Tangerine Dream


Mit der Ernsthaftigkeit eines deutschen Forschers haben sich die Synthi-Spezialisten um Edgar Froese in die elektronische Materie vertieft. Die unermüdliche Pionier-Arbeit hat sich nach 15 Jahren bezahlt gemacht: Tangerine Dream stehen in dem Ruf, die konsequenteste Synthi-Band zu sein. Die Experimente gehen weiter, auch wenn sich mit dem TV-Krimi-Song "Das Mädchen auf der Treppe" jüngst ein kommerzieller "Ausrutscher" in die deutschen Hitparaden mogelte.

E n harter Brocken, diese Band Tangerine Dream. Vierzehn Jahre existiert sie, ohne in den Hitlisten ihres Heimatlandes aufzutauchen. Vierzehn Jahre investiert sie in elektronische Klangerzeuger und deren Zubehör, immer wieder fließen sechsstellige DM-Beträge vom Bankkonto ab. EH Jahre experimentieren die Musiker mit dem Synthesizer, der häufig Rohmaterial für banale, erfolgversprechende Pophits ausspuckt, musikalisches Popcorn für die Wegwerfgesellschaft.

Tangerine Dream werfen diese Hitimpulse tatsächlich weg oder bauen sie bestenfalls als kurze Fragmente ein in ihre zehn bis zwanzig Minuten fließenden Klangströme. Der Sündenfall vom Sommer ’82 – mit dem Titelsong des TV-Krimis „Das Mädchen auf der Treppe“ landet die Berliner Gruppe in den deutschen Top 20 – ist ein Betriebsunfall, unvorhergesehen, kein Grund für einen radikalen Kurswechsel, sagt Edgar Froese. „Diese Fernseh-Single hatten wir in drei Stunden fertig. Sie hat nichts mit unseren musikalischen Ambitionen zu tun.“ Tangerine Dream wollen bleiben, was sie seit mehr als einem Jahrzehnt sind: Schrittmacher für elektronische Musik.

Er ist ein Klotz, der Edgar Froese, ein trotziger Germane mit Bart und Haarteppich. Im Beiheft der LP TANGERINE DREAM ’70-’80 gibt es ein Foto von Edgar; der Blick finster und entschlossen, die Zigarette im Mundwinkel, zwei kräftige Unterarme mit Riesenhänden am Keyboard. Die kosmische Musik, Ihr bedröhnten Geister, kommt nicht vom lieben Gott und seinen lichten Scharen, sondern von Männern aus echtem Schrot und Korn. Zu Christoph Franke, auch schon zwölf Jahre dabei, paßt ein verwandtes Klischee: ein mißtrauisch dreinblickender Grübler, Haare wie Übergardinen, auf der Bühne ein schweigender und ernsthafter Hohepriester des elektronischen Zeitalters – das völlige Gegenteil einer seit zehn Jahren im gleichen Arbeitsbereich tätigen Berühmtheit, Rick Wakeman.

Tangerine Dream hatten nie etwas übrig für Glanz und Gloria der Popkultur, sie haben sich geradezu verbissen gewehrt gegen die Art Oberflächlichkeit, die andere Gruppen mit Genuß als Lebensinhalt zelebrieren können. Tangerine Dream sind Forscher, deutsche Forscher, nach Tiefe strebend, dem Größenwahn verfallen, hartnäckig und erfolgreich. Die metaphysische Komponente unserer Kultur (bitte „metaphysisch“ im Fremdwörterbuch nachschlagen), spürbar von Wagner über Einstein bis zu Hitler, mal bewußtseinserweiternd im humanen Sinn, mal total destruktiv ausgeprägt, bekommt bei ihnen die musikalische Form raumdehnender Soundfelder. Die stellen es jedem Hörer frei, wegzuschwimmen oder die Freiheit des Klangflusses zum konzentrierten und schöpferischen Denken zu nutzen.

Tangerine Dream brauchten Zeit, um dem eigenen Anspruch gerecht zu werden, steckten anfangs im Science-Fiction-Kitsch und im fernöstlichen Meditationsgefasel. ATEM, ZEIT, ALPHA CENTAURI (alles LP-Titel): hört, wie der Kosmos ruft. Musikalisch hatten sie jedoch damals schon nahezu die Reife späterer Werke wie RICOCHET, FORCE MAJEUR oder TANGRAM erreicht.

