Wieviel Stones braucht der Mensch ?


Die Rolling Stones auf deutschem Boden! Früher hätte man für sie am liebsten den großen Hund losgemacht, heute stehen sogar die etablierten Medien Gewehr bei Fuß. Früher gingen allerdings auch noch Waldbühnen zu Bruch. Doch am 7. Juli 1982 in Hannover ist dieses Ereignis ein friedliches Massen-Picknick.

Gleich zwei Sternstunden in einer einzigen Nummer des „Stern“: Reflektionen über die paranoide Wohlstands-BRD der New York-Korrespondentin Eva Windmöller unter dem Motto „Wieviele Cartier-Uhren braucht der Mensch?“ und der Frontbericht ihrer Kollegin Paula Almquist aus dem Londoner Headquarter der Rolling Stones, wo man generalstabsmäßig zwischen guten und schlechten Schwingungen die Geschicke des Unternehmens steuert. Wieviel Rolling Stones braucht der Mensch?

Ich kenne eine Menge Leute, die die Stones seit Jahren schon nicht mehr brauchen. Seitdem ich ihr sterbenslangweiliges Konzert ’76 in der Kieler Ostseehalle („Hallo, Hamburg!“) über mich ergehen ließ, traf das endgültig auch auf mich zu. Aber mit allen Mitteln einer auf gegenseitigem Interesse beruhenden Marktstrategie wurde zumindest wieder meine Neugier geweckt. Die Stones auf allen Titelseiten, fast allen. Etablierte Medien rannten dem Skandaltrupp von einst heute die Bude ein. Und die konservativen Rockfans trafen sich zu Zehntausenden in den Stadien zum friedlichen Massenpicknick.

Mein Tag ist Montag, der 7. Juni. Wiederholungskonzert im Hannoverschen Niedersachsen-Stadion. Tags zuvor war’s heißer, voller und beim Stones-Auftritt auch noch heller. Weniger Atmosphäre also. Versäumt habe ich, wie man Peter Maffay von der Bühne jagte, von der siebten Brücke war er gefallen. Einmal mußte nun auch er „die Asche sein“ und praktizierte daraufhin am Montag das, was man in Kölner Kreisen allgemein als „affrokke“ bezeichnet. Wie es schien, hatten die Fans aber diesmal die Überhand.

Aber bei derart vielen netten und gesitteten Menschen im Stadion gab’s halt nur positive Schwingungen. Zur J. Geils Band wurde das kalte Kotelett aus der Kühltasche geholt, auf der Damentoilette siezte man sich gelegentlich: „Darf ich mal Ihre Bürstebenutzen ?“Und die Klos blieben trotz Massenandrang sauber! Und weil an diesem Tage alles so relaxed lief, streikte diesmal auch die Stones-Anlage nicht.

Die enormen Verstärker-Gebirge blieben hinter Stoffkulissen verborgen – künstlerisch veredelt durch Motive im naiv-dynamischen Strich mit 50er Jahre-Flair. Die Bühne, selbst noch riesig, wirkte inmitten dieser ausladenden Architektur wie ein Schaukasten-Variete.

Doch ehe die Crew der Stones daraus einen rosa-verkleideten Art Deco-Traum machte, der auch Roxy Music hervorragend zu Gesicht gestanden hätte, tobten sich (von oben betrachtet) dort die Strichmännchen der J. Geils Band aus. Sänger Wolf jumpte wie ein schwarzbehoster Kermit auf seinen dürren Beinen über die Bretter. „Freeze Frame“! Bis auf ein paar allzu monotone Verlängerungstaktiken funktionierte der Set als herzhafter Muntermacher. Drei Zugaben, clever kalkuliert, nach „Centerfold“ will jedes Publikum mehr haben.

Von denen, die jetzt schon im Pulk vor der Bühne stehen, klappen spätestens bei den Stones einige zusammen. Ich bleibe erstmal auf meinem Platz im Block „K“ und verkneife mir, meinen Nachbarn um sein Fernglas zu bitten. Ich bedaure die Kids in Amerika, die einen Kreislaufkollaps riskieren oder ihre Idole ewig nur aus der Ferne anstarren können. Rock’n‘-Roll zum Anfassen gibt’s in diesen Dimensionen nicht mehr.

