Pere Ubu


In einer ausführlichen Rezension der LP "The Modern Dance" stellte Harald Inhülsen die Gruppe Pere Ubu bereits im ME 5/78 vor. In Amsterdam sah er die Musiker aus der Industriemetropole Cleveland/Ohio nun live und unterhielt sich mit ihnen über ihre Musik, die von der überwältigenden Optik industrieller Konstruktionen geprägt ist.

Himmel-Fahrt. Pere Ubu im legendären Paradiso in Amsterdam. Auf der Fahrt dorthin: die Grenze. Die Zollbeamten filzen mich von oben bis unten, notieren sich die Daten meines Personalausweises, geben sie in den Computer. Warten. Data Panik im Jahr 78. „Data Panik In The Year Zero“ ist der Titel der letzten Platte von Pere Ubu (auf Radar). Das Jahr Null im Jahre 78!

Pere Ubu kommen aus der Industrie-Metropole Geveland/Ohio und be/ver/arbeiten in ihrer Musik Bilder/Töne der Umgebung/Umwelt. Sie machen moderne/neue Musik, die geprägt wird von einem stotternden/murmelnden/sich überschlagenden Gesang teilweise überlagert von stechend/zischenden Synthesizer-Wogen und einem wimmernden Horn. Dazu ein rhythmischer, sehr harter Sound von Baß und Schlagzeug. Moderne/neue Musik, das ist Musik der Gegenwart, Musik, die zu den Bildern/ Tönen der endsiebziger Jahre paßt.

Die Gruppe entstand 1975, benannt nach einer Figur aus der Literatur des Franzosen Alfred Jarry. David Thomas alias Crocus Behemoth (Gesang), Peter Laughner (Gitarre/Klavier), Tom Herman (Gitarre), Tim Wright (Baß), Scott Krauss (Schlagzeug) und Allen Ravenstine (Synthesizer) nahmen im selben Jahr den Wahnsinns-Trip „30 Seconds Over Tokyo/Heart of Darkness“ auf, der mit dem chaotischen Aufschrei „… there’s no turning back on this suicide ride“ endet. Visionen, die für Peter Laughner brutale Realität wurden: er starb zwei Jahre später an den Folgen seines ungeheuren Alkoholkonsums. Crocus: „Er war ein sehr talentierter Musiker und Künstler. Er war aber auch ein Narr, und dieser Narr hat ihn umgebracht.“

Es geht los

Diese Single erschien auf dem Pere Ubu-eigenen „Hearthan“-Label. 1976 kam die zweite Platte: „Final Solution/Cloud 149“ heraus (ebenfalls Harthan-Records). Dave Taylor spielte jetzt den Synthesizer, da Allen nicht sicher war, ob er seinen Synthesizer-Sound auch live bringen konnte. Im Juni 76 entschied sich Allen, daß er’s doch kann, und Tim Wright wurde durch Tony Maimone am Baß ersetzt. Peter Laughner verließ Pere Ubu, um eine eigene Gruppe zu gründen: Peter And The Wolf und um wieder als Rock-Kritiker tätig zu sein.

1977 erschienen zwei weitere Singles: „Street Waves/My Dark Ages“ und „Modern Dance/Heaven“. „My Dark Ages“ ist ein beißendes Stück über jugendliche Frustrationen im Großstadtdickicht: „Night in the city where the air can shine/we’ll drive around and we’ll fall in love/and things ’11 be alright/and I don’t get around/and I don’t fall in love… much/I don’t get around and I don’t fall in love much.“

Die Typen

1978: „The Modern Dance“, das Album. Eine Tour durch den Osten der Staaten mit einem Auftritt im New Yorker CBGB; Crocus: „Dorthin kamen hauptsächlich die Long Island Typen das ist ein Ausdruck für ganz normale Leute.“ Normal das sind Pere Ubu auch, sie sehen aus wie der Mann von der Straße: Angestellte/Arbeiter (nur Allen erinnert an einen Späthippie); und sie alle hatten auch ihre Jobs, die sie dann verlassen haben, um auf Tournee gehen zu können. Crocus und Scott verkauften Platten, Tom war Qualitätsprüfer in einer der vielen Fabriken Clevelands, Tony mixte Drinks in einer Bar und Allen war und bleibt Besitzer des Plaza, einem Apartmenthaus, in dem Musiker, Schriftsteller und Künstler wohnen.

Für Pere Ubu und all die anderen Cleveland-Gruppen, die nicht die Top 40 vorwärts und rückwärts spielen, gibt es nur eine Möglichkeit, aufzutreten: im Drome, einem Plattenshop, der gleichzeitig das Media-Center der Stadt ist. Eine Nacht lang pro Woche spielen hier Clevelands Undergroundbands neben Pere Ubu sind das Lucky Pierre, Styrene Money, Johnny & The Dicks die anderen Abende gibt’s Country & Western-Bands (uuuhhhhh!) Die Gruppen können im Drome üben, aufnehmen und mit Video experimentieren. Und das Publikum? „Die Leute sind sehr diszipliniert, weil Pere Ubu auf der Bühne sehr diszipliniert ist! Das Spektrum unserer Fans ist groß, es ist schwer zu sagen, da es für die Band keine Regeln und Grenzen gibt und somit auch für’s Publikum nicht. Zu jedem Konzert kommt eine total verkrüppelte Frau, ohne Arme, im Rollstuhl… Ingenieurstudenten, die Krawatten tragen und Nägel in ihren Taschen haben; Bauarbeiter einer unserer größten Fans ist der Vorarbeiter eines Bautrupps, der Frau und Kind hat. Viele bringen ihre Kinder mit, die stehen auf unserem Rhythmus!

