Verdammt, kein Treppchen!


Das Gesamtkunstwerk Muse kann nur begreifen, wer es live erlebt hat. Aber wer schraubt da hinter den Kulissen eigentlich an welcher verrückten Idee?

Am 16. und 17. Juni 2007 gaben Muse die Konzerte ihres Lebens (zumindest was die vorläufige Geschichtsschreibung betrifft). An zwei Tagen lockten sie je 70.000 Fans ins brandneue Wembley-Stadion in London.

Das Wetter: perfekt. Die Sonne neigt sich dem Horizont entgegen. Die Vorgruppen – Dirty Pretty Things, My Chemical Romance, Biffy Clyro und The Streets – haben ihren Job erledigt. Durch das Stadion wogt klassische Musik. Es beginnt die Show, wie eine ordentliche Show zu beginnen hat: mit einem Knall. Aus der Konfettikanone. Aus dem Nichts steigen drei Gestalten empor. Die Nummer mit der Hebebühne. Raketenstartstimmung wie auf Cape Canaveral. Die drei Hauptdarsteller recken die Arme und besteigen eine Gangway, die zur Bühne führt. Zehn Männer mit Gasmasken und gelben Schutzanzügen geben ihnen Geleitschutz: Dominic Howard, Drummer, der Mann mit den grünsten Hosen der ganzen Welt. Chris Wolstenholme, Bassist, mausgrau. Schließlich der Mann in Rot, Matt Bellamy. Endlich: die Bühne. Ein Sprung – los geht’s!

Die Powerchords von „Knights Of Cydonia“ sind der musikalische Start einer großartigen Rockshow. Nur: Es hätte freilich auch alles ganz anders kommen können. „Als es auf dieser winzigen Plattform in die Höhe ging“, gesteht Dominic Howard, „hätten wir fast in die Hosen gemacht. Und dann dieser endlose Gang zur Bühne! Unser einziger Gedanke war der, nur ja nicht hinzufallen. Am Sonntag lief ich vorneweg. Gerade wollte ich das Treppchen zur Bühne hinaufhüpfen, da merkte ich – verdammt, da ist kein Treppchen! Jemand hatte vergessen, es hinzustellen. Da war jetzt nur noch eine einzige Stufe, ein Meter hoch. Es gab nur eins – springen!“ Man stelle sich vor: Neil Armstrong will endlich raus auf den Mond, doch irgendein Depp von der NASA hat vergessen, die Leiter an die „Eagle“-Fähre zu hängen…

Sechs Monate dauerte die Planung für die Shows, die nicht nur 140000 Menschen im Stadion, sondern auch möglichst viele DVD-Zuschauer und Live-CD-Hörer beeindrucken sollte. Ausgangspunkt der visuellen Konzeption waren Bilder von einer Forschungsanlage in Alaska, die schon auf dem Cover von black holes & revelations aufgetaucht war. „Zu der Zeit hatte ich mich gerade für obskure Verschwörungstheorien zu interessieren begonnen“, erzählt Matt Bellamy. „Eine davon drehte sich um H.A.A.R.P.“ Das High-Frequency Active Aural Research Program. Offiziell diene die Anlage der Kommunikation mit U-Booten und Weltraumstationen. Verschwörungstheoretiker glauben jedoch, dass die Anlage auf den Theorien des legendären Wissenschaftlers Nikola Tesla basiert, der glaubte, einen Weg gefunden zu haben, Elektrizität drahtlos zu übermitteln. Allerdings hat die amerikanische Regierung Teslas Patente aufgekauft und äußerte sich nur vage zu ihrer Verwendung.

„Ich mag Mysterien“, sagt Bellamy. „Die Vorstellung einer Anlage, von der niemand weiß, ob sie zur Manipulation des Wetters, zur Übermittlung von Elektrizität oder einfach nur zur Kommunikation dient, fasziniert mich. Dieses Bild wollten wir auf die Bühne übersetzen.“ Wochenlang skizzierten die drei Mitglieder ihre Einfälle mit Papier und Bleistift.

„Alle Formen und Strukturen, die man auf der Bühne sieht, die Antennen und Drahtpüze, wurden von uns entworfen“, erklärt Bellamy. „Diese dann in die Realität umzusetzen, war die Aufgabe der Fachleute.“ Dazu gehören einige Experten in Sachen Bühnen-, Licht-, Sound- und Videotechnik, mit denen Muse seit Jahren zusammenarbeiten, sowie Leo Weston und Tom Kirk, zwei Schulfreunde, die die Kunstschule besuchten und einen Teil der Filme für die gewaltige Videowand zusammenstellten.

Schon bei einem normalen Muse-Konzert ist ein Heer von Kameraleuten dabei, um das Geschehen auf die Videowand zu übertragen. Doch in Wembley musste das Gesamtspektakel auch noch für die Nachwelt eingefangen werden. Und so waren es in Wembley 30 Kamerateams. Aber auch das genügte nicht: „Zu unserem Team gehört ein genialer Softwareexperte. Der sorgt dafür, dass der Klang der Musik beeinflusst, was auf der Videowand geschieht. Die Software erlaubt es, die Bilder live zu manipulieren. Akustische Signale wie ein Schlag auf die Snaredrum können Verzerrungseffekte auslösen oder gar das ganze Farbspektrum ändern.“

Doch nicht alle Einfälle konnten verwirklicht werden. Zum Beispiel hätten die Musiker gerne einen Zeppelin über dem Stadion geparkt und an dessen Flanken zwei riesige Videowände befestigt, um die Show auch nach draußen zu übertragen. Zu teuer.

Auch die Idee, die Bühne im Zentrum des Stadions aufzubauen, erwies sich als nicht praktikabel.

Ein anderes Problem löste die Band hingegen mit Einfallsreichtum: „Wir stellten fest, dass die Distanz zwischen mir und dem Gitarrentechniker fast 100 Meter betrug“, erzählt Bellamy. Ein ganz schöner Dauerlauf für den Roadie. Also baute ein Techniker einen kleinen Golfcaddy in einen Roboter um, der Matt die Gitarren ferngesteuert vorfährt. Auch die Konzertdramaturgie wurde sorgfältig durchdacht. Bellamy: „Wir begannen bei Tageslicht. Deshalb spielten wir am Anfang Stücke, die auch ohne Filme oder spektakuläres Set wirken. Selber habe ich erst eine große Stadionshow besucht – Uz. Dabei ist mir aufgegangen, dass den Leuten am Anfang des Konzerts die Freude an diesem großen gemeinsamen Erlebnis, das Beobachten des Publikums genauso viel Spaß macht wie die Show auf der Bühne.“

Klar, diese Frage muss am Ende kommen: Immer größer, immer doller – verrennen sich Muse da nicht in eine Gigantomanie, die bald an die Grenzen des Machbaren stoßen muss? Und wo bleibt da… die Musik? Das Trio hat keine Angst, es zu übertreiben oder gar kreativ auszubrennen. „Erstens“, sagt Howard, „ist es keineswegs eine Antiklimax, nach einem solchen Ergebnis wieder eine kleine Show zu spielen. Jede Show ist anders. Jede Show macht Spaß.“ „Und zweitens“, geht Bellamy dazwischen, „besteht die Gefahr, dabei auszubrennen, doch nur für Bands, die musikalisch stehen bleiben.“

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