Die Massen sind jedoch zufrieden und absolut unaggressiv. Keine Rempeleien mit den Ordnern, sogar die Verpflegung ist menschenwürdig. Bratwurst, Fischbrötchen, Pizza, Kuchen, Eis, Süßigkeiten und eine reichliche Auswahl an Getränken. Ich denke an Festivals vor Urzeiten, wo mir regelmäßig von Currywurst oder Hotdog und Räucherstäbchen schlecht wurde.

Doch jetzt wird’s spannend: Zunächst geht der Vorhang zu. -Stilvolles Piano-Intro, very sophisticated und dann endlich auf zur größten Show des Jahres. War sie das? Mir blieb das Herz erwartungsgemäß nicht stehen. „Under My Thumb“, bestechender Anfang, auch die weiblichen Fans bejubeln begeistert diesen frauenfeindlichen Klassiker.

Die Stones sind da! Einer von ihnen arbeitet wirklich. Mick Jagger wird im Laufe der Show ein unvergleichliches Fitness-Programm zeigen. Ein begnadeter Tänzer, der seine körperliche Motorik im Griff hat wie kein zweiter. Er nimmt rechts und links die Balustraden mehrfach im Spurt, einmal begleitet ihn Keith Richards, da stolpern sie gemeinsam zurück wie zwei bekiffte Schuljungs.

„Let’s Spend The Night Together“… der Sound fängt sich unter dem Dach, anfangs besticht noch die Optik. Ron Wood schlurft langsam Richtung Bühnenrand, Bill Wyman – überflüssig zu erwähnen – spielt wieder die lebende Salzsäule. Man schaut zu mit Interesse, auf die Entfernung sieht man die Falten nicht, und die, die sich bewegen, wirken jung.

Ich gehe runter in den Innenraum, drängle mich so weit nach vorne, wie’s geht um ihre Gesichter zu sehen. Wieder hat jemand schlapp gemacht. Um mich herum tanzen fröhliche Enddreißiger und schauen unternehmungslustig-provozierend auf meine Bewegungslosigkeit.

Aber im Moment nervt’s wirklich. Die Stones wollen ihren Fans was bieten und spielen zweieinhalb Stunden. Warum knallen sie ihr Programm nicht in anderthalb Stunden durch, anstatt ihre Songs endlos totzuspielen? So ausschweifend ist ihre Phantasie nicht, was das Improvisieren betrifft. Doch die Menge mag’s, je länger, je lieber. Dankbares Mitklatschen. Wer hier 38 Mark bezahlt hat, will Quantität.

Bis die letzten fetzigen 40 Minuten anbrechen, leide ich unter der Geräuschkulisse und will mich verkriechen. Ich gehe außenrum zurück zu meinem Platz, vorwurfsvolle Blicke auf meinen „VIP Guest“-Sticker – natürlich, die Typen, die umsonst reinkommen, haben es wieder mal nicht nötig zuzuschauen …

Doch die „Zahlenden“ denken nicht nach: Wenn man für viel Geld irgendwo essen geht, läßt man sich ja auch nicht gerne Berge von Kartoffeln andrehen, damit es nach mehr aussieht. Es sei denn, man gehört zu den Banausen, die ein Restaurant danach beurteilen, wie groß dort die Frittenberge sind. In diesem Sinne stopft man sich hier also bis oben hin voll mit Stones.

Nach vorübergehenden Verdauungsstörungen steige ich erst in der letzten halben Stunde wieder ein. „Honky Tonk Women“, „Start Me Up“ … jetzt geht es Schlag auf Schlag. Optische Gimmicks inklusive. Die Dämmerung macht endlich eine atmosphärische Beleuchtung des Bühnenkastens möglich. Die Luftballons hängen nun wie dicke Plastiktrauben und -ketten im Himmel. Jagger taucht urplötzlich in irgendwelchen Kulissenlöchern auf, angestrahlt. Laßt sich im Kran über die jubelnden Zuschauer hinweghieven – so nah wie möglich und doch noch weit genug entfernt. Eine Zugabe, „Satisfaction“. Dann das Finale, Hymne und Feuerwerk.

Das Volk braucht die Operette, das Volk braucht Stadien, wo es tanzen und feiern kann: den Mick Jagger, den Mussolini, den Papst, den Fußball … give the people what they want, sie glauben dann, du tust es für sie.