U2 – Verlorene Ideale


Die Kommerz-Haie jagen U2. Album, Film, Merchandising sollen möglichst viel Geld bringen. Bleiben dabei die Ideale auf der strecke? Teddy Hoersch erläutert Bonos Zweifel an der Zukunft.

Dublin im Spätsommer ’88. Die IRA beschließt, weiterhin Politik durch Terror zu ersetzen und zieht eine blutige Spur des Schreckens quer durch Europa. Das Ergebnis: Tote auf der einen, inhaftierte „Volkshelden“ der IRA auf der anderen Seite.

Ein ganz anderer irischer Volksheld findet sich im gleichen Spätsommer ’88 in einem ganz anderen Gefängnis. Bono, der Messias von U2, spürt die Fesseln der Publicity, das Gefängnis des Erfolges.

U2 sehen sich plötzlich Mechanismen ausgesetzt, die sie immer als Auswüchse des Musikbusiness gebrandmarkt haben. Der Zeitdruck im Vorfeld der vielfältigen Aktivitäten löste hektische Nervosität aus, die im U2-Umfeld für Magenschmerzen und einen rüden Umgangston sorgte.

Die Windmill Lane Studios in Dublin, U2-Bastion und -Büro, schotten sich nach außen ab wie Fort Knox. Was wirklich hinter diesen Mauern passiert, ist geheime Kommandosache. Die Band selbst hat sich mit Manager Paul McGuiness in die USA verzogen. In Tennessee und Kalifornien laufen die Schönheits-Reparaturen an der neuen LP RATTLE AND HUM und dem gleichnamigen ersten Kinofilm fast parallel. Mischen und schneiden, schneiden und mischen, Bono, The Edge, Adam Clayton und Larry Müllen machen Nachtschicht.

Eine Verschnaufpause wäre dringend notwendig, aber die Single „Desire“ mußte bis 19. September fertig sein, RATTLE AND HUM soll am 10. Oktober in den Läden stehen, elf Tage später ist die Film-Premiere in Dublin anberaumt. (In Deutschland startet der von Spielberg-Schüler Phil Joanu inszenierte Film übrigens am 17. November.) Für jeden Fan trotzdem ein nettes Wort haben, Hände schütteln, vor der Studiotür Autogramme geben -— welche andere Band im U2-Kaliber hat noch so engen Kontakt zur Basis?

„Ich fühle mich immer noch nicht wie ein Popstar“, sagt Bono gereizt. „Selbst wenn der tausendundeinste Fan klopft und um ein Autogramm bittete, versuche ich freundlich zu sein. Ein „Popstar“ würde solchen Leuten die Tür vor der Nase zuschlagen. Ein echter Popstar —kann ich mir vorstellen -— hält sein Publikum auch für beschränkt. Man reckt seine Faust -— und 30, 40 oder 50.000 tun es dir nach. Entweder hält man sie für Lemminge, die einem blind folgen, oder man hält es für eine Geste der Gemeinsamkeit.

Unser Publikum ist nicht dumm. Wenn ich die Leute auffordern würde, auf den Händen zu gehen, würden die mir schon die richtige Antwort geben.“

Ein „normaler“ Popstar? Wohl kaum. Bono überredet sich dauernd selbst, daß er bleiben kann, was er am wenigsten ist — ein normaler Mensch. „Es ist wahr -— wir haben lange und hart gearbeitet, um der Anonymität zu entrinnen, die wir jetzt zum Leben brauchen. Sicher, wir haben einen Teil unserer Träume verwirklicht, aber es ist tatsächlich nicht gelogen: We still haven’t found, what we’re looking for…!

In unserer Kultur verwechselt man sehr gerne Quantität mit Qualität. Das Größte wird meist gleichgesetzt mit dem Besten. Okay, wir sind die größte Rockband der Welt. Na und? Das bedeutet mir gar nichts. Wir wollen was ganz anders: die besten sein. Musik machen, die man noch nie so gehört hat. Und ob wir das jemals schaffen, ist mehr als fraglich.“

Auch Bono spürt den Druck des Kommerzes im Nacken, wird in einer Art und Weise vermarktet, die sich grob betrachtet —- in nichts von der Vermarktung eines Michael Jackson unterscheidet.

