Vier Männer und ein Baby


The Who setzen "Tommy" in die Welt - die vertonte Geschichte des blinden und taubstummen Jungen gilt bis heute als erste echte Rockoper.

Wer Ende der sechziger Jahre als Rockmusiker ernst genommen werden möchte, der macht ein Konzeptalbum: Ob Moody Blues oder Pretty Things, ob Small Faces oder The Beatles -durchlaufende Handlungsstränge, Überleitungen und zusammenhängende Songs gehören zum guten Ton. Auch The Who spielen mit, ihr Pop Art-Konzeptalbum „The Who Seil Out“ ist 1967 jedoch nur der Anfang, verglichen mit dem, was sich im März 1969 abzeichnet: Als Vorbote des kommenden Doppelalbums „Tommy“ veröffentlichen Townshend und Co. die Single „Pinball Wizard“. Nach „Tommy“ ist in der Popwelt nichts mehr so, wie es einmal war: Eine Rockband tourt plötzlich durch Opernhäuser, spielt in den bürgerlichen Musentempeln einer Hochkultur, die Rockmusik bislang bestenfalls als enthemmtes Urwaldgeschrei wahrgenommen hat. Sogar die Feuilletons konservativer Tageszeitungen drucken auf einmal Konzertberichte, während einige Eierköpfe überTownshends mystische Texte und ihre soziologische Fundierung in einer angeblich orientierungslosen Jugend diskutieren. Viel heiße Luft, und Townshend weiß nicht, wie ihm geschieht,freut sich aber. dass The Who als „british boys“ nun endlich Amerika erobern. Nach „Tommy“, dem Album, kommen „Tommy“,der Film, das Musical, der Soundtrack. Die Geschichte vom blinden, tauben und stummen Jungen, der dank Flipper-Automat in die Welt zurückfindet, funktioniert bis weit in die 70er Jahre. Townshend hat der Popkultur mit „Tommy“ aber nicht nur Gutes getan: Mit der Akzeptanz des Rock im Bildungsbürgertum wächst auch die Versuchung mancher Musiker, sich künstlerisch über Gebühr aufzublasen. So wird aus dem wilden Beat der intellektuelle Progrock, den selbst Lehrer als „gut gemacht“ akzeptieren können. Immer ein schlechtes Zeichen. Aber Gott sei Dank – bald kommt der Punk.