Stolz und Vorurteil


Mit Anfang 20 holen die Engländer von Hurts genau das aus den 80ern raus, was man davon noch hören mag. Dabei nehmen sie sich selbst gar nicht so ernst, wie sie aussehen. Ein Treffen.

Herr Hutchcraft, Herr Anderson, haben Sie schon einmal versucht, Hurts zu googeln? Da findet man nicht viel. Ist Hurts für die Internetsuche vielleicht ein ungünstiger Name?

Adam Anderson: Alle Bandnamen sind ungünstig. Ein Freund von mir hat eine Band, die heißt Performance. Die sollten Sie mal versuchen zu finden.

Theo Hutchcraft: Außerdem war das Absicht. Wir wollten die Informationen über uns zurückhalten. Das ist eine Reaktion auf die Art wie Popmusik heute präsentiert wird. Alles wird zugänglich gemacht. Wir sind deshalb einen anderen Weg gegangen. Die Leute müssen ihre Vorstellungskraft zurückgewinnen und müssen sich unsere Geschichte selbst zusammenreimen.

Was könnte dabei das Ergebnis sein?

Hutchcraft: Das man erkennt, das wir versuchen, einzigartig zu sein. Die Stärke von Popmusik liegt in ihrer Individualität, in der besonderen Art der Darbietung. Alle unsere Lieblingskünstler haben es so gemacht: Madonna, Prince, Michael Jackson. Sie haben sich nicht um andere gekümmert. Und das versuchen wir auch.

Man muss Hurts also als Gesamtkunstwerk sehen, zu dem Musik und Auftreten gleichermaßen beitragen. Das Video zu „Wonderful Life“ sieht so aus, als sei es irgendwann in den Achtzigern verloren gegangen.

Hutchcraft: Ja, wir wollten eine Welt kreieren, in der die Musik existieren kann, eine Welt, die uns auch hilft, die Musik, die wir schreiben, zu schreiben.

In dem Video treten Sie neben einer Frau auf, die aussieht, als würde sie zu einem anderen Song tanzen.

Hutchcraft: Sie tanzt zum selben Song.

Dann tanzt sie aber sehr seltsam.

Hutchcraft: Ich weiß bis heute nicht, ob sie gut oder schlecht tanzt. Was denken Sie?

Sie ist so sehr daneben, dass ich sie ganz wunderbar finde. Aber alles an Hurts wirkt so ungeheuer ernst: der Name, die Musik, die Texte, die Videos, der Ausdruck auf Ihren Gesichtern …

Anderson: Sie denken, wir sind ein Witz.

Hutchcraft: Kennen Sie den? Stehen zwei Schneemänner auf der Wiese herum, fragt der eine den anderen: Riecht es hier nach Karotten? Guter Witz, oder?

Sehr gut.

Hutchcraft: Ich denke, es geht uns um Einfachheit. Und um Aufrichtigkeit. Es sind gefühlvolle Songs, die es verdienen, in einer bestimmten Art vorgetragen zu werden. Man kann sie auch gar nicht anders vortragen. Es sind ernsthafte Lieder, ja.

Anderson: Als wir vor einem Jahr mit Hurts anfingen, waren wir arbeitslos und so unglücklich wie nie zuvor in unserem Leben. Da schreibt man schon automatisch keine lustigen Lieder.

Hutchcraft: Dabei sind wir privat das exakte Gegenteil. Wir sind richtig lustig. Wahrscheinlich war Musik für uns das Ventil, den Kummer herauszulassen.

Aber es wäre ja auch vorstellbar, dass etwas sehr ernst und dabei gleichzeitig auch komisch ist.

Hutchcraft: Sagen wir es so: Wir wissen, was wir tun, und wir wissen auch, warum wir es tun. Es ist ein drolliges Missverständnis, dass viele denken, wir seien superernst, ohne uns dieser Ernsthaftigkeit bewusst zu sein. Und wir wissen auch, warum uns Leute nicht mögen, warum sie unsere Songs, unsere Videos und die Art, wie wir auftreten, richtig schlimm finden.

Über die gewisse Dosis Albernheit in Hurts sind Sie sich also im Klaren?

Hutchcraft: Oh ja.

Anderson: Es gibt sogar ein richtig albernes Stück auf dem Album.

Ach ja, welches denn?

Anderson: Das erzähl ich nicht. OK, ich erzähl es doch. Es ist der Hidden Track.

Hutchcraft: Haben Sie das Album gehört?

Gewiss. Aber ich weiß nicht, ob ich den Hidden Track gehört habe.

Hutchcraft: (kreischt) Sie haben ihn verpasst!

Anderson: Er heißt „Verona“. Er ist für Sie. Wir widmen den Song jetzt offiziell Ihnen.

Danke. Gibt es einen Masterplan für Hurts?

