Sampling


Ein neuer Terminus geistert durch die Popmusik: Sampling. Was hat man sich darunter vorzustellen, wenn Musiker X "die Snare Drum von Phil Collins sampelt"? Oder wenn Produzent Y "gesampelte Kuhglocken in den Mix einbaut"? Eines ist jedenfalls sicher: Die neue Technik ist nicht nur ein kurzweiliges Spielzeug, sondern ein Sprengsatz, der den herkömmlichen Prozeß der Musikproduktion radikal verändern wird. ME/ SOUNDS warf einen Blick in die elektronische Wundertüte.

Montag, 21:45 Uhr. In der ARD läuft „Miami Vice“ über den Schirm. Aus der Vogelperspektive zeigt man viel Atlantik, Renn-Boote, dann zu Lande Flamingos, zwei knackige Damenpopos und alles, was sonst noch so zum Klischee des „Sunshine State“ dazugehört. Untermalt wird diese flimmernde Miami-Postkarte von den hektischen Klängen Jan Hammers, der eine äußerst einprägsame Titelmelodie zu „Miami Vice“ verfaßt hat. Schön eingebettet im Sound hören wir quirlige Percussions, die den Keyboard-Sequenzen erst die rechte Rückendeckung geben.

Alles wäre auch eitel Sonnenschein, hätte nicht der gute Jan eine Klage jenes Musikers am Hals, der diese Percussions zwar tatsächlich spielte, doch niemals auch nur einen Ton für „Miami Vice“ von sich gab. Wie das funktioniert? Nun, das ist eine lange Geschichte, die wir hier — so gut es geht — zu erklären suchen.

Sample (sprich: sämpl, zu deutsch etwa: Warenprobe) heißt das Zauberwort, das Elektronikfreaks an der Keyboard-Klaviatur in ehrfürchtige Erregung versetzt und Urheberrechtsexperten und Rechtsanwälte in Zukunft sicher nicht arbeitslos machen wird. Hatte man bisher versucht, Klänge mit Synthesizern möglichst realistisch zu imitieren, so bietet das Sampling die Möglichkeit, jedes real existierende Geräusch originalgetreu zu reproduzieren oder je nach Belieben für eigene Zwecke zu verfremden.

Ein Beispiel: Angenommen, ich möchte zwecks Aufbesserung der Originalität meines Songs eine echte lila Alpenkuh erklingen lassen. Dazu begibt man sich mit Aufnahmegerät auf die Alm, bewegt die Kuh zu einem artgerechten Statement und überspielt diese Aufnahme in einen geeigneten Musik-Computer. Nun wird der Sound der Kuh in ein sogenanntes binäres Format umgewandelt, was dem Laien ungefähr soviel sagt, wie mir das Melken.

Es geht etwa so: Die Schallwellen werden in viele einzelne Informationen zerlegt, deren Werte alle mit den verschiedensten Kombinationen der Zahlen 0 und 1 definiert werden. Dieses Paket an Daten wird nun magnetisch gespeichert (meist auf Disketten), um anschließend in seiner digitalen Form wieder verfügbar zu sein. Dann ruft man also die Kuh aus dem Speicher auf eine mit dem Computer verbundene Klaviatur und ist nun in der Lage, das Tier nicht nur in den von der Natur vorgegebenen baßlastigen Tiefen, sondern in jeder beliebigen Tonhöhe sein „Muuuuh“ dröhnen zu lassen.

Solange man nur Vogelgezwitscher oder das

SAMPLING

Schnarchen seiner Freundin digitalisiert, wird sich wohl niemand sonderlich echauffieren. Doch die Maschinen sind natürlich auch in der Lage, die „Geräusche“ eines Instrumentes aufzunehmen, und das nicht nur durch normale Aufzeichnung, sondern auch durch das Herausfiltern aus einer Schallplatte — oder noch besser, einer CD. (Vorausgesetzt das „Signal“ wird nicht durch andere Instrumente im Arrangement überlagert.) Ob Mark Knopflers Gitarre. Phil Collins“ Snare-Drum oder den gesamten Apparat der Wiener Philharmoniker — kein Problem, mit dem richtigen Gerät hat man alles im kleinen Finger.

