Unter Geiern


Bevor BOY GEORGE auf Seite 40 höchstpersönlich das Wort ergreift, nimmt sich unser verehrter Doktor Gonzo die internationale Presse zur Brust. Die nämlich hatte in ihrer Sommerloch-Verzweiflung nichts besseres zu tun, als George O'Dowd regelrecht zu schlachten. Lesen Sie: Das Plädoyer für einen Totgesagten!

Waren’s 750 Pfund, wie „Bravo“ wußte, oder 20.000 Schilling, wie der österreichische „Kurier“ vermeldete? Waren’s nur lumpige 3000 Mark, von denen „Bild“ wußte, oder doch lockere 800 Pfund, wie „The Sun“ verriet. Ach was, es waren sicher satte „1000 Pfund pro Tag“, die der „Daily Express“ zahlte, denn ein Millionär vom Schlage eines George O’Dowd macht auch beim Rauschgiftkonsum keine halben Sachen.

Aber. Würde Boy George nun „in acht Wochen“ („Bild“) oder schon „in sechs Wochen“ („Observer“) den Löffel abgeben, oder war er bereits „am Sterben“ („Kronenzeitung“)?

Ach was, der Sänger, der „20 Kilo abgenommen“ und nur noch „ein Schatten seiner selbst ist“ („Kronenzeitung“), tat all den Tintenpissern den Gefallen nicht, obwohl „Wochenend“ unlängst doch schon so drängend fragte: „Wegen des toten Freundes: Boy George wieder an der Nadel?“ Statt dessen sah man ihn wohlauf und putzmunter Mitte August bei der „Face“-Party im Londoner Limelight Club.

Ja wie, das soll schon alles gewesen sein, wo doch die eifrige „Kronenzeitung“ wußte, daß „ihm lebenslang droht“? Tja, das war wohl alles, denn „Bild“ hat längst einen neuen Naseweis ausgemacht, denn nun geht’s um „Kokain: Wilde Partys mit Margaret“ und um eine „Kokain-Party im Palast der Königin“ („Hamburger Abendblatt“). Und wohlgemerkt, bei besagter Margaret handelt es sich nicht etwa um die siebte Kammerzofe von links, sondern um die leibhaftige Schwester der Queen.

Konstatieren wir also zunächst, daß sich das Vereinigte Königreich derzeit voll im Drogenrausch befindet. Und warten wir (hoffentlich nicht mehr allzu lange) auf den Tag, da „The Sun“ vermeldet, daß Maggie Thatcher hin und wieder gern zu einem Opiumpfeifchen greift.

Doch kommen wir wieder zurück zu Boy George. Daß er Heroin konsumiert hat, bestreitet keiner, auch er nicht. Doch „all das andere, die Mengen, die Summen und die Zeit, wie lange er zu leben habe“, so sein Bruder David, „ist ein Haufen erlogener Scheiße!“ Und er, der sich mit seinen Enthüllungen ausgerechnet an das Vorverurteilungs- und Hinrichtungs-Blatt „The Sun“ gewandt hatte, fügte noch reumütig hinzu:

„Ich habe nie gesagt, daß er noch acht Wochen zu leben habe. Ich bin doch kein Doktor. Und ich habe auch nie einen Zeitpunkt genannt, wann er (Boy George) damit angefangen hat.“ Was wir hier also haben, liebe Freunde, ist schlicht und ergreifend der traurige Fall eines in Ungnade geratenen Musikers, der der Boulevard-Presse in die erbarmungslose Sommerloch-Maschinerie geraten ist.

OK, er hat Heroin genommen, doch wie oft und wieviel, das weiß sicher nur er ganz genau. Nur, Heroin genommen, das haben vor ihm schon ganze Hundertschaften von Musikern. Ich will das Scheißzeug hier in keinster Weise verherrlichen oder als etwas ganz Normales abtun. Aber der „Fall Boy George“ stinkt meilenweit zum Himmel.

Erinnern wir uns doch nur einmal eines Keith Richards. Der zog jahrelang mit den Stones als wandelnder Apothekenschrank durch die Lande, vermied es zwar tunlichst, bei Freunden mit einer Überdosis auf der Toilette aufgefunden zu werden, hatte aber seinen diebischen Spaß daran, daß ihn der „NME“ jahrein, jahraus zum „Most elegantly wasted human being“ kürte. Ich will mich auch nicht über seine Nehmer-Qualitäten oder die eines Pete Townshend, eines Eric Clapton oder eines Jack Bruce auslassen, doch sie alle waren für längere Zeit dem „Devils Dandruff“ verfallen, ohne daß sie die Fleet Street zu Schlachtopfern gemacht hat. (Über Phil Lynotts Drogensucht hat man zum Beispiel nie erfahren!) Warum also Boy George? Ganz einfach. Weil der in den Augen besagter Presseknechte gefährlich war. Ein zwielichtiges Geschöpf, der mal Boy George, mal Sister Georgina war. Der den Schreiberlingen auf Wunsch (oder nicht auf Wunsch) das buchstäblich Blaue vom Himmel heruntererzählte und sich hinterher auch noch köstlich darüber amüsierte.

Und so ein Mensch ist natürlich gefährlich, denn man denke nur, was er noch alles in Millionen harmloser Teenager-Hirne anzustellen vermag. Wo kämen wir denn hin. wenn wir plötzlich eine ganze Generation transsexueller Jugendlicher hätten, die am liebsten in abenteuerlicher Kostümierung vor dem Spiegel stünde und keine klaren Aussagen zum Falkland-Krieg und zum Bergarbeiter-Streik zu machen hätte. Das wäre doch schon die pure Anarchie. Oder?

Georges Bruder David war es, der „The Sun“ auf ihn losließ, jenes widerwärtige Organ, gegen das sich“.Bild“ wie eine Kirchenzeitung ausnimmt. Hätte George dicke Titten gehabt, die man tagtäglich auf der berühmten „Seite Drei“ hätte präsentieren können, der Drogenkelch wäre an ihm vorübergegangen. Aber ein Popstar, der sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekennt?

Ziehen wir ein Fazit. Schwul (obwohl England seit Jahrhunderten eine beachtliche homosexuelle Tradition hat), exzentrisch (obwohl das Land seit jeher als Mutterland der Exzentriker gilt) und erfolgreich darf man auf der Insel — siehe Elton John. Freddy Mercury etc. etc. — sicher sein, doch man darf sich nie mit“.The Sun“ und ähnlichen Revolver-Blättern über Kreuz legen.

Was also ist zu tun? Sollten wir uns der ,.Spex“-Kampagne“.Kämpft für Boy George“ anschließen, oder sollen wir für ihn beten, da er ja laut „Kronenzeitung“ bereits „am Sterben“ ist? Weder das eine, noch das andere. Wir lassen mit ihm einfach unsere Finger vom fiesen „H“ und beten darum, daß Boy George wieder zu seinem G’spusi Jon Moss zurückfindet, von neuer Liebe entflammt neue schöne Pop-Songs schreibt und der „Sun“ Verleumdungsklagen bis in die nächste Steinzeit androht.

Sorge mach‘ ich mir nur um die arme Margaret, denn die kann weder singen, noch ist sie irgendwie exzentrisch, und sie hat schon gar keine Plattenfirma wie die mit dem furchtlosen Seemann Richard Branson hinter sich. Aber vielleicht stellt sich ja der „Sun“ für „Seite Drei“ zur Verfügung…