Die Band hat viel überstanden; den Versuch ihrer ersten Plattenfirma „Ohr“ (mit Rolf Ulrich Kaiser und Peter Meisel an der Spitze), aus einigen unbeholfenen Bemerkungen Froeses über „kosmische Musik“ einen gigantischen Werbefeldzug zu gestalten. Oder den ständigen Wettlauf mit der Entwicklung elektronischer Klangerzeuger, die, kaum daß sie verstanden sind, schon wieder durch weitergreifendes Gerät überholt werden. Und die langjährige Mißachtung durch heimische Medien, dazu die im Laufe der siebziger Jahre immer größer werdende Diskrepanz zwischen der bescheidenen Resonanz auf dem deutschen Plattenmarkt gegenüber Hitparadenplazierungen in England und den USA, Goldenen Schallplatten aus Australien und Frankreich.

Durchhalten und weiterkommen konnte die Gruppe aufgrund ihres eisernen Willens zum Experiment, darin eingeschlossen auch der Mut zum Irrtum. Ein (unergiebiger) Versuch, wie ihn die LP CYCLONE dokumentiert, ein plötzlicher Schwenk hin zu elektronischer Musik mit Schlagzeug, Gesang und Flöte, nimmt bei Tangerine Dream stets einen höheren Stellenwert ein als die Versuchung, einen Überraschungshit wie das „Mädchen auf der Treppe“ zu billigen kommerziellen Nachziehern auszunutzen. Ebensowenig wie die 1977 in den USA schlagartig anwachsende Popularität bei schwarzen Plattenkäufern.

Unsere Vorstellung von Kommerzialität“, sagt Edgar Froese, „geht dahin, daß wir die Mittel brauchen, um weiterhin gut und in aller Seelenruhe experimentieren zu können. Die Mittel werden wir uns beschaffen. So kommerziell werden wir sein. Aber nicht mehr.“

In der Rolle der Avantgardisten, der Schrittmacher an Instrumenten, die es zur Beatles-Ära noch nicht einmal gab, haben sich Tangerine Dream immerhin weltweit etabliert. Nach ihrer Erfolgsbilanz gehören sie in vielen Landern – England, Frankreich, Australien, neuerdings auch in Deutschland – zum gesunden Mittelstand. Aul der ganzen Welt konnte die Gruppe bislang ungefähr 2,5 Millionen Platten verkaufen, fast ausschließlich LPs. Geld verdiente sie auch beim Fernsehen in Deutschland: 20 bis 40 TV-Musiken (die genaue Zahl weiß Edgar Froese aus dem Stegreif nicht) hat sie komponiert und aufgenommen.

Hinzu kommt Filmmusik: Für „Sorcerer“ von William Friedkin (eine gescheiterte Neuverfilmung von „Lohn der Angst“), für den „Einzelgänger“ von Michael Man, für einen 1983 erscheinenden US-Film über die Mythologie der deutschen Geschichte. Unter dem Strich reicht das, um den Bandmitgliedern für deutsche Verhältnisse normalen Wohlstand zu garantieren und darüberhinaus ihr gewaltiges, teures elektronisches Instrumentarium zu finanzieren. Achtzig Prozent aller Einnahmen, so schätzt Edgar Froese, steckt die Gruppe in Instrumente und Anlage.

Dr. Robert Moog, Doktor der Physik, Hochfrequenztechnik und Musik, entwickelt 1966 in den USA den ersten Synthesizer. Ein revolutionäres Instrument: Töne können jetzt in unbegrenzter Vielfalt und beliebiger Klangfarbe synthetisch hergestellt werden. Man braucht keine Saiten mehr wie bei der Gitarre, keine schwingenden Luftsäulen wie bei Blasinstrumenten, keinen Klangkörper wie beim Klavier. Im Synthesizer werden elektrische Ströme mit Hilfe von elektronischen Steuerelementen nach Kriterien wie Tonhöhe, Lautstärke, Klang-Charakteristika modelliert; umgesetzt in hörbare Frequenzen, kommen dann Töne natürlicher Instrumente wie Trompete, Violine, Piano zum Vorschein, bei Bedarf aber auch ganz frei gestaltete Klangfarben, die man mit herkömmlichem Instrumentarium nicht erzielt. Entscheidend für die Vielfalt des Geräts ist seine Vorprogrammierung, seine Ausstattung mit Reglern und Tongeneratoren. Gespielt, d.h. gesteuert, wird der Synthesizer über ein ganz normales Keyboard-Manual.