Kehren wir nochmals zum eingangs erwähnten „Miami Vice“-Thema zurück. Was war passiert? Der Percussionist David Earl Johnson war einmal eingeladen, mit Jan Hammer eine Session zu spielen. Und er erlaubte dem Keyboarder Hammer auch, viele seiner seltenen Schlag-Instrumente und seinen ganzen individuellen Percussion-Sound zu samplen.

Als der Musiker dann Teile dieser Samples in der „Miami Vice“-Titelmelodie wiedererkannte, platzte ihm der Kragen. Johnson suchte sich einen Copyright-Anwalt, der nun auf dem Rechtswege versucht, die sogenannten Leistungsschutzrechte seines Mandanten im Nachhinein zu erstreiten. Im Klartext: Der Mann will Knete! (Jedem Musiker steht für die öffentliche Ausstrahlung eines Musikstückes, bei dem er mitgewirkt hat, sogenannte „Royalties“ zu. Vergleiche auch ME/SOUNDS 12/86: „Wie funktioniert das Musikgeschäft“).

Natürlich beschützt das bestehende Urheberrecht jede Darbietung, aber unklar ist die Situation, wenn diese „Performance“ ohne die ausdrückliche Zustimmung des Urhebers in einem anderen Umfeld und vielleicht verfremdet eingesetzt wird.

DIE OPER PER COMPUTER

Und die Möglichkeiten beim Sampling sind grenzenlos. Da könnte sich Miles Davis plötzlich auf einer Roland Kaiser-Scheibe ein Solo spielen hören oder die fette Cozy Powell-Baßdrum auf einer Nummer dahindampfen, von der Herr Powell nicht mal weiß, daß sie existiert.

Müssen die gesampelten Künstler für ihre „Auftritte“ nun bezahlt werden oder nicht? Nile Rodgers, Gitarrist und gefragter Produzent zugleich, sagt: „Ich habe da meine genauen Vorstellungen. Wenn ich eine Plane mache und jemand sampelt meine kreative Leistung und verwendet das für seine Platte … und wenn er auch nur einen Ted davon nimmt, so sollte das illegal sein. Weil dem Diebstahl sonst Türen und Tore geöffnet sind. Aber wo zieht man die Grenze? Was wird das Gesetz sagen, wenn nur der Bruchteil einer Sekunde, praktisch unkenntlich gemacht, verwendet wurde. Ist es dannokav?“

Keine Bedenken auf diesem Gebiet hat Police-Schlagzeuger Stewart Copeland, der selbst zu einem der ausgebeutetsten Sample-Schlagzeuger wurde: „Würde ich beginnen, all die Leute zu verklagen, die meine Auftakt-Snare von „Every Breath You take“ in ihren Computer haben, ich müßte bis an mein Lebensende vor Gericht stehen. Allein Max Weinberg, der Springsteen-Drummer, hat in unzähligen Interviews erzählt, daß er genau diese Snare auf BORN IN THE U.S.A. des öfteren eingesetzt hat. Was soll’s! Ob einer ein Musiker ist oder nicht, zeigt sich nicht an den Werkzeugen, die er benutzt, sondern nur an dem, was er mit diesen Werkzeugen an Kreativem zustande bringt. „

Vorausgesetzt man hat das nötige dicke Portemonnaie, bieten diese neuartigen Technologien auch enorme Erleichterungen für Musikschaffende, Beispielsweise „schreibt“ Stewart Copeland zur Zeit mit dem Rolls Royce der Sampler — dem „Fairlight“ — und einem Apple Computer an einer Oper. „Ich habe jedes im Sxmphonieorchester verwendete Instrument in meinem Sampler. So kann ich in meinem Wohnzimmer die Besetzung eines großen Orchesters perfekt simulieren — und der Apple druckt mir genau die Noten aus, die ich auf dem Kevboard gespielt habe. Diese Noten lasse ich vervielfältigen und lege sie dem richtigen Orchester bei den ersten Live-Proben dann vor. Mir macht das Sampeln also etwas möglich, das ich sonst niemals schaffen könnte …“

