Stevie Wonder: Schwarzer Prinz im Elfenbeinturm


Ende 1980 über Stevie Wonder zu schreiben, bekommt schon fast prähistorischen Beigeschmack. Punk und New Wave hatten vor einigen Jahren die Einstellung zur populären Musik gründlich verändert. Dazu kam, daß die Entwicklung der amerikanischen Black Music stagnierte. Waren es in den 50er Jahren die sogenannte 'Race Music' und Rhythm'n'Blues, in den 60ern der Soul der Firmen Tamla Motown und Stax und zu Beginn der 70er schließlich der Funk, die allesamt der weißen Rockmusik wichtige Anstöße gaben, so gähnt heute an gleicher Stelle ein unübersehbares Loch. Die gesichtslose Masse der Disco-Szenerie dokumentiert den degenerierten Nährboden der kommerziellen schwarzen Musik in den Staaten. Da man sich außerdem in den vergangenen Jahren sowieso eher an ungezügelter Spielfreude als am Perfektionsdrang ergötzte, schien es kaum noch einen Platz zu geben für ein verinnerlichtes Genie wie Stevie Wonder, oder doch?

Blind, schwarz und arm kommt Steveland Judkins-Morris am 13. Mai 1950 in Saginaw/ -Michigan zur Welt. Der Verlust des Augenlichts geht vermutlich auf Fahrlässigkeit während der Entbindung zurück. „Ich wurde“, sagt er später, „einen ganzen Monat zu früh geboren und mußte deshalb in einen Brutkasten. Ein Mädchen, das am gleichen Tag geboren wurde, lag neben mir. Während sie starb, bin ich, wenn auch blind, mit dem Leben davongekommen. Wahrscheinlich haben sie einfach zuviel Sauerstoff in den Kasten gegeben. Ich kann mich jedenfalls glücklich schätzen, überhaupt noch am Leben zu sein.“

Die Dankbarkeit, noch einmal mit heiler Haut davon gekommen zu sein, taucht in seinem Leben immer wieder auf. Blindheit ist für ihn kein Manko, über das man sich bei den Göttern beklagen könnte, sondern eher ein hilfreicher Fingerzeig. Eine Erinnerung daran, daß nicht alles selbstverständlich und gottgegeben ist und daß man die erhaltenen Talente auch zu nutzen und zu entwickeln hat.

Während seine Mutter Lulu noch bei obskuren Handauflegern und Wunderheilem das Unwahrscheinliche wahr zu machen versucht, scheint sich Stevie wie selbstverständlich mit seinem Schicksal abzufinden. „Blind zu sein“, sagt er später einmal, ist für mich kein Handicap. Es wird erst dann eines, wenn du selbst es dazu machst.“

Daß ihm im Unterschied zu seinen Freunden etwas fehlt, geht ihm ohnehin erst später auf. Blindheit ist für ihn der natürliche Zustand, warum also sollte er nicht auch auf Bäume klettern und mit kleinen Mädchen Onkel Doktor spielen? Daß er anders ist als die anderen, merkt er eigentlich erst mit vier, fünf Jahren. „Ich war draußen auf der Straße in Hundescheiße getreten und dann ins Wohnzimmer gelaufen. Es setzte ein paar Hiebe mit der Bügeleisenschnur, worauf mir meine Mutter klarmachte, daß ich mich endlich damit abfinden müsse, auf gewisse Dinge zu verzichten.“

Etwas zu verlieren, das man nie gekannt oder besessen hat, scheint für ihn kein Verlust zu sein. Erfahrungen macht er stattdessen hauptsächlich auf akustischem Wege. Die Nachbarn haben sich für ihn ein besonderes Spiel ausgedacht: Sie lassen Münzen auf den Boden fallen, an deren Klang er erkennen muß, ob es sich um 5-, 10-oder25-Cent-Stücke handelt. Er hört es mit traumwandlerischer Sicherheit heraus.

Wäre er ein weißes Einzelkind aus dem Mittelstand gewesen, reglementiert und eingepfercht in eine sterile Umwelt, vielleicht hätte man seine Talente erfolgreich verkrüppeln lassen. Hier aber, am schwarzen Stadtrand von Detroit, wohin seine Mutter mit ihm und seinen fünf Geschwistern inzwischen gezogen ist, findet das Leben gleich vor der Haustür statt. Der jive talk der Super Flies, Polizeisirenen, Motorrad-Gangs, spritzende Wasser-Hydranten, Musik aus den Kofferradios, das Leben ist zum Greifen nahe. In der „Whitestone Baptist Church“, in die ihn seine gottesfürchüge Mutter schleppt, darf er mit acht Jahren solo singen. Gospelmusik wird die Grundlage aller späteren Eindrücke.