Tangerine Dream erwerben den ersten Synthesizer 1971. Zuvor haben sie schon zwei LPs aufgenommen, ELECTRIC MEDITATION und ALPHA CENTAURI, mit herkömmlichen Instrumenten, angereichert durch einfache elektronische Effekte. Stilistisch suchen sie nach freien Formen, die das Songkorsett der Rockmusik sprengen. Getragen von der kulturellen Aufbruch-Stimmung der späten 60er – Studentenrebellion, erste Mondlandung, LSD, Pink Floyd, Jimi Hendrix – haben sie ähnlich wie Kraftwerk, Amon Düül, Can oder Ash Ra Tempel die Vision einer eigenständigen deutschen Rockmusik, die Elemente unterschiedlicher Avantgarde-Musiker wie Pink Floyd, Karl-Heinz Stockhausen, György ligeti oder John Cage vereinen soll.

Stimmen und Instrumente werden verfremdet, Geräusche und abenteuerliche Klänge phantasievoll erzeugt und bearbeitet (die Band Annexus Quam greift sogar zur Luftpumpe), Songstrukturen in wellenförmige Soundbewegungen aufgelöst. Der Gebrauch sanfter Drogen, das ganze psychedelische Klima, die chaotischen Lebensverhältnisse vieler Musiker (Ingeborg Schober hat die Szenerie in ihrem Buch „Tanz der Lemminge“ plastisch beschrieben) addieren sich zu einem brodelnden, spannenden Environment, aus dem plötzlich eine ganze Reihe wegweisender Schallplatten auftaucht: PHALLUS DEI und TANZ DER LEMMINGE von Amon Düül II, MONSTER MOVTE und TAGO MAGO von Can, AFFEN-STUNDE von Popul Vuh, KRAFTWERK I, ALPHA CENTAURI von Tangerine Dream.

Edgar Froese, 1944 in Tilsit geboren, gründet die Band 1967. Er kommt von der Berliner Akademie der Künste, Fachbereich Malerei und Grafik, war einige Jahre Gitarrist in verschiedenen Bands. Zur ersten Besetzung von Tangerine Dream gehören Musiker, deren Namen heute kaum noch jemand kennt: Volker Hombach (Geige, Flöte), Kurt Herkenberg (Baß), Lanse Hapshash (Drums), Charlie Prince (Gesang).

Der psychedelische Rock der amerikanischen Westküste (Jefferson Airplane, Grateful Dead) steht Pate bei ihrer Musik; Anfang 1969 löst sich diese Formation auf. Ein halbes Jahr später der zweite Anlauf: Froese engagiert Klaus Schulze (Drums) und Conny Schnitzler (Cello, Flöte, elektronische Effekte), produziert mit ihnen ein Demo-Band und schließt mit der kleinen Firma Ohr einen Plattenvertrag ab. ELECTRONIC MEDITATION wird mit Schulze und Schnitzler eingespielt, das nachfolgende Album ALPHA CENTAURI in der Besetzung Froese, Christoph Franke (Perkussion, Flöte), Steve Schroyder (Orgel). Klaus Schulze ist zu Ash Ra Tempel abgewandert, Christoph Franke kommt von Agitation Free.

Der stürmische, noch wenig reflektierte Einstieg in die neue Dimension der Popmusik schafft Verwirrung. In einem Band-Statement der frühen Tangerine Dream steht, es gehe darum, „schöne Musik zu schaffen, die sich von den Affekten des Hasses, der Aggression und der Verzweiflung löst und dem Zuhörer Freude und Hoffnung gibt; Musik, die den Menschen zurückholt in den Zustand der Unschuld und den Zusammenklang der kosmischen Harmonie. „

Zur Veröffentlichung von ELECTRONIC MEDITATION erklärt Edgar Froese: „Die Platte soll ein Übergriff auf Außerkünstlerisches sein. Die akustische Darstellung eines Raumes zwischen Geburt und Tod; die Wärme im Wesenskern des Menschen; sein Verhältnis zum Leben nach dem Tod.“

Die Reaktion vieler Hörer auf die damals neue deutsche Popmusik fällt ähnlich verwaschen und salbungsvoll aus. In einer Rezension des Albums ALPHA CENTAURI in „Sounds“ heißt es:

