No Sleep Till Rostock


16 HARTE UND KOMPROMISSLOSE JAHRE GINGEN AUCH AN DEN METAL-MANIACS VON MOTÖRHEAD NICHT SPURLOS VORÜBER. ALLZU EXZESSIVE ORGIEN UND GEFÄHRLICHE DROGEN STEHEN DESHALB AUF DEM INDEX, WENN SICH DIE TRUPPE JETZT AUF OCHSEN-TOUR IN DIE DEUTSCHEN OSTGEBIETE BEGIBT. EIN BRAVER AUSFLUG MIT KREATIVEN SONNTAGSSCHÜLERN WIRD DIESER LIVE-TRIP DENNOCH NICHT. ME/SOUNDS-REDAKTEUR ANDREAS KRAATZ KONNTE SICH BEI DEN DREHARBEITEN EINES MOTÖRHEAD-VIDEOS DAVON ÜBER-ZEUGEN, DASS LEMMY UND SEINE BANDE NOCH LANGE NICHT SCHLAPPMACHEN.

Nachmittags um Vier ist für Lemmy die Welt noch in Ordnung. Leidlich ausgeschlafen, den zur Korpulenz neigenden Körper in die seit Jahren gleichen, ungewaschenen schwarzen Jeans gezwängt, einem winzigen Pappkoffer von anno Tabak in der Hand — so inspiziert Lemmv, mit jedem Zentimeter seines abgehärteten Körpers gewachsenes Urgestein des Heavy Metal, die Arena des Deutschen Museums in München. Um Punkt sechs Uhr soll hier die Video-Produktion steigen. Der grimmige Blick, mit dem Leinmy in die Runde blickt, ist allerdings pure Maske. Denn er hat allen Grund zur Freude: Das aktuelle Motörhead-Album mit dem kryptischen Titel 1916 rangiert hoch in den Charts, die neue Plattenfirma macht mächtig Dampf, und das neue Management halt die Band eisern auf Kurs.

Da gerät selbst ein abgebrühter Metal-Maniac ins Schwärmen, wenn auch mit einer winzigen Träne im Knopfloch: „Endlich können wir mal so richtig aus dem Vollen schöpfen und müssen nicht um jede müde Mark betteln. Noch vor wenigen Jahren haben wir am Hungertuch genagt, weil einfach kaum Kohle da war — jedenfalls nie genug, um davon auch nur einigermaßen vernünftig leben zu können. Nur mit unzähligen Live-Konzerten konnten wir uns halbwegs über Wasser halten. An eine aufwendige Video-Produktion wie diese war nicht mal im Traum zu denken.“ So resümiert der 45jährige Engländer, der vor gut einem Jahr seinen Wohnsitz von London nach Los Angeles verlegt hat und nunmehr „in einer Wohnung gleich gegenüber von dieser berüchtigten Musiker-Tränke namens Rainbow“ residiert.

Und weil er schon mal in Erinnerungen schwelgt, wühlt Ian „Lernim“ Kilmi ster gleich noch ein billchen tiefer in der nicht immer rosigen Vergangenheit von Motörhead Der Motor im internationalen Metal verdank übrigens seinen Namen einem Song, den Lern my Anfang der 70er Jahre seinen damaligen Genossen von Hawkwind widmete – „Motörhead sieht fiir Speed-Freak“.

Doch der Geschwindigkeitsrausch war zunächst von kurzer Dauer; der Motor kam trotz allen Speeds und weltweiter Popularität ab 1981, nach der Live-LP NO SLEEP TIL HAMMERSMITH, immer mehr ins Stottern und lief zuletzt nur noch, so schien’s, auf dem letzten Zylinder.

In solch schlechten Zeiten machte Mister Kilmister seinen Spitznamen alle Ehre: Lemmy ist das Kürzel für „lemme a fiver“ — leih mir mal ’nen Fünfer. Aber wenn die Nacht am tiefsten, ist der Tag am nächsten — und so schafften es auch Lemmy und seine Kumpels Michael Wurzel Burston, Phil Wizzö Campbell und Philthy Animal Taylor, sich schließlich doch noch aus eigener Kraft aus der Misere zu hieven.