Wichtiger aber noch ist WCHB, Detroits schwarze Radiostation. B.B.-King, die Staple Singers, Ray Charles, Mary Wells, die Drifters, Del Shannon, Bobby Bland, Neil Sedaka – sie sind die Hauptakteure des Soundtracks, der an Stevies Ohren ununterbrochen vorbeiläuft. Er bekommt die erste Mundharmonika, kann Klavier bei der Nachbarin spielen und erhält von einem wohltätigen Verein für blinde Kinder zu Weihnachten den gewünschten Schlagzeug-Set. Als er mit acht, neun Jahren sämtliche Instrumente mühelos beherrscht, beginnt man in der Nachbarschaft zu flüstern. Sollte sich da tatsächlich ein Wunderkind entwickeln?

Es war eine jener Bekanntschaften um drei Ecken, die aus Steveland Judkins-Morris schließlich „Little Stevie Wonder“ machte. Einer seiner Spielkameraden, mit denen er vor der Haustür Congas, Bongos und unschuldige leere Dosen traktierte, hatte seinerseits einen Freund, dessen älterer Bruder Ronnie White war. Ronnie White natürlich war – wer wußte das nicht? – der Leadsänger der Miracles, die damals die heißeste Band in ganz Detroit waren. Ronnie ließ sich breitschlagen und brachte das blinde Kind zu Produzent Brian Holland, der für Berry Gordys Plattenfirma »Hitville, USA“ arbeitete.

Berry Gordy hatte gerade etwas Unglaubliches gewagt und als erster Farbiger eine eigene Plattenfirma gegründet. Schwarzer Blues und R & B waren bisher wie selbstverständlich allein von weißen Plattenfirmen in New York oder Memphis vermarktet worden. Weiße Unternehmer wie die Atlantic-Gründer Ahmed und Nesuhi Ertegun hatten die Marktlücke erkannt und ausgewertet, auch wenn sie im Innersten ihres Herzens zu der Musik kaum eine Beziehung hatten. Mit einem geliehenen Startkapital von 800 Dollar wagte Gordy den Sprung ins kalte Wasser und gründete in Detroit das erste schwarze Label – zunächst „Hitsville, USA“ getauft, später nach motor-town Detroit simpel „Motown“ genannt.

Es dauert nicht lange, bis er lokale farbige Talente an sich zieht, die in Motown ihre einzige Chance sehen: Marvin Gaye und Tammi Terell, Diana Ross und die Supremes, Martha & The Vandellas und die Miracles, nicht zuletzt auch das Komponisten- und Produzenten-Trio Holland, Dozier, Holland, das dem neuen Motown-Sound aus Detroit überhaupt erst den maßgeschneiderten und schnell zu identifizierenden Charakter verpaßt. Als Brian Holland und Berry Gordy im Studio den neunjährigen Stevie singen hören, ahnen sie bereits, daß sie durch Zufall auf eine Goldmine gestoßen sind.

Ein passender Name muss her! Judkins, der Name seines leiblichen Vaters, hat nicht den gewünscht öligen Klang, ebensowenig vermittelten die Namen seiner zwei Stiefväter, Morris und Hardaway, den gewünschten Glamour. Aus Little Stevie, wie man ihn im Studio nennt, und our little wonder boy, wie man voll Anerkennung hinter seinem Rücken sagt, wird kurzerhand Little Stevie Wonder. Mit zehn Jahren schreibt das Wunderkind seinen ersten Song, mit elf veröffentlicht er die erste Platte („Contract On Lo ve“) und noch im selben Jahr hat er bereits die erste Nr. 1: „Fingertips Part 2“, eine Live-Aufnahme aus dem Regal-Theatre, mag aus heutiger Sicht primitiv und eintönig erscheinen, doch die Energie, die dieses wildgewordene Kind auf die Bretter bringt, verschlägt einem einfach die Sprache.