Der Sound aus dem Stahlwerk

Da gibt es ein Kind namens Keith, das mit unserem Album ins Bett geht und all die Texte kennt. Im allgemeinen sind es praktisch veranlagte Menschen, nicht so sehr diese Leute vom College.“ (Crocus) Cleveland ist eine Industrielandschaft, und das Bild einer jeden Umgebung beeinflußt den Menschen. Industrie das bedeutet aber nicht Trostlosigkeit/ Leere, was die Musik von Pere Ubu beweist. Crocus sieht die Industrieanlagen/Cleveland als visuelles Phänomen, dessen Formen für ihn Kunst sind: „Wenn ich aus meinem Fenster sehe, blicke ich auf diese Stahlwerke, die in ihrer Form und Intensität für mich faszinierend sind. Ich kenne keinen lebenden Künstler, der so etwas kunstvolles wie ein Stahlwerk schaffen könnte.“

Schnitt. „Metropolis“ der expressionistische Film von Fritz Lang mit seinen bedrohlichen symbolhaften Formen der Maschinen und Fabriken: „Irgendwann wollen wir einen Soundtrack zu diesem Film machen; hinter einer transparenten Leinwand, auf die der Film projiziert wird, spielen wir live zu den Bildern.“ Aber auch ohne den Film kommt rüber, was Pere Ubu’s Musik ausdrückt. Ich erlebe es live im Paradiso in Amsterdam, einer ehemaligen Kirche, der ersten Station auf dem Kontinent im Verlauf einer Europatour.

Pere Ubu live

Die Pere Ubu-Menschen und die Maschinen/Instrumente stehen nun auf der Bühne und was ich erlebe, ist eines der lebendigsten / wechselvollsten Konzerte, die eine Gruppe geben kann. Musik, die uns wachklopft, die die konventionellen Grenzen der Rock-Musik ausdehnt: „Wir kümmern uns nicht um die musikalischen Regeln wir experimentieren mit dem Sound; das bedeutet jedoch nicht, daß wir eine Jamsession veranstalten. Jeder Song hat eine feste Struktur, die sehr wichtig für uns ist! Und in dieser Struktur, die wir bilden, gibt es Bereiche ohne Struktur, wie in „Street Waves“ zum Beispiel; daher hören sich die Songs auch jeden Abend anders an. Wir wollen spielen! Was mich betrifft, so weiß ich manchmal nicht mehr, was ich auf der Bühne mache ich hab sogar die dritte Zeile von „Final Solution“ vergessen.“ (Crocus) Pere Ubu live – das ist eine Einheit, die ihre eigene Logik, ihre eigene Musik schafft. Schlagzeug, Baß, Gitarre und Synthesizer oder Hörn spielen gleichzeitig eine andere Melodie, die sehr einfach ist und oft monoton wiederholt wird, doch gerade das Einfache und Monotone, das zu einem Ganzen ineinanderläuft, erzeugt die ungeheure Spannung. Ein aufregend/aufreibender Sound, der von den Musikern zu jeder Zeit kontrolliert wird. Allen ist in meinen Augen der Erste, der den Synthesizer als Instrument spielt und nicht einen anderen Sound reproduziert (d.h. den Sound eines anderen Instrumentes, was ja die meisten Synthesizer-Spieler tun). Auf der Bühne bewegt sich nur Crocus, holt einen Hammer hervor, mit dem er ein Metallrohr bearbeitet Schrott aus den Straßen Clevelands; er schlägt knüppelartige Zylinder aus Holz aufeinander und platzt mit seinem Gesang heraus. Zwischen den Songs geht er an den Bühnenrand und bedient sich seines Mundsprays oder fragt das Publikum: „Wollt ihr ein paar Kunststücke sehen?“ und jongliert dann mit den Holzzylindern. Manchmal steht er auch nur da, bewegt seinen Kopf ruckartig von links nach rechts und starrt in die Menge. Wenn er nicht singt, spielt er Horn; dann kommt auch Allen hinter seinem Synthesizer hervorgekrochen und bläst das zweite Horn. Und im Hintergrund immer wieder dieser harte schlagende Rhythmus. Aus dem Publikum dringen Rufe nach „30 Seconds“ und „Final Solution“ doch Crocus entgegnet gelassen: „OK, wir haben aufgehört, „30 Seconds“ zu spielen, weil’s uns keinen Spaß mehr macht. Es ist zu alt!“ „Final Solution“ gibt es dann als Zugabe. Nachher erzählt mir Crocus, daß sie „Final Solution“ lange Zeit nicht mehr gespielt haben, ‚weil’s auch langweilig wurde‘, bis dann Tony mit einem neuen Riff kam, das den Song verändert hat.

Veränderung Weiterentwicklung immer in Bewegung sein, das sind Kennzeichen der „Modernen Musik“ Pere Ubu’s, die weder besudelt noch einschläfert, sondern uns aufschreckt und vorantreibt.

… und weiter?

Im Herbst wollen Pere Ubu für eine ausgedehnte Tournee nach Europa kommen und endlich auch einige Konzerte in Deutschland geben. Vielleicht kann sich die Phonogram bis dahin entschließen, die LP „The Modern Dance“ (siehe Plattenkritik im ME 5/78) auch bei uns auf den Markt zu bringen. Wenigstens als Import.