„Popol Vuh steigt in den Mikrokosmos, in die tiefsten Schichten des Seins hinab, um dort die musikalische Formel zur Identifikation zu finden. Tangerine Dream erhebt sich in den Makrokosmos, in den Open Space … An der Ernsthaftigkeit, eine Open-Space-Musik zu gestalten, ist nicht zu zweifeln.“

Der Trend ist klar: Hippies und Flower Power verwässern nach dem Woodstock-Festival in den Vermarktungskanälen des kapitalistischen Systems; die Studentenrebellion gegen dieses System mündet in eine sinnlose Spirale von Gewalt und Gegengewalt; den Slogan „Make love, not war“ walzt der immer brutaler werdende Vietnam-Krieg nieder. Für die Sehnsucht nach einer besseren Welt gibt es in der Realität keinen Boden mehr. Unter dem Einfluß östlicher Mystik tritt man daher den Weg nach innen an oder projiziert seine Hoffnung ins All – getragen von Schlüsselfilmen wie Stanley Kubricks „2001 – A Space Odyssey“. Die elektronische Musik wird Ausdruck einer neuen Innerlichkeit, der von Resignation durchwehten Gegenbewegung. An ihren Instrumenten können die Musiker diesen Stimmungswandel mit zunehmender Klarheit und schöpferischer Kraft gestalten; verbal läßt er sich kaum angemessen ausdrücken und schlägt sich deshalb ständig in penetranten Worthülsen wie „kosmische Musik“ nieder.

Konfus machen auch die Drogen. Ein Großteil der frühen deutschen Elektronik, und mehr noch impulsgebende LPs wie A SAUCE RFUL OF SECRETS, UMMA-GUMMA (beide von Pink Floyd), SGT. PEPPER (Beatles) oder SURREALISTIC PILLOW (Jefferson Airplane) sind geprägt durch Erfahrungen mit Marihuana und LSD. Diese führen bei musikalischer Sensibilität und wacher Gesamtverfassung zu

neuen Einsichten in Wesen und Organisation von Musik. Klassische Gesetze der Harmonie und Rhythmik entpuppen sich als starr; neue, freiere, oft atemraubende Verbindungen von Tönen und Geräuschen aus Instrumenten und dem umgebenden Lebensraum werden möglich.

In den ritualisierten Kiffer-Runden der frühen 70er zu Pink Floyd- oder Tangerine Dream-Musik lassen sich diese Prozesse allerdings nicht automatisch nachvollziehen. Wer in Lebensangst steckt, „zu“ ist, flüchten möchte, bekommt durch die Droge meist einen zusätzlichen Schub in diese Richtung, anstatt an den Pforten der verbesserten Wahrnehmung zu landen. Musik bleibt so nur Vehikel für einen Trip oberflächlicher Schwärmerei: eine Erklärung für das Mißtrauen, das der elektronischen Musik in der Mitte der siebziger lahre nach Verebben der Drogenwelle vor allem in den Medien entgegengebracht wurde (Rock Lexikon: ,… meditative Musik, die sich als Therapiemittel zur heilenden Selbstbesinnung ansahen.“ Sounds: „… viel Effekthascherei und technisch bemäntelter Leerlauf.“).

Zu diesem Zeitpunkt hatten Gruppen wie Tangerine Dream aber längst aus der gärenden Tonsuppe eine ausgereifte musikalische Form entwickelt. Klärung bringen 1972 und 1973 die LPs ZEIT und ATEM. Auf dem Doppelalbum ZEIT wird zum erstenmal der Synthesizer massiv eingesetzt; Christoph Franke, das neue Gruppenmitglied, Peter Baumann und als Gast Florian Fricke von Popol Vuh arbeiten ausgiebig mit der Erfindung des Dr. Moog. ATEM entsteht danach in der Triobesetzung, die Tangerine Dream weltweit bekannt macht und ein halbes Jahrzehnt bestehen bleibt: Edgar Froese, Christoph Franke, Peter Baumann. Auf beiden Alben ergänzt ein reichhaltiges Instrumentarium die Synthesizer: Orgel, Vibraphon, Perkussion, Cello. (Die Besetzungsliste von ZEIT führt vier Cellisten auf.) DAe Synthesizer gewin-Inen in der Musik von Tangerine Dream mehr und mehr an Boden. Im März 1974 kommt PHAEDRA auf den Markt, für mich die erste stilistisch geschlossene erwachsene Platte der Gruppe. Erkennbar ist ein individueller elektronischer Sound. Die Stücke bauen sich langsam auf; ineinander verschachtelte, fließende Soundmuster werden behutsam variiert, um die weitgreifenden Spannungsbögen nicht durch zu starke Turbulenz zu gefährden. Oft erkennt man Parallelen zur Minimal-Music eines Steve Reich oder Philip Glass.