Stevie ist bereits 13, als sein Album THE 12 YEAR OLD GENIUS veröffentlicht wird. Zwar blitzen hier und da noch ungeschliffene und persönliche Töne durch, doch die musikalische Richtung hat Motown mit sanfter doch unnachgiebiger Gewalt festgelegt. Stevie, dankbar für die Chance, die ihm keine andere Firma geboten hätte, beugt sich zunächst diesem Druck und singt die gewünschten Schnulzen. Titel wie „My Cherie Amour“, „I Was Made To Love Her“, „For Once In My Life“ und „I m Wondering“, die er teilweise zusammen mit seiner Mutter Lulu Hardaway schreibt, sind ausnahmslos kommerzielle Erfolge und geben ihm so die Möglichkeit, die eigenen Vorstellungen etwas hartnäckiger zu vertreten. 1966, gerade 16 Jahre alt, setzt er es schließlich gegen den Willen der Motown-Familie durch, daß er Dylans Protestsong „Blowin‘ In The Wind“ veröffentlicht, für ein halbwüchsiges Kind aus dem Ghetto in der Tat eine unorthodoxe Entscheidung.

„Blowin‘ In The Wind“ kommt ebenfalls in die amerikanischen Top 10 und gibt seiner rebellischen Stimmung neue Nahrung. Die Motown-Family, von Patriarch Berry Gordy straff und hierarchisch geführt, erscheint ihm immer weniger als schützender Familienkreis, sondern mehr und mehr als beengendes Korsett, das jede Veränderung und Weiterentwicklung zu sabotieren scheint. Als er die gewünschte musikalische Kontrolle auch nicht erhält, nachdem er 1968 auf dem Album WHERE I’M COMING FROM kaum verhüllte Forderungen stellt, rutschen die Beziehungen unter den Gefrierpunkt. Die Dankbarkeit gegenüber Motown verkehrt sich in Verbitterung. Unfähig, unter den gegebenen Umständen irgendwelche Ideen zu verwirklichen, zu dickköpfig, um noch nach möglichen Kompromissen zu suchen, legt Stevie Wonder bis 1971 eine Zwangspause ein. Er erhält in diesem Jahr nicht nur seine treuhänderisch verwalteten Ersparnisse, sondern hat nun auch die Gelegenheit, nach zwei 5 Jahres-Verträgen seinem gespannten Verhältnis zu Motown endlich ein Ende zu machen. Gründe dafür gibt es genug. Als ihm zur Volljährigkeit eine Million Dollar ausgezahlt werden, ist das gemessen an den knappen Motown-Salären zwar ein nie gekannter Geldregen. Angesichts der verkauften Platten von über 30 Millionen Dollar, sowie enormer Tantiemen und erklecklicher Tournee-Einnahmen aber ist diese Summe der blanke Hohn. Die liebe Familie hat bei ihrem Sprößling kräftig die Hand aufgehalten.

Die neugewonnene finanzielle-Unabhängigkeit genießt Stevie in vollen Zügen. Er verläßt das Elternhaus und zieht mit Syreeta Wright, einer ehemaligen Motown-Sekretarin, in ein New Yorker Hotel. Ein Viertel seiner Ersparnisse, rund 250.000 Dollar, investiert er in unabhängige Aufnahmen, um ohne Einmischungen des Motown-Clans die angestauten neuen Ideen verwirklichen zu können. Befreit von dem psychologischen Druck, scheinen seiner Kreativität und Spielfreude in diesem Jahr keine Grenzen gesetzt. „Ich habe mir damals wieder und wieder die Frage gestellt, in welche Richtung ich gehen solle, was mein Ziel und meine Bestimmung sei. Und ich wußte instinktiv, daß es Zeit für einen radikalen Wechsel war.“

Bei der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten kommen ihm in Gestalt des Moog- und ARP-Synthesizers Instrumente zur Hilfe, deren Einsatz in der Schwarzen Musik bis dahin undenkbar gewesen war. „Der Synthesizer ließ mich endlich Sachen umsetzen, die schon lange in meinem Kopf steckten, bisher aber nie realisierbar waren. Er ließ mich Gefühle ausdrücken, die tief in mir steckten.“

Der Blick nach innen wird noch durch einen anderen Faktor verstärkt. Syreeta, die inzwischen seine Frau und musikalische Partnerin geworden ist, bringt ihn mit Transzendentaler Meditation in Berührung und löst damit eine folgenschwere Gedanken-Lawine aus. Die Thematik seiner Songs verschiebt sich um Welten. Sicher, noch immer ist die Liebe das zentrale Thema, doch die süßlichen boy meets girl-Klischees der Motown-Schule gehören von nun an der Vergangenheit an. Ein religiöser Unterton nimmt ihren Platz ein, eine gesellschaftliche Verantwortlichkeit und die intensive Reflexion auf die eigene Person.

