Über Chorea & Co.


Nach einem Jahr Pause fand 2009 wieder das Berlin-Festival am Flughafen Tempelhof statt. ME-Porter Josa Mania-Schlegel war vor Ort und schildert seine Eindrücke.

Über Chorea und andere Bewegungserscheinungen- das BerlinFestival 2009

Dass die Veranstalter des Berlin-Festivals schon immer stets die Finger am Puls der Zeit haben, dürfte mittlerweile hinlänglich bekannt sein. Schon 2006 hatten sie die noch bis dato ziemlich unbekannten Klaxons gebucht und 2007 fanden sich aufstrebende Debütanten, wie Datarock oder Uffie im Line-Up wieder. Nun hat das Berlin-Festival ein Jahr Pause gemacht und dafür mächtig umgebaut. ŽDer Flughafen Tempelhof bleibt zwei Tage lang suburbaner Brennpunkt der Musikgeschichte- und das mitten in Berlin. Jedoch streiften sich die Veranstalter für dieses Jahr die Woodstockmanieren aus dem Haupthaar und überraschten mit einem bestens durchdachten Festivalgelände. Man saß nun nicht mehr, wie noch vor zwei Jahren, mit 300 dichten Hippies auf einer Wiese vor der Mainstage, was ja auch durchaus seinen Flair hatte – nein, das Berlin-Festival 2009 am ehemaligen Flughafen Tempelhof beeindruckt durch zwei grandiose Bühnenkonzepte, die für Freunde der Afterhour einerseits, aber auch Liebhaber des klassischen Rockkonzerts keine Wünsche offen lassen. Da wäre zunächst die etwas kleine Electro-Bühne, die Freitagabend Bodi Bill erst so richtig einweihen durften. Ein kleiner Pulk von Techno-Nerds versammelte sich dann kreisrund um das 80’s Revival in Person und tanzte ganz entspannt. So richtig Sinn machte die Bühnenidee aber erst wieder zum Sonnenaufgang, als die Berlin-Battery – man erinnere sich an die T-Shirts: „Wasted German Youth“, ja genau, das sind die- um Jack Tennis und DJ Supermarkt das Morgengrauen einläuteten, man stand plötzlich mitten im gigantischen Panorama eines multisensorischen Spektakels, bestehend aus Sonnenaufgang links, drei DJs mittig und rechts der tiefsten Nacht. Dass dann auch nur noch rund 50 potentielle Hustensaft-Leichen an dem Erlebnis teilnahmen steigerte nur noch die Exklusivität des Moments. Wer dann auch noch ein paar Pillen eingeworfen hatte, so wie es auf dem Berlin-Festival an der Stundenordnung stand, erinnerte mit seinen Körperbewegungen an jene auf antiken Reliefs dargestellten Bacchantinnen und machte durch den Rhythmus, mit dem ihre Muskelgruppen noch beständig zusammen arbeiteten einen nahezu graziösen Eindruck. Nicht vergessen haben wollen wir am Freitag aber den grandiosen Auftritt des Peter Doherty. Denn pünktlich war er. Und zwar nur er – stand der Ex-Libertine doch allein mit seiner Gitarre und zwei eigens eingeflogenen Ballerinas, die in nicht viel mehr als in ein Tuch mit Union-Jack-Aufdruck gewickelt waren, auf der Bühne. Eine schöne Idee war dieser Auftritt, denn weit mehr als einen runden Theaterspots, einer Flasche Wein und seinen Hut brauchte Doherty an jenem Abend nicht um ein paar tausend Britpop-Herzen im tiefsten Inneren zu berühren. Gut gelaunt – das aber erst nach einer halben Flasche Wein, das sei notiert!- kommunizierte er mit dem Publikum, packte Geschenke aus, die ihm so entgegenflogen und nahm auch mal sein bestes Stück vom Kopf, als ein irrer Fan nur noch unentweg brüllte „Take your hat off, Peter! The haaat!!“. Die musikalische Performance überbot dann auch erwartungstreu alle melodischen Beiträge des Festivals. Mit einer gelungenen Compilation aus Libertines-, Babyshambles-, und seinen neuen Solokompositionen bot er wohl DAS Pop-Moment des Festivalsommers dar. Nur einige Stunden zuvor jedoch stolperte sich das Line-Up einmal doch über die Füße. Den zwei stocksteife Plattendreher mit einer extra-spießigen Sängerin auf die Bühne zu zwingen, hatte wohl niemand verlangt. St. Etienne jedoch taten dem verwöhnten Publikum einen üblen Tort an, als sie die Stimmung schon in den frühen Abendstunden unter die Dielen schoben. Nach einem klassischen Indierock-Intro in Form von Kilians und The Rifles durfte man sich dann am Samstag auf eine fulminante Nacht vorbereiten. Zoot Woman hielten einem mit satten Basslinien den Atem an, noch bevor man in Jarvis Cocker den verloren gegangenen Stand-Up Comedian wiederfand. Ein ganzes gefühltes Orchester hatte er scheinbar dabei und erwies seinen Kompositionen die Würde, die sie verdient haben – nämlich live und echt gespielt zu werden. Wem das zu wenig rockte, den verschlug es zum hysterischen Electro-Zwerg Bonaparte, der seine Gitarre vergewaltigte, sich umherwälzte und unbeholfen die Schminke aus dem Gesicht wischte: „You know too much, too much, too much, too much, too much…!!“ Nicht nennenswert eigentlich bleibt die Performance von Deichkind. Legten sie doch nur so routinert wie eh und je die exakt gleiche Bühnenshow wie schon zu Beginn der Arbeit Nervt!- Tournee hin und hatten sichtlich keinen Spaß an der Sache. Der plötzliche Tod eines ihrer Mitglieder ist vielleicht ein Grund dafür, aber keine Entschuldigung. Denn wohl keiner versteht, warum sie nach dem Herzversagen ihres Freunds, hauptsächlichen Komponisten und Produzenten weiterhin das Publikum „Bieren und Federn“, und die pervers großen Wasserpistolen voll Vodka Lemon in die Münder der Massen richten. Vor fünf Jahren leider haben selbst die Songs Hamburger Schule noch viel mehr Spaß gemacht, aber das weiß ja zum Glück jeder Deichkind-Freund. Von da an ging es mit dem Berlin-Festival auch nicht mehr weiter bergauf. Der kurzfristig eingesprungene Hot Chip-Member Joe Goddard legte ein ermüdendes DJ-Set hin, während sich Digitalism zeitgleich an ihren Turntables die blanke Blöße gaben. Kein Wunder, denn drei Stunden hält selbst das tougheste Duo keine Horde kaputter Fußgelenke tanzend vor der Bühne. Digitalism waren, wie schon auf dem Melt, einfach wieder ein viel zu spät angesetzter Act. Was bleibt, in den Köpfen, ist das Bild des Peter Doherty. Wie er sich da in dem zur Konzerthalle umfunktionierten ehemaligen Hangar die Gitarre auf den wirklich dick gewordenen Bauch legte, war nicht wirklich ein Bild von Gesundheit. Hoffen wir, dass er uns noch viele Minuten liebevoller Saitenanschläge gönnt. Auf dem Berlin-Festival zumindest tat er das und verzauberte damit die Massen.

Josa Mania-Schlegel – 21.08.2009