Tangerine Dream haben sich aus dem Sog der Pink Floyd gelöst, ihre weiträumigen Klangbilder besitzen innere Festigkeit, es gibt keine aufgesetzten Effekte mehr. Sie machen Musik, die auf souveräne Art schön ist – nicht nervös, sondern gelassen und reif. Mit dem profanen Bild von Rockmusik hat das nicht mehr viel zu tun, eher wird eine Brücke geschlagen zu den Klang-Phantasien György Ligetis, seinen „Atmospheres“ zum Beispiel, die als Teil des „2001“-Soundtracks bekannt wurden.

In England erreicht PHEADRA die Top 10 der Charts; die ein Jahr später veröffentlichte LP RUBY-CON wiederholt diesen Erfolg. Dazwischen bringt Edgar Froese ein Soloalbum heraus, AQUA. Stilistisch unterscheidet es sich nicht so sehr von der Gruppenmusik, wurde aber mit dem von Gunter Brunschen an der Technischen Universität Berlin entwickelten Kunstkopf aufgenommen.

Der Kunstkopf sorgt für ein extrem räumliches stereophonisches Hörbild; ahnlich wie die Quadrophonie bleibt diese Erfindung in der Studiotechnik jedoch eine Randerscheinung.

Noch im selben Jahr wie RUBYCON bringen Tangerine Dream mit RICOCHET ihre erste Live-LP auf den Markt. Sie halten das Niveau der zwei vorhergehenden Studio-Alben und haben damit in nur zwei Jahren drei Meisterwerke der elektronischen Musik produziert. Im Ausland verbreitem sie ihre Basis: Die Chart-Erfolge in Großbritannien untermauern sie mit einer dreiwöchigen Tournee im Herbst 1974, bei der sie mit Hilfe eines „Video Synthesizers“ die Musik optisch anreichern.

Im Dezember ’74 gastiert Tangerine Dream in der Kathedrale von Reims, deren gotische Architektur einen passenden Rahmen für die pulsierenden Klangströme der Synthesizer abgibt. Weitere Konzerte in Kirchen folgen, auch eins in München. Zehn Tage tourt die Band im Frühjahr 1975 durch Australien und Neuseeland, anschließend spielt sie vor 6000 Zuhörern in der Royal Albert Hall in London.

Vorübergehend übernimmt Michael Hoenig den Part von Peter Baumann. Hoenig kennt die Gruppe gut, er gehört zum Kreis der Berliner Musiker, die seit Anfang der siebziger Jahre mit elektronischer Musik experimentieren und hat bei Agitation Free und mit Klaus Schulze gespielt.

Für Konzerte haben Tangerine Dream eine publikumswirksame, mystisch angehauchte Form gefunden. Die drei Musiker kommen in der verdunkelten Halle (oder Kirche) schweigend auf die Bühne, setzen sich an ihre mehrere Quadratmeter großen, mit Ketten von Kontrollichtern geschmückten Synthesizeraufbauten, legen ein paar Schalter um, drehen ein paar Knöpfe und entlassen den ersten Klangstrom in den Raum. Am Ende drehen sie die Knöpfe zurück, kippen die Schalter wieder in die Gegenrichtung und verlassen die Bühne. Ein bißchen zu heilig, für meinen Geschmack.

Der kreative Schub der Jahre ’74/75 hat dann mehrere Ursachen. Die Trio-Besetzung ist aufeinander eingespielt, alle sitzen jetzt am Synthesizer, auch Froese, der nur noch sporadisch Gitarre spielt. Der Umgang mit dem Instrumentarium wird allmählich leichter, der Synthesizer lenkbarer, was der meistens improvisierten Musik von Tangerine Dream mehr Volumen verleiht. „Als wir die ersten Synthis kauften“, erzählt Edgar Froese, „haben wir zunächst einmal gelernt, die Fachausdrücke zu entschlüsseln, da gab es keine Übersetzung, nichts. Wir mußten überhaupt erst einmal funktionelle Abläufe erkennen und so fort.“