MUSIC OF MY MIND nennt er diese musikalische Nabelschau, Musik, die er beim Hineinhorchen in sich selbst entdeckt und aufgezeichnet hat. Daß er dabei möglichst alle Instrumente selbst spielen möchte, ist bei seinem Perfektionismus nur natürlich. Piano, Mundharmonika, Drums, sämtliche Keyboards und Synthesizer bedient er selbst und erreicht damit einen Sound, der von den vorhergehenden Alben radikal verschieden ist. Ohne den zarten Motown-Schmelz wirkt seine Musik von nun an härter, giftiger, mehr von der Rockmusik beeinflußt. Erstmals auf einer Wonder-LP werden diesmal auch die Texte abgedruckt.

Mit dem selbst finanzierten und produzierten Album klopft Stevie Wonder wiederum bei Motown an. Zwar sind die alten Differenzen nicht vergessen, doch für den wichtigsten farbigen Künstler der populären Musik wäre es fast schon Fahnenflucht, würde er die einzige Plattenfirma der black Community verlassen. „Schließlich ist es eine schwarze Firma, erklärte er nachträglich seinen Schritt, „und ich glaube, daß wir etwas brauchen, worauf wir stolz sein können. Motown repräsentiert eine Musik und einen Beitrag, den wir Amerika und der gesamten Welt leisten können. Es ist ein Konzept, das mit meiner Einstellung völlig übereinstimmt.“

Zum Teil erheblich höhere Offerten der Konkurrenz schlägt er aus; Stevie setzt, nachdem Motown sechs Monate gezittert und geworben hat, seine Unterschrift unter einen neuen Vertrag. In der Position des Stärkeren ist er nun allerdings in der Lage, Bedingungen zu diktieren, die ihm Motown bislang hartnäckig zu verweigern suchte. Ein 20-seitiger Vertrag garantiert Freiheiten, die für Motown-Künstler bisher unerreichbare Utopie waren. Stevie erhält die volle künstlerische Kontrolle, kann aufnehmen, was, wann und wo er will,und bekommt als erster Motown-Musiker die Möglichkeit, seine Songs in einem eigenen Musikverlag zu veröffentlichen.

Auch wenn der Vertrag Motown teuer zu stehen kommt, so erweist sich die bittere Pille doch letztlich als heilsame Medizin. Die Verknöcherung und Stagnation, die aufgrund der inzestuösen und intoleranten Familien-Politik bei Motown im fortgeschrittenen Stadium ist, wird durch Wonders Konfrontation aufgehalten wenn nicht gar rückgängig gemacht. Indem er für sich selbst optimale Bedingungen erkämpft,öffnet er seinen Kollegen eine Tür und gibt Motown die Chance, aus einer politischen und künstlerischen Sackgasse herauszufinden.

Mit MUSIC OF MY MIND beginnen die produktivsten und vermutlich auch kreativsten Jahre in Stevie Wonders Leben (eine Feststellung, die seine bisherige Leistung keinesfalls herabwürdigen soll.) Natürlich ist er seit Jahren ein begnadeter Songschreiber, der sich aus einem unerschöpflichen Reservoir von Melodien zu bedienen scheint, natürlich ist er auch bis dahin als Sänger, Instrumentalist, Arrangeur und Produzent eine Ausnahmeerscheinung gewesen. Trotzdem sind die Aufnahmen der ersten zehn Jahre letztlich nichts anderes als mehr oder minder perfekte Stilübungen. Die Seichtigkeit und Klischee-Lastigkeit, die teils durch sein Alter, teils durch Motowns Pressionen bedingt ist, macht diese Songs vielleicht zu Glanzstücken der Popmusik, nicht aber zu den persönlichen Aussagen, die Stevie Wonder mit wachsendem Alter immer konsequenter anstrebt.