Anderson: Nein, es kam alles wie von selbst. Weil in unser vorherigen Band zu viele Leute involviert waren, sind wir zwischenzeitlich vom Weg abgekommen, aber jetzt, zu zweit, machen wir exakt das, was wir immer wollten.

Hutchcraft: Im Grunde fing es mit „Un-spoken“ an, dem ersten Song, den wir gemeinsam geschrieben haben. Als er fertig war, dachten wir: Wow! Und von dort an hat sich es sich ganz natürlich entwickelt. Hurts ist sozusagen aus der Musik herausgewachsen und verändert sich dabei stetig.

Anderson: Und jetzt sind wir ein Comedy-Act.

Ich sehe, die Sache mit dem Witz hat Ihnen nicht so sehr gefallen.

Hutchcraft: Also ich fand sie gut.

In gewisser Weise hat mich Hurts ein wenig an Lady Gaga erinnert: sehr ernst, aber auch ein bisschen lustig dabei.

Hutchcraft: Ein großartiges Kompliment. Denn sie weiß genau, was sie tut. Alle Stars, die wir bewundern wissen es, sogar Marilyn Manson.

Der hat allerdings seinen Zauber inzwischen verloren.

Anderson: Oh ja, vor langer Zeit. Es ist traurig.

Wenn Sie so genau wissen, was Sie tun, können Sie bestimmt sagen, wieso Sie sich so sehr auf die 80er-Jahre beziehen. Wie alt sind Sie überhaupt?

Hutchcraft: Anfang 20.

Die 80er haben Sie also nicht allzu bewusst miterlebt. Wieso also dieser Bezug?

Hutchcraft: Weil die 80er ein Jahrzehnt waren, in der Popmusik sehr integer und individuell war. Ein großes Jahrzehnt für den Pop. Allerdings denken wir, dass die 90er einen größeren Einfluss auf uns haben. Wir bedienen uns nur bei den 80ern. Wir nehmen, was uns gefällt.

Dass es einen 80er-Hit von Black gibt, der ebenfalls „Wonderful Life“ heißt, hat Sie nicht gestört?

Hutchcraft: Den kennen wir natürlich, aber er ist uns erst wieder eingefallen, als unser Song fertig war. Wir dachten: Naja, irgendwie auch egal.

Sie treten mit einem Opernsänger auf.

Hutchcraft: Verrückt, oder?

Ohne Frage.

Hutchcraft: Aber es funktioniert. Wobei es eigentlich gar nicht funktionieren dürfte. Wir wollten unsere Konzerte ein bisschen dramatischer gestalten, warum also nicht mit einem Opernsänger? Außerdem beschützt er uns. Er ist furchterregend und groß.

Ach ja?

Anderson: Zuerst war er nur ein Experiment, wir dachten nie daran, ihn auf Dauer zu behalten. Aber er ist zwei Meter groß, hat eine tolle Ausstrahlung und ist komplett verrückt. Neulich sind wir mal ohne ihn aufgetreten, und ich fühlte mich wie ein verlorenes Häschen.

Wo haben Sie ihn gefunden?

Hutchcraft: Wir haben ihn in „Die Piraten von Penzance“ gesehen, einem Musical von Gilbert und Sullivan. Er spielte die Hauptrolle und er hat immer wild herumgefuchtelt. Und ich dachte: Wow! Stell dir vor, er würde bewegungslos auf der Bühne stehen und ernst gucken. Wir mussten ihm dann erst beibringen, wie man in ein Mikrofon singt. Er liebt es.

Mussten Sie sich auch beibringen, als Hurts ständig Anzüge zu tragen? Oder haben Sie das ohnehin schon immer getan?

Hutchcraft: Als sich unsere vorherige Band auflöste, waren wir wie verloren. Ohne Perspektive, pleite, also wirklich ohne einen Cent. Und jeden Mittwoch mussten wir zum Arbeitsamt, um unser Arbeitslosengeld abzuholen. Nach dem Motto: Hallo, hier bin ich, ich bin ein Verlierer, gebt mir bitte Geld, gebt mir einen Job. Aber wenn du dabei einen Anzug trägst, fühlst du dich besser. Er gibt dir Halt.

Wenn es mit der Wirtschaft bergab geht, putz dich heraus!

Anderson: Exakt.

Hutchcraft: Und wenn du von Manchester nach London fährst, weil du einen Termin bei einer Plattenfirma hast, du dir aber die Bahn nicht leisten kannst und du deshalb eine sechseinhalbstündige Busfahrt auf dich nehmen musst, dann fühlst du dich einfach wertlos. Aber dann ziehst du dir einen Anzug an, machst dir dein Haar und schon hast du dein Selbstbewusstsein.

Anderson: Würde und Stolz.

Hutchcraft: So hat es sich mit den Anzügen entwickelt. Außerdem hat es Glamour. Anzüge lassen einen bedeutender aussehen, als man ist. Und davon abgesehen: Wir haben mittlerweile gar keine andere Kleidung mehr.

Albumkritik S. 98

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