„Als ich die Band 1975 au) die Beine stellte, gab ich ihr gerade mal zwei Monate zum Überleben“, sinniert Lemmy schlitzohrig. „Inzwischen feiern wir unser löjähriges Band-Jubiläum. Wir sind also schon länger am Ball als die Beatles oder The Wim, und wir haben sogar schon das Tausendjährige Reich um vier Jahre übertroffen.“

Acht hochmoderne Kameras und die Aufnahme-Crew, die vor der leeren Bühne herumwuselt, holen Lemmy nach 1004 Jahren wieder in die Gegenwart zurück. Denn die Zeit drängt. Mit enormem Aufwand, der für die bislang eher spartanischen Motörhead-Verhaltmsse geradezu gigantomanisch wirkt, soll ein Promo-Clip zur aktuellen Single“.Angel City“ entstehen. Außerdem wird eine 90 Minuten lange Video-Dokumentation der laufenden Tournee gedreht. Noch vor zwei, drei Jahren hätte sich Motörhead allenfalls eine mickrige Pocket-Kamera leisten können — doch dank des neuerlichen Erfolgs und der weltweit entstandenen Video-Manie muß jetzt alles zumindest den Anschein totaler Professionalität erwecken.

Sogar ein waschechter Video-Regisseur ist mit von der Partie. Jeb Brien ist ein Bilderbuch-Amerikaner, der es selbst unter Streß mit der Devise „keep smiling“ zu halten scheint. Jeb tritt smart wie ein Kleenex-Tuch auf und wurde jüngst erst für sein Video zu Mariah Careys Hit „Vision Of Love“ mit Preis und Lob bedacht. Jeb, der Liebes-Visionär. ist bereits voll auf Touren: Er wieselt durch die Halle, um seine Anweisungen zu geben; er diskutiert mit der Video-Crew, und er kontrolliert die Monitore der einzelnen Kameras. Die Musiker indes beeindruckt solche Geschäftigkeit nicht: Sie machen einen auf lau und glänzen vorerst, Lemmy ausgenommen, durch Abwesenheit. Offensichtlich hat dem Video-Dompteur keiner gesteckt, daß er’s hier nicht mit pflegeleichten Poppern, sondern mit modernen Raubrittern des Metal zu tun hat, die nach keiner fremden Pfeife tanzen.

Tanzen — und vor allem Headbangen, was die Birne hält — wollen in erster Linie jene 150 handverlesenen Motörhead-Fans, die sich vor der verwaisten Bühne lautstark breitmachen und auf ihren Einsatz als Statisten im Promo-Video warten. Zuvor muß sich Gitarrist Phil Campbell, der gerade eingetroffen ist, aber erst noch von seinem blonden Schwärm und deren Kind verabschieden. „Den Phil dreht jede um den Finger“ — kommentiert Lemmy die innige Trennungs-Szene. „Diese Blondine fiel ihm gestern Abend, kaum daß wir in München ankamen, gleich in die Arme und gab kund, sie wolle von nun an für ihn sorgen. Wer sich da um wen kümmerte, das ging am Ende aus der Getränke-Rechnung hervor, die der gute Phil berappen mußte — über 800 Deutschmark durfte er für den Spaß abdrücken.“

So etwas könnte Lemmy nicht mehr passieren. Er, der ewig klamm ist. der sich in den 60er Jahren seinen kargen Lebensunterhalt als Dope- und Speed-Dealer in London verdiente und dafür

auch prompt zweimal eingebuchtet wurde, meidet inzwischen alle Drogen und auch die Groupies mit dem Sozialarbeiter-Tick wie der Teufel das Weihwasser. Wenn überhaupt, dann legt er sein Geld lieber in flüssiger Form an: Vor dem Beginn jeder Tournee hortet er Batterien von Jack-Daniels-Flaschen. Und das restliche Kleingeld steckt er in seinen über alles geliebten Spielautomaten, der wenigstens etwas Farbe in seine ansonsten triste Umkleidekabine bringt. Lemmy lebt jetzt relativ gesund, denn „früher stand ich nach jeder Tour kurz vorm Herzinfarkt, weil ich permanent irgendwelches Zeug ohne Rücksicht auf Verluste in mich hineingepumpt habe. Und früher war’s einfach auch an der Tagesordnung, daß man jedes Küken geknallt hui, das einen anhimmelte. Doch heutzutage, wo uns der liebe Gott mit einer Seuche namens Aids fürs einstige Lotterleben straft, schaue ich lieber zweimal hin, bevor ich mit einer Frau anbandele. „

