Warum ihr Rosalías LUX jetzt hören müsst
Rosalías „LUX“ vereint MOTOMAMI-Nachhall mit Oper, Flamenco und Pop. Review über Grenzauflösung, „Berghain“ sowie Features mit Björk und dem London Symphony Orchestra.
Wenn man sich LUX, das vierte Album der spanischen Sängerin, ach was, Ikone Rosalía, anhört, dann möchte man ganz dringend lieben und Sex haben so wie sie – eine bewusstseinserweiternde Erfahrung, die zumindest eine der Beteiligten näher zu Gott bringt, durch Lust, Liebe, Schmerz und Selbsterfahrung.
Und damit wären wir schon beim Kern der Sache: Auf LUX beschäftigt sich Rosalía in vier Sätzen mit dem Göttlichen und dem allzu Menschlichen, inspiriert vom Leben weiblicher christlicher Heiliger wie Teresa von Ávila oder Hildegard von Bingen, ihrer Beschäftigung mit Feminismus und, mutmaßlich, der Trennung von ihrem Verlobten Rauwr Alejandro und ihrem Weg durch den Liebeskummer zurück ins Leben.
Und war christliche – oder generell religiöse – Mystik nicht schon immer überraschend nah an der physischen Erfahrung von Liebe, sowohl ihren emotionalen, als auch physischen Seiten?
Zwischen Göttlichem und Menschlichem
Rosalía jedenfalls hat keine Hemmungen diese beiden Welten zusammenzubringen, eingerahmt in einen musikalischen Rahmen, der mit „Sexo, Violencia y Llantas“ die Brücke zwischen dem Reggaeton inspirierten Vorgängeralbum MOTOMAMI zum Sound von LUX schlägt, der zwischen klassischer Musik, Oper, Flamenco, Rumba und natürlich Pop oszilliert – und auf dem Rosalía in einem guten Dutzend Sprachen (neben Spanisch, Englisch und Katalan etwa Deutsch, Japanisch, Ukrainisch, Italienisch, Portugiesisch, Arabisch oder Chinesisch) singt.
Ist das noch Pop? Oder schon klassische Musik?
Seit der Veröffentlichung der einzigen Vorabsingle „Berghain“ (auf dem es zwar nicht um den Club Berghain ging, Rosalía aber im Stile der frühen, noch nicht skandalerschütterten Rammstein über Blei-Teddybären und Liebe singt) diskutieren Publikum und Kritik, ob das aber überhaupt noch Pop ist – oder schon klassische Musik? Vielleicht ist diese Frage auch völlig egal: LUX ist die vielstimmige Antwort auf eine vielstimmige Gegenwart, egal was der weltweite autoritäre Backlash erzählen will. Genre- und Sprachgrenzen?
Rosalía zwischen Pop und Klassik
Gibt es für Rosalía nicht, wenn sie die Geschichte weiblicher Selbsterfahrung und Stärke erzählen will, da kann sie sich mal in einem Rave verlieren und ein paar Songs später einen Walzer straight aus einer Disneyproduktion nutzen, um mit vergangenen Lovern und unzuverlässigen Männern abzurechnen.
Handwerk, Experiment und Einzigartigkeit
Und vor allem ist LUX eine Feier handgemachter Musik: Rosalía lebt ihre klassische musikalische Ausbildung so sehr aus, wie vielleicht noch nie, lässt die Operndiva in sich raus, kollaboriert mit dem London Symphony Orchestra, mit ihrem Vorbild Björk, der Fado-Legende Carminho und Flamenco-Stars Estrella Morente und Silvia Pérez und hat auch jüngere, nicht ganz so etablierte Kolleg:innen wie Yves Tumor und Yahritza y su Esencia eingeladen.
Und: Ein Teil der Songs ist nur auf den physischen Alben zu hören. Das ist teils natürlich kluges Marketing, aber neben der Musik, die mit dem Orchester und Walzer- und Rumba-Momenten, auch ein Symbol für das Trendpendel, dass von der maximalen Künstlichkeit von Hyperpop aus Reaktion auf Pop-Avatare und KI-Musik zurückschwingt in die Welt des realen, des physisch Anfassbaren, des einzigartig Menschlichen und Individuellen.
Mit LUX bringt Rosalía den Bombast in den Pop zurück, umarmt das Experiment und schafft ein Album, das wirklich niemand anderes als sie hätte schreiben können. Ein Gegenentwurf zu der Welt des Mittelmaß, die uns Techwelt und KI-Fanatiker verkaufen wollen. Ein Hoch auf die Einzigartigkeit, ein Hoch auf Rosalía.
Diese Review erscheint im Musikexpress 1/2025.