„Das Problem“, so Bono, „liegt weniger bei uns, als vielmehr bei der Musikindustrie, mit Betonung auf dem Wort Industrie. Mag sein, daß wir für alle, die in diesem Geschäft arbeiten, eine Ware sind. Wir selbst sehen uns nicht als Ware. Uns geht es immer noch und immer wieder um die Musik. Ich kann nicht dagegen angehen, daß T-Shirts verkauft werden. Ich kann nur verhindern, daß miserable T-Shirts verkauft werden. Und ich kann dafür sorgen, daß wir gute Songs schreiben. Denn nur über die Musik haben wir Kontrolle.

Wenn man aber die kreative Kontrolle behält, ist die Sache relativ okay. Dann nimmt man das Privatflugzeug in Kauf, das einen nach dem Konzert schnell nach Hause zur Familie bringt. Dann nimmt man zum Teil wenigstens auch den Lifestyle Rock’n’Roll hin.“

Bono hatte nie Mühe mit der Rolle des einsamen Predigers in der Wüste. Das „Sex & Drugs“-Credo der Rock-Generation war nie sein Ding. Im Gegenteil! Seit sich das irische Quartett per Anzeige gefunden hat, wetterte er gegen die Verführungen der Branche. Obwohl Trinkfestigkeit zu den irischen Tugenden zählt, verweigerte Bono selbst König Alkohol den Gehorsam.

„Wenn Du in die Garderoben und Büros mancher Rockband schauen könntest, dann würdest du wirklichen Machtmißbrauch sehen. Da gibt’s Leute, die ihre Angestellten auf die Knie zwingen, nur weil sie sie bezahlen. Da läßt man die Crew stundenlang warten, nur weil man keinen Bock auf den Soundcheck hat. Da werden Menschen sexuell benutzt, nur weil sie auf deine Musik abfahren.

Ich weiß nicht, ob ich mich dieser Dinge auch schuldig gemacht habe. Aber das ist die Macht im Rock’n’Roll, die ich bekämpfe.“

Kein Zweifel: Die Ideale sind noch immer die alten, aber sind sie nicht trotzdem längst abhängig von dem Business und seinen Mechanismen geworden? Hat nicht allein schon das Geld ihre Situation völlig verändert?

„Ich habe mich wie ein reicher Mann gefühlt, als ich keinen Penny hatte. Das einzige, was Geld bislang in meinem Fall bewirkt hat: Es hat mich alten Freunden entfremdet. Du hast dich verändert, höre ich immer. Dabei haben sie sich veränderet, weil sie wissen, daß ich viel Geld verdient habe.“

Unterstützt wird Bonos Aussage durch die Tatsache, daß sich der Charakter von RATTLE AND HUM unter dem Einfluß der ganzen Band entgegen den ursprünglichen Vorstellungen der Marketing-Strategen entwickelt hat. Bono und Kollegen wollten den billigen Trick, das Album als Soundtrack des Films zu veröffentlichen und so die Plattenkäufer ins Kino und die Kinobesucher an die Plattentheke zu locken, nicht unterstützen. Deshalb wurde RATTLE AND HUM ein Doppelalbum mit 8 Live-Tracks (u.a. „Heiter Skelter“ und „All along The Watch Tower“), mitgeschnitten auf der Joshua Tree-Tour in den USA und zehn komplett neuen Studio-Songs, die von Jimmy Iovine teilweise im legendären Sun Studio in Memphis/Tennessee produziert wurden. So erreichte die Band, daß das Album auf keinen Fall als Film-Soundtrack beworben werden darf.

Wehmütig denkt Bono nach solch notwendig gewordenen strategischen Schlachten an alte unkomplizierte Zeiten zurück, als die Band ihre Fans noch nicht vor den Auswüchsen der Marktschlacht schützen mußte. „Früher konnte ich nach Konzerten mit Leuten reden, ausgehen usw. Einmal haben 13 Leute bei mir im Hotelzimmer auf dem Boden übernachtet. Inzwischen weiß ich nicht mehr, mit wem ich mich backstage unterhalten soll. Meistens bedeutet das: Ich gehe allein ins Hotelzimmer. Und obwohl es die beste Suite ist, fühlt man sich wie in einer Gefängniszelle.“