R.E.M.


Ein Alptraum brachte Michael Stipe um den wenigen Schlaf: R.E.M. als reine Studioband? Als Steely Dan der 90er? Nicht auszudenken! Also begaben sich Mike und seine Mannen nach fünfjähriger Pause wieder auf die Bühne. Der Tourauftakt auf dem 5. Kontinent geriet zum Triumph.

Zum Aufwärmen für die anstehende Welttournee reisten R.E.M. ins derzeit sommerliche Australien. Am Abend des Konzerts in Sydney ist es jedoch ausgesprochen feucht, und so versteckt Michael Stipe sich in den ersten zwanzig Minuten unter der Kapuze einer regentauglichen Adidas-Jacke. Dennoch: ‚What’s The Frequency, Kenneth?‘, ‚Circus Envy‘ oder auch ‚I Took Your Name‘ künden davon, daß die coolste Band der Welt offensichtlich ausgezogen ist, um amtlich abzurocken. Zu diesem Zweck sind zwei zusätzliche Gitarristen mit R.E.M. unterwegs. Zudem greift auch Stipe mitunter in die Saiten. Das Ergebnis ist ein überaus nahrhafter, voll fetter Sound. So kommt ‚Drive‘ in der Rock’n’Roll-Version schlichtweg hinreißend über die Rampe. Zehntausend Zuschauer im zum dritten Mal in Folge ausverkauften Entertainment Centre wissen das zu schätzen. Der donnernde Beifall des Publikums steht dem satten Sound der Band beinahe in nichts nach. Für Stimmung sorgt neben der Musik eine großflächige Leinwand, auf der abwechselnd wildgewordene Möbel durch ein Zimmer fliegen, ein hübsches Mädchen Trauer trägt und knallbunte Comics die Szene kolorieren. Derweil entledigt Michael Stipe sich nach und nach seiner Klamotten, und die Musik driftet in ruhigere Sphären ab. Entsprechend andächtig das Publikum. ‚Try Not To Breathe‘ und ‚Every-body Hurts‘ lassen die Massen für Momente innehalten. Bei ‚Losing My Religion‘ dann holt Peter Bück die Mandoline aus dem Koffer – und Sydney tanzt. Anders die Akteure auf der geräumigen Bühne. Athletische Aktionen sind bei ihnen eher die Ausnahme. Der sensible Denker und Dennoch-Frontmann Stipe wirkt sogar regelrecht schüchtern. Von seinen gesanglichen Darbietungen abgesehen, bringt er volle zwei Stunden nicht mehr als ein mageres „Thanks“ oder „This is our next song“ über die Lippen. Ein Lied lang, bei ‚Country Feedback‘, kehrt der Künstler seinen vielen Fans den Rücken zu. Derlei Coolness, das wußte schon Miles Davis selig, kommt immer an. Und so können auch kärgste Ansagen nicht an Michaels Charisma kratzen. Selbst Stipes Notenständer bündelt die Aufmerksamkeit der zahlenden Zuschauer. Ob Michael, der manische Texter, ihn als Gedankenstütze für seine Lebenslyrik auch tatsächlich braucht, ist aus der Distanz nicht zu erkennen. Seine Wirkung auf das Publikum aber erzielt das Utensil auch ohne größeren Gebrauchswert. Immerhin: Stipe wirft ein Textblatt nach dem anderen achtlos weg, damit er das jeweils aktuelle stets in Sichtweite weiß. In der ersten Reihe entbrennt derweil ein kleiner Kampf um jedes einzelne dieser begehrten Souvenirs. Und derer gibt es reichlich, denn das R.E.M.-Repertoire reicht an diesem Abend von den Stücken ‚It’s The End Of The World As We Know It‘ und ‚Finest Worksong‘ aus dem ’87er Album ‚Document‘ bis hin zu beinahe allen Songs aus ‚Out Of Time‘, ‚Automatic For The People‘ und dem neuen ‚Monster‘. Außerdem auf der Track List: ‚Man On The Moon‘, ‚Bang And Blame‘, ‚Crush With Eyeliner‘ und – als Hommage für Kurt Cobain – ‚Let Me In‘. Vor der Zugabe dann noch schnell ein ehrliches Wort von Meister Stipe. R.E.M., so der singende Dichter, seien gern nach Australien gekommen, „denn wir machen hier eine Menge Geld.“ Es geht doch nichts über aufrichtige Menschen. Keine falsche Scheu auch beim Nachschlag: Die Zugabe besteht aus 4 Songs. Danach jedoch, viele wollen’s nicht wahrhaben, ist endgültig Schluß. Zumindest in Sydney. Denn für die Band bilden die australischen Konzerte nur den Auftakt zu einer monatelangen Reise um den Globus, der ersten übrigens seit fünf Jahren. Was hatte Mike Stipe kürzlich noch in einem Interview verlauten lassen? R.E.M. hätten Angst, die Steely Dan der 90er zu werden, wenn sie nicht wieder auf die Bühne klettern würden? Nun, diese Gefahr scheint zunächst einmal gebannt.