Mit TALKING BOOK kommt er 1972 diesem Ziel noch einen weiteren Schritt naher. Die Themen der Songs haben inzwischen eine Spannbreite, die selbst nach MUSIC OF MY MIND nicht vorauszusehen war. „Big Brother“ ist die gespenstische Beschreibung eines Ghettos, das wie in Orwells „1984“ von korrupten Politikern beherrscht und von unmenschlichen Überwachungs-Mechanismen kontrolliert wird. „Superstitious“ ist eine Warnung vor Aberglaube, „da der Glaube an Dinge, die nicht zu verstehen sind, unweigerlich ins Unheil führt.“ Daneben aber stehen gleichzeitig auch traditionelle Pop-Nummern wie „You Are The Sunshine Of My Life“, die durch zahllose Cover-Versionen Stevies erfolgreichste Komposition wird.

„Looking For Another Pure Love“, ein anderer der fast immer autobiographischen Lovesongs, ist aus zwei Gründen erwähnenswert. Zum einen markiert er das Ende seiner Ehe mit Syreeta Wright, die er allerdings auch weiterhin produziert und musikalisch betreut; zum anderen gibt hier mit Jeff Beck erstmals ein Rockmusiker seinen Einstand und leitet damit eine wahre Pilgerreise ähnlicher Verehrer ein. Die „Fusion“ von Rock, Jazz und Funk liegt in der Luft, und es sieht ganz so aus, als solle Stevie Wonder das fehlende Bindeglied zwischen schwarzem Funk und weißem Rock werden. Eric Clapton und Johnny Winter jammen mit Stevie, Paul McCartney und Dave Mason gehen mit ihm ins Studio, Elton John singt sein Lob in höchsten Tönen, und die Rolling Stones schließlich laden ihn mit seiner neuen Gruppe Wonderlove auf ihre US-Tour im Frühjahr 72 ein.

Auch wenn er hiermit die Chance erhält, sich erstmals einem ausschließlich weißen Publikum vorzustellen, so häufen sich auf dieser Tournee doch die unangenehmen Erfahrungen. Zwei Lebensstile prallen aufeinander, die einfach nicht miteinander vereinbar sind: Die Stones mit Rauschgift-Exzessen und Groupie-Gelagen, Stevie Wonder dagegen mit Bescheidenheit und christlicher Nächstenliebe. Seine Abneigung gegen Drogen bringt er mehrmals zur Sprache, am deutlichsten in „Too High“ von der folgenden LP INNERVISIONS. Die ernüchternden Erlebnisse aus der Stones-Tournee lassen ihn den Kontakt zu weißen Rockmusikern wieder abreißen, kaum daß er erste Früchte zu tragen begann.

Am 8. August 1973 entgeht Stevie Wonder nur knapp dem Tode. Bei der nächtlichen Rückfahrt von einem Konzert in North Carolina prallt sein Auto auf einen Lastwagen; Stevie, der auf dem Beifahrersitz eingeschlafen ist, wird mit schwerer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert. Als er nach zehn Tagen aus dem Koma erwacht, haben sich Werte und Ziele seines Lebens verändert. „Der Unfall hat meine Ohren geöffnet. Am Leben zu sein, hat für mich einen neuen Wert bekommen, vor allem, was ich mit meinem Leben anfange.“

INNERVISIONS, das vor dem Unfall aufgenommen, aber erst Ende ’73 veröffentlicht wird, nimmt den tiefgreifenden Einschnitt geradezu prophetisch vorweg. „Higher Ground“, wenige Wochen zuvor komponiert, beschreibt exakt die Veränderung und Verinnerlichung, die Stevie wenig später selbst durchlaufen wird. „Danach ist er viel ruhiger geworden“, bestätigte Wonderlove-Bassist Nathan Watts. „Er hat zwar noch immer tausend Ideen, aber er überstürzt nichts mehr wie früher. Er lebt bewußter und ausgeglichener als zuvor.“

War MUSIC OF MY MIND noch eine spontane, unbalancierte Platte, an der nicht sonderlich gefeilt und verbessert wurde, so nimmt sich Stevie Wonder auf den folgenden Alben die Zeit, seinen perfektionistischen Neigungen bis ins Extrem nachzugehen. FULFILLINGNESS‘ FIRST FINALE, seiner Zeiten Frau Yolanda Simmons gewidmet, erscheint noch 1974; für das Doppelalbum SONGS IN THE KEY OF LIFE aber benötigt er bereits zweieinhalb Jahre.

