinem Unterbewußtsein. “ Daher läßt er sich auch nicht auf inhaltliche Diskussionen ein – weder über seine Songaussagen, noch über frühere Statements in Interviews, wegen denen er auch schon mal Kritik einstecken mußte. „Wenn ich mich zu AIDS oder zum Drogenproblem äußere, dann spreche ich wie ein einfacher Mann von der Straße. Mehr Ahnung habe ich nämlich auch nicht. Du kannst es ja als Äußerungen eines Hohlkopfs abtun.“ Und schon im nächsten Atemzug rechtfertigt er seine Sympathie für den amerikanischen Ex-Präsidenten Ronald Reagan: „Nicht alles, was er gesagt hat, war fürchterlich – einiges ergab durchaus Sinn. Aber die Debatte über meine Statements zeigt nur, wie lächerlich die Medien vorgehen, die mich sogar als Reagan-Fan brandmarkten. „

Ein weiteres kontroverses Thema liegt Neil Young auch heute noch am Herzen: der Streit um das Video zu seinem Song „This Note’s For You“, der sich gegen Industrie-Sponsoring in der Rock-Musik wandte. Wegen der Persiflagen auf werbetreibende Musiker wie Michael Jackson und Whitney Houston boykottierte der amerikanische Videokanal MTV den Clip. Das wiederum inspirierte Young zu seinem neuen Song „Days That Used To Be“: „Dieses Stück schrieb ich vor zwei Jahren in meinem Segelboot auf dem Weg nach Hawaii. Denn nach zehn Tagen auf hoher See erfuhr ich über Funk, daß MW mein Video nicht spielen wollte. Ich wunderte mich sehr und grübelte über meinen Platz im Musik-Business nach. Früher war diese Industrie lediglich eine schleimige Eidechse – heute ist sie ein verdammt großer, fetter Dinosaurier. Und genau darum geht es im Text von ‚Days That Used To Be‘. „Neil wird nie. so betont er. für irgendwas Reklame machen – „weil ich mich dabei wie ein Arschloch fühlen würde. Viele Kids fangen heutzutage in einer Band an – aber nicht etwa weil sie Rock ’n Roll spielen wollen. Sie sagen sich: Eines Tages werde auch ich einen Pepsi-Werbespot aufnehmen.“

Neil Young hat mal wieder die Zukunft der Rockmusik gesehen.