SOUNDS VON DER DATENBANK

Welche Ausmaße das Sampeln schon erreicht hat. zeigt eine kleine Anekdote der elektronikverliebten Band The Art Of Noise. Als die erste Tournee anstand, fragte man sich, wie denn bloß die ausgefeilten Sample-Sounds auf die Bühne zu bringen sind. Man kam zu dem Ergebnis, daß mindestens drei Fairlight Computer notwendig seien. Nun kostet so ein „Instrument“ an die 2U0000 DM, und das mal drei, das war der Band dann doch zu teuer. Doch begnadete Tüftler, die sie sind, kopierten sich die Musiker von ihrer eigenen CD INVISIBLE SILENCE alle notwendigen Sounds auf drei kleinere Sampler (für Kenner: AKAI S9U0) und schon war das Unternehmen gerettet. Bei sich selbst zu klauen ist also der allerletzte Schrei.

A propos klauen: Ein Ex-Gehilfe des Tonzauberers Trevor Horn (Frankie Goes To Hollywood) stiebitzte seinem Lehrmeister die besten Sounds und versuchte diese in der BRD für fünfstellige Beträge zu verscherbeln. Nicht sehr erfolgreich, wie man hört.

Die alleroberste Spielklasse hat hier ohnehin ihre eigenen Regeln. So ist es nicht ungewöhnlich, daß die Stars ihre Sounds untereinander austauschen. Heißt man angenommen Toto, so genügt ein kurzer Gang zum Personal Computer, man wählt über Modem die Nummer einer speziellen Musiker-Datenbank und holt sich auf dem Wege der Datenfernübertragung zuerst die Zustimmung und dann den gewünschten Sound von Elton John.

Seit kurzem gibt es etwas ähnliches auch in Deutschland: M.A.C.S. Synthbank in München und Music Mail Service in Hamburg (Adressen siehe Kasten) bieten das aus den Staaten importierte System erstmals an. Hier bekommt man Zutritt zum PAN-Netz in den USA, womit einem die große weite Telekommunikations-Welt der Sounds offensteht. Eine gewisse Keyboardeinstellung von Herbie Hancock fürs eigene Demo ist damit ebenso leicht zu holen wie die Erstellung synchroner Sequenzerspuren mit dem Musikerspezi in Tokyo; außerdem hat man über den englisehen Geonet-Computer Zugang zum internationalen Telexnetz, kann über E-Mail eine schriftliche Nachricht im Studio hinterlassen, oder sich viele Sounds direkt vom Hersteller oder sonstigen Anbietern überspielen.

Doch man muß nicht einmal so weit schweifen. Das Münchener Musikgeschäft „Music Shop“ (Adresse siehe Kasten) bietet die erste Sound-Bibliothek Deutschlands an. Kauft man dort seinen Sampler, wird man automatisch Mitglied und kann sich für den Preis einer Leerdiskette mit fertigen Sounds für sein Gerät eindecken. Mit DM 250,— ist auch der Nicht-Kunde dabei. Die Auswahl ist enorm und wird immer größer.

Der einzelne Musiker hat also Möglichkeiten wie nie zuvor. Und das beschränkt sich nicht nur auf Keyboarder. Immer mehr Schlagzeuger setzen Sample-Effekte auch live ein. Ein hartgummibeschichtetes, etwa ein Quadratdezimeter großes Feld ersetzt hier die Keyboard-Tastatur. Am gebräuchlichsten ist zur Zeit eine Anordnung von acht nebeneinanderliegenden Feldern, die mit einem Sample-Modul verbunden wird. Dieses Modul hat ungefähr die Größe und das Aussehen eines besseren Hi-Fi-Verstärkers. Dort schiebt man die Disketten mit den gewünschten Sounds ein und speichelt jedes einzelne Feld mit verschiedenen Klang-Schmankerl. Sobald man nun ein Feld mit seinem Trommelstock berührt, startet der ausgewählte Sound.