Das Doppelalbum, das er erst nach zahllosen Überarbeitungen veröffentlicht, ist nicht nur Wonders größter kommerzieller Erfolg, sondern zeigt auch eine stilistische Vielfalt, die selbst für seine Begriffe ohne Beispiel ist. Die Reihe der Gastmusiker reicht von George Benson über (die inzwischen verstorbene) Minnie Ripperton und Herbie Hancock zu Pedalsteel-Gitarrist Pete Kleinow – das Material von „Sir Duke“, einer schnittig arrangierten Hommage an Duke Ellington, über das sozialkritische, Village Ghetto Land“ bis hin zu den Jazzrock-Synkopen von „Have A Talk With God“. Stevie zieht alle nur denkbaren Register und erreicht mit diesem Album einen bisherigen Höhepunkt – sei es als Songschreiber, Sänger, Instrumentalist, Arrangeur oder Produzent.

Seine immens gewachsenen Erfahrungen als Produzent stellt er in der Folgezeit öfters auch befreundeten farbigen Musikern zur Verfügung. Das allein aber erklärt nicht, daß sein nächstes Album erst nach dreijähriger Wartezeit auf den Markt kommt. THE SECRET LIFE OF PLANTS, ursprünglich als Triple-Album geplant, ist der Soundtrack zu einem gleichnamigen Film, der allerdings wegen mangelnder Kommerzialität gar nicht erst in die Kinos kommt. Der Mißerfolg des Films färbt unweigerlich auch auf den Soundtrack ab. Als er nach endlosen Verschiebungen, Überarbeitungen und Neufassungen endlich als Doppel-LP erscheint, werden die hochgespannten Erwartungen nicht erfüllt. Von der Kritik mit Unverständnis abgetan, sind auch die Verkaufszahlen enttäuschend niedrig. Der ambitionierte Plan, das .geheime Leben der Pflanzen“ musikalisch umzusetzen, ist für das Gros der Hörer doch einfach zu hochgestochen. Die symphonischen Orchestrierungen, halb Mozart, halb Mantovani, mögen mit beachtlichem Geschick arrangiert sein, doch letztlich ist es nicht mehr als ein flaches Nachempfinden klassischer Vorlagen. Man mag Verständnis dafür haben, daß die abendländische Musikkultur für einen ehemaligen Jungen aus Detroits Eastside weit mehr Faszination ausübt als auf einen Mitteleuropäer, der mit dieser Musik aufgewachsen ist. Das ändert jedoch nichts an der Feststellung, daß weite Passagen von SECRET LIFE OF PLANTS das von Stevie Wonder gewohnte kreative Niveau nicht erreichen. Der religiöse, oft ins Moralisieren abrutschende Unterton wirkt 1979, als die Nachgeburten des Punk noch immer die Schlagzeilen beherrschen, deplaciert und weltfremd. Die Blindheit, die seine Ohren schärfte und sein musikalisches Genie erst zum Durchbruch brachte, hat ihn mit dieser Platte in eine Verinnerlichung und Isolation geführt, in die zu folgen nur die wenigsten Hörer fähig oder bereit sind. Ein schwarzer Prinz im Elfenbeinturm, der so lange nach innen horchte, bis er den Kontakt nach außen zu verlieren schien.

(Zu einem völlig entgegengesetzten Schluß kam Hermann Haring, als er dieses Album rezensierte, da er sich eng mit jenem neuen Bevmßtsein auseinandersetzte. Ein Faktor, der ihm entscheidender erschien als der rein musikalische Ablauf. Vergl. ME 12/79. Anm. der Red.) Das allerdings ist nicht der letzte Stand der Dinge. Die sechs Konzerte, die Stevie im Herbst in London gab, vor allem aber das uptempo-Material der jüngsten LP HOTTER THAN JULY legen die Vermutung nahe, daß Wonder nach dem Extrem von THE SECRET LIFE OF PLANTS wieder in die Gegenrichtung zurückpendelt. Mag sein, daß dabei auch kommerzielle Erwägungen eine gewisse Rolle gespielt haben. Möglich aber auch, daß er irgendwann einmal wieder in Sphären und Welten abdriftet, die Normalsterblichen verschlossen bleiben. „Denn Stevie“, so sein Freund und Manager Ira Tucker, „sitzt in einem anderen Flugzeug als wir.“