Peter Gabriel: Atlantic Crossing


"Der Gabriel sitzt zuhause in der Ecke und ärgert sich fürchterlich." So wurde spekuliert, nachdem Genesis auch ohne ihren ehemaligen Sänger erfolgreich und selbstbewußt weiterexistierten. Doch der Gabriel hat sich nicht geärgert. Er hat Genesis tatsächlich als abgeschlossenes Kapitel betrachtet und in aller Ruhe neue Songs geschrieben. Und geduldig auf die richtigen Leute gewartet, mit denen er im rechten Moment wieder zuschlagen kann. Daß sein erstes Solo-Album nun fast gleichzeitig mit dem neuen Genesis-Opus auf den Markt kommt, ist nur ein - allerdings pikanter - Zufall.

Ein Mann, dessen Name mit Alice Cooper, Lou Reed und Kiss in einem Atemzug genannt wird, Bob Ezrin, produzierte die LP „Gabriel“ in Toronto. Peters Begleitmusiker, darunter Top-Sessionleute der amerikanischen Szene, kennen den Namen Genesis zum Teil nur vom Hörensagen. Drummer Alan Schwarzberg, der Perkussionist Jim Maelen, Keyboardmann Joey Chirowski und der Gitarrist Dick Wagner spielten früher für Alice Cooper. Bassist Tony Levin arbeitete für Paul Simon, Gitarrist Steve Hunter wirkte auf der Lou-Reed-LP „Rock’n’Roll Animal“ mit. Aus Europa importierte Gabriel den Gitarristen Robert Fripp und Drummer Bill Bruford, beide früher bei King Crimson (Bruford saß vorübergehend auch bei Genesis am Schlagzeug.nachdem Peter Gabriel ausgestiegen war. Er blieb aber nicht sehr lange). Gast auf dem neuen Gabriel-Album ist auch Sytheziser-Spezialist Larry Fast, der unter anderem in den Staaten hin „und wieder mit den aus Deutschland emigrierten Space-Rockern Nektar auftrat.

Bob Ezrin, so scheint es, sieht in Peter Gabriel nicht allein einen brillanten Songschreiber, sondern auch ein geeignetes Profilierungsobjekt. Die beiden sind sich ebenbürtig, trotzdem ist Ezrins Einfluß offenbar groß genug, um Peters ungezügelte Kreativität in geradlinige Bahnen zu lenken. Gabriels Vorliebe für ausschweifendes Ideenwirrwar findet in Ezrin einen gestrengen Meister. Und Peter läßt sich bereitwillig beraten. Früher auf dem melodischen Trip, ließ er sich jetzt bei der Arbeit mit Ezrin von der Wirkung rhythmusbetonter Musik überzeugen. Und die Rhythm-Section hat es in sich. Gabriel goes funky!

Ein amerikanisierter Peter Gabriel. Hat man damit gerechnet? Bob Ezrin gibt sich da ganz kategorisch: In Europa wäre Peter Gabriel ganz gewiß nie von seinem Genesis-Image loskommen. Also sei die amerikanische auch die einzig richtige Lösung für eine Solo-Karriere. Aber auch Peter stimmt zu: „Ich hätte bestimmt eine europäische Band gefunden. Aber ich hätte dann niemals etwas völlig Neues auf die Beine stellen können.“ Vielleicht hätte man sich in Europa tatsächlich zu sehr an Peters Vergangenheit festgebissen. Die amerikanischen Musiker hingegen gingen vollkommen neutral an ihre Arbeit. Die Akzente sind verschoben.

Gabriel kommt zurück mit Funk und einem Hauch von Disco-Fever, ängstlich darauf bedacht, trotz der kommerziellen Überlegungen nicht ins Happy-Go-Lucky-Kommerz-Gewäsch abzugleiten. Er will Singles, aber keine Wegwerf-Ware. Dazu sind seine Songs noch zu engagiert, viel persönlicher als zu Genesis-Zeiten, erklärt er sogar. Sein Sendungsbewußtsein, die Zuhörer aus ihrem sterilisierten Alltag zu holen, ist ihm geblieben: Jedoch nicht als verkleidete Phantasiefigur, sondern als Schreiber und Interpret faszinierender Songs.