Sogar vermeintlich biedere Kapellen strotzen oft schon vor dieser Technologie. Jeff Philips, der hünenhafte Trommler Chris de Burghs, kann auf die Kinkerlitzchen auch nicht mehr verzichten.

„Mann, wir haben 1987. Heule spielen junge Bands ganze Club-Konzerte mit Schlagzeugcomputern. Wenn ich mich dieser Entwicklung entziehe, stehe ich bald ohne Job da!“ Und so schiebt der Kalifornier fleißig seine 3,5 Zoll-Disketten in seinen AKA] S900-Sampler. und plötzlich bellen Doggen im Takt, spielt das New York Philharmonie Orchestra fortefortissimo den Schlußakkord irgendeiner Beethoven-Symphonie, ober es brummt eine Harley Davidson durch die Stereo-Landschaft und Speedy Gonzales lacht sich halbtot.

DER GROSSE KLANG-KLAU

Die Musikerwelt ist auf alle Fälle gespannt, wie der „Miami Vice“-Prozeß ausgehen wird. Denn die ersten bösen Auswirkungen dieser revolutionären Technologie machen sich schon bemerkbar. So konnte sich in letzter Zeit vor allem in der amerikanischen Studioszene ein florierender Schwarzmarkt entwickeln. Top-Produzent Phil Ramone:

„Die Leute samplen, was das Zeug hält und verkaufen die Musiker in Einzelteilen. Hier Jeff l’orcaros Fußtrommel, da Steve Gadds Hi-Hat, hier Phil Cotlins Snaredrum … und die Musiker werden verständlicherweise langsam nervös. „

Mit gutem Grund: Die Gesamtlöhne, die an amerikanische Session-Musiker ausbezahlt wurden, sind in den letzten acht Jahren rapide zurückgegangen — die Verfügbarkeit erstklassiger Samples sind eine zu große Versuchung für streßund budgetgeplagte Produzenten.

Auch Streich- und Blas-Orchester sind davon betroffen. Vor einigen Jahren noch ausgebucht, dürfen die Musiker heute — wenn überhaupt — noch eine Stunde ins Studio, um eine Sequenz „live“ einzuspielen. Dann samplet der preisbewußte Produzent den jeweiligen Part und hat so nicht nur den Original-Sound, sondern auch den Original-Charakter (bei Bläsern z.B. Atemholen, Ansatz, etc.) zur weiteren Verfügung. So wurden in letzter Zeit Streicher in den Studios der Westküste nur mehr für ganze drei Töne engagiert. Der Geiger spielt einen tiefen, mittleren und hohen Ton kurz an, und schon ist seine Arbeit getan. Früher gab’s noch tageweise Arbeit bei einer Produktion. Heutzutage darf man froh sein, für diese Dienste die Mindestgage für eine Stunde zu kassieren.

Was dies für die Musik-Industrie langfristig bedeutet, kann man heute nur vermuten. Ein radikaler Umbruch ist auf alle Fälle sicher. Für den Konzertbesucher empfiehlt sich jetzt schon genaueste Aufmerksamkeit, wenn er die immer undurchsichtigeren Grenzen zwischen „live“ und „nicht live“ noch ausmachen möchte. Wer sich beispielsweise beim Konzert von Rod Stewart darüber gewundert hat, daß bei „Love Touch“ plötzlich die Stimmen pechschwarzer Chorsängerinnen erklangen, ohne daß sich die Begleitmusiker auch nur die Mühe machten, so zu tun als ob sie selber sängen, dann sei dem Leser verraten, daß die Damen über die Diskettenstation eines Instrumentes aufgerufen wurden, das nicht viel größer als eine normale Schreibmaschine ist…