Mag sein, daß Lemmy aus den Exzessen früherer Jahre für sich die Konsequenzen gezogen hat und deshalb die anstehende Tournee, die den Motörhead-Tross auch in die Diaspora der deutschen Ostgebiete bis hinauf zum Ostseehafen Rostock fuhren wird, mit gebremstem Hang zum Übermut angehen will. Und auch Drummer Phil Taylor scheint sich vom exzessiven Saulus zum sensiblen Paulus gewandelt zu haben: Er sitzt still in der Ecke und liest ein Buch. Immerhin ist es eine Horror-Story — und zwar von Taylors Lieblingsautor Peter Sträub, einem Kollegen von Stephen King. Sieht so ein „Philthy Animal“ aus. das sich auf den näherrückenden Video-Dreh und das anschließende Konzert vorbereitet? Selbst Wurzel geht in sich und scheint still vor sich hin zu meditieren. Und noch immer ist kein Groupie weit und breit in Sicht, kündigt sich keine Orgie an — warten solche Exzesse womöglich in Rostock auf unsere Helden, die einst berüchtigt dafür waren, daß sie bei jeder Gelegenheit spontan aus der Rolle fielen? Oder wandeln die Metal-Senioren mittlerweile als brave Buben tatsächlich auf dem Pfad der Tugend?

Solche Befürchtungen erweisen sich um Punkt sechs Uhr zum Glück dann doch als weitgehend spekulativ. Denn kaum beginnen die Video-Kameras zu surren, verwandeln sich Lemmy und seine Bande in vor Blutrunst berstende Berserker und legen eine derart dröhnende Sohle aufs Parkett, daß den als Statisten geladenen Fans das Bier in den Adern schwappt und der Video-Crew das Blut in denselben stockt. Und Lemmy darf den quälenden Genuß des Lasters wie in alten Zeiten bis zur Neige auskosten: Gleich dreimal muß er seine mit Marlboro geteerte Raucherlunge zum Playback mit Glimmstengeln strapazieren, bevor das Video zu „Angel City“ endlich im Kasten ist und sich Regisseur Jeb Brien zufrieden den Schweiß von der Stirn wischt. Aber der echte Streß steht dem guten Mann noch bevor: wenn Abend für Abend das Material für die Tournee-Dokumentation gedreht wird. Ein detailliertes Konzept hierfür existiert selbstverständlich nicht, noch nicht mal eine konkrete Idee für die Umsetzung, geschweige denn ein Skript. Denn bei Motörhead herrscht nach wie vor das Prinzip „Action“. Alles weitere muß sich von selbst ergeben, findet Lemmy: „Ich hasse langatmige Proben — ob als Vorbereitung auf eine Tour oder für ein Video.

Wir haben in den 16 Jahren unserer Karriere noch nie nach Plan gehandelt. Wir sind nun mal ein paar faule Vögel, die sich auf der Bühne am wohlsien ßhlen.“

Und schließlieh meldet er Bedenken an, ob ein Tour-Video überhaupt dem sinnlichen Erlebnis einer Motörhead-Performance vollauf gerecht werden kann. Denn, so meint Lemmy, um einen angemessenen Eindruck vom Treiben der dienstältesten Metal-Band der Welt zu vermitteln, müßte das Tour-Video für den Hausgebrauch vorsorglich mit speziellen Duftstoffen imprägniert werden:

„Ich stehe für gewöhnlich drei Wochen lang in denselben stinkenden Socken auf der Bühne, und das müßte auch zuhause beim Zuschauer /überkommen. “ Höchsten Respekt zollt er deshalb allen Fans, die in die Konzerte kommen: „Kein einziger Zuschauer hat bisher auch nur einmal die Nase geriimpfi. Das nenne ich Treue. Und diese Treue entschädigt mich immer wieder für den Schwachsinn, den ich ansonsten im Musik-Business ertragen muß.“