Schließlich trennt sich die Gruppe auch von Rolf-Ulrich Kaiser und „Ohr“, und zwar im Zorn und vor Gericht. Weil andere deutsche Plattenfirmen nur geringes Interesse zeigen, unterschreibt Tangerine Dream bei Virgin in England. PHAEDRA erscheint als erste LP auf dem Virgin-Label, die Werbekampagne, die die neue Firma zum Einstand organisiert, fördert den plötzlichen Erfolg in England. Die Bilanz der zwei fruchtbarsten Jahre in der Karriere der Band schlagen sich in der Presse nieder: Der „Melody Maker“ ortet die „führende Synthesizer-Gruppe der Welt“, die „Süddeutsche Zeitung“ spricht von „Schrittmachern der Zukunftsmusik“.

Die Jahre ’76 und ’77: viele Tourneen, England, Frankreich, Spanien und schließlich USA.

Das Laserium in Los Angeles mit seinen spektakulären Lichtstrahl-Effekten wird zum unzuverlässigen Tournee-Partner, da die anfällige Technik nicht immer funktioniert. Drei LPs kommen auf den Markt: STRATOSFEAR, der Soundtrack zu Friedkins SORCERER, das bei der US-Tournee mitgeschnittene Doppelalbum ENCORE. Die Musik ist gefälliger geworden, süßlicher, leichter konsumierbar. Nicht schlecht, aber nicht mehr so beseelt vom Drang zu neuen Grenzen wie PHAEDRA und RUBYCON.

Inde 1977 ein Bruch: Peter Baumann entscheidet sich für eine Solokarriere. Sein erstes eigenes Album, ROMANCE ’76, entpuppt sich als Glanzlicht der elektronischen Musik. Der 2 5jährige Berliner folgt seiner romantischen Ambition, ohne zunächst in Gefühlsduselei abzudriften. Er bildet klare, schwebende Klanglinien, die über rhythmisch pulsierende Felder hinweggleiten, gelegentlich orchestrale Klangwolken durchziehen. Eine Musik, die starke Bilder suggeriert und oft spirituell anregend wirkt.

Sein zweites Soloalbum, TRANS HARMONIC NIGHTS, 1979 von Virgin veröffentlicht, wirkt dagegen kleinmütig, verliert sich in einer Gartenzwerg-Idylle, vergleichbar den Alben FLAMMENDE HERZEN und STERNTALER von Michael Rother. Anfang der achtziger Jahre siedelt Peter Baumann nach New York über und sucht mit der LP REPEAT REPEAT den Anschluß an die aktuelle Großstadtmusik. Er findet ihn zunächst nicht, arbeitet aber 1982 in den USA an einem weiteren Album.

Froese und Franke begegnen der Krise mit einem Kraftakt. Sie holen den Berliner Schlagzeuger Klaus Krieger und den englischen Multiinstrumentalisten Steve Jolliffe in die Gruppe. Jolliffe hat vorher bei der britischen Bluesrock-Band Steamhammer gespielt, bringt also einen ganz anderen musikalischen Background mit. Die Band demonstriert Zuversicht, kündigt mehr Vielfalt in ihrer Musik an. Sie setzt besonders auf den Ideenreichtum Klaus Kriegers mit seinen Perkussionsinstrumenten. Edgar Froese hat mit Krieger schon bei den Aufnahmen für sein viertes Soloalbum ACES gearbeitet. Beide haben mit dem Zusammenspiel von elektronischem Sequenzer und Schlagzeug experimentiert, ein ausbaufähiger Versuch. Das neue erweiterte Konzept schlägt sich 197 8 nieder und zwar auf der LP CYCLONE, aber es überzeugt nicht. Die Platte hat spannende Stellen, ist aber meist zäh, offenbart nichts von dem Schwung, den ein zündendes Experiment erzeugt. Heute meint Edgar Froese kurz und bündig, CYCLONE sei ein „Ausrutscher“.

Nach der ausgedehnten Europatournee des Jahres ’78 (mit Lasershow und zwei Dutzend Roadies für Aufbau und Transport der gesamten Tourneetechnik und der Instrumente) steigt Steve Jolliffe wieder aus; Klaus Krieger taucht im folgenden Jahr auf der LP FORCE MAJEUR noch als Session-Musiker auf. Froese und Franke besinnen sich auf ihre eigentliche Stärke, die Synthesizer, und schaffen erneut ein gutes Album, mit einer hervorragenden ersten und einer schwächeren zweiten Seite. Im Titelsong „Force Majeur“ beweisen sie Mut zur großen Form, fast 19 Minuten lang reiht sich Klangbild an Klangbild, dynamisch geschickt verbunden. Stellenweise sitzt aber zuviel Zuckerguß in den Rillen, auch Melancholie klingt an; ohne diese Zutaten kommt Tangerine Dream am Ende der siebziger Jahre nicht mehr aus.

Mit TANGRAM erreichen Froese und Franke ein weiteres Jahr später wieder einen kreativen Höhepunkt. Ich halte TANGRAM neben PHAEDRA für die beste aller Tangerine-Dream-Platten Die Gruppe geht souverän und gelöst mit der Elektronik um, übernimmt das Konstruktionsprinzip der ersten Seite von FORCE MAJEUR, hält es aber ohne Spannungsabfall zwei Plattenseiten durch und erzeugt eine Fülle beeindruckender Klangformen. EXIT und WHITE EAGLE, die zwei seitdem noch veröffentlichten LPs, fallen viel schwächer aus, trotz musikalischer Konzentration in kürzeren Stücken.

Auch das Hoch der auslaufenden siebziger Jahre bringt Edgar Froese in Verbindung mit dem wachsenden Einblick in das Potential des Synthesizers. Er sagt: “ Wir sind jetzt soweit, daß wir die Sachen in der Hand haben, daß wir sie kompositorisch bewußt und an den richtigen Stellen einsetzen können. Es war ja so, daß wir in den ersten Jahren, als wir mit Elektronik experimentierten, überhaupt nicht hundertprozentig wußten, was wir da eigentlich einstellten, so daß wir vom Ergebnis immer selber überrascht waren. Erst jetzt können wirmüeinerKlangvorstellung im Kopf ans Gerät gehen und sie auch realisieren. Du kriegst raus, was dir vorschwebt. Du kannst dich von Knopf und Schalter lösen, brauchst dich nicht mehr so wahnsinnig anzustrengen, kannst dir über strukturelle Dinge Gedanken machen.“

Studiogast bei den Aufnahmen zu TANGRAM, inzwischen festes Mitglied der Gruppe, ist Johannes Schmoelling. Edgar Froese kennt ihn aus der „Schaubühne“, dem bekannten Berliner Theater, wo Schmoelling einen Job als Tontechniker hatte. Er ist also mehr elektronischer Handwerker und hat zunächst wenig Ambitionen, elektronischer Künstler zu werden. Er gilt als Bach-Freak, war in Norddeutschland jahrelang Kirchenorganist. Dennoch: die Verbindung ist stabil, das nächste Album könnte erneut zum Experimentierfeld werden, auch wenn Edgar Froese zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine bestimmte Idee hat.

Es gibt neue elektronische Instrumente und Tangerine Dream haben ausgiebig investiert: Aus Australien kommt der Fairlight, ein Soundcomputer mit Bildschirm und auswechselbaren Speichereinheiten; eine große Sache, deren tatsächliches Ausmaß zur Zeit viele Musiker zu enthüllen versuchen. (Vergl. Fairlight-Story ME 11/82.) Entwickelt wurde der Emulator, ebenfalls bestückt mit einem Computer, der über Mikrofon Töne und Geräusche aufnimmt und sie für den Bereich eines kompletten Keyboard-Manuals aufbereitet. „Riesige Klangfülle“, so Froese, verspricht das Synklavier, ein Wurf der Amerikaner.

Arbeiten läßt sich mit diesen Neuentwicklungen nur im Studio. Dort werden Tangerine Dream Anfang 1983 vier Filmmusiken für Kino und Fernsehen produzieren, ein neuer „Tatort“ ist auch dabei. Im Februar reist die Band nach Australien, auf die Philippinen und – erstmals – nach Japan. Auf den Philippinen stehen mehrere Konzerte auf dem Programm, deren Erlös Kinderdörfern zugute kommt. Tangerine Dream unterstützen finanziell Projekte in der Dritten Welt, außerdem die Arbeit von Amnesty International. Froese und Franke haben seit einiger Zeit kürzere Haare. „Aber sonst“, sagt Edgar Froese, „lassen uns alle Trends kalt.“