Zukunftsmusik


Kaum hat die Compact Dlsc den Markt erobert, muß sie um die eigene Existenz fürchten. DAT, CDU, CD-E, CD-l, Btx, MHcrochlps – die Totengräber schaufeln schon. Hardware-Firmen und die Plattenfirmen als Software-Lieferanten kämpfen mit harten Bandagen um die Zukunft der Tonträger. Oder handelt es sich etwa nur um ein kalkuliertes verwirrspiel mit dem Konsumenten? „Neue Medlen“-Redakteur Volker Schnurrbusch untersucht für ME/Sounds die Götterdämmerung der Platten-Industrie.

Die Musikindustrie gleicht einem großen Schwein: Es schnüffelt und mampft und wird immer fetter.“

Diese Einschätzung der australischen Band Big Pig scheint angesichts der zunehmenden Konzentration im internationalen Music-Business durchaus angemessen. Die Fusionsbewegungen der letzten fünf Jahre verringerten die Anzahl der Musikanbieter auf fünf Großkonzerne, die wiederum Tochterunternehmen von Multis der Elektronikund Unterhaltungsindustrie sind.

Doch – um im Bild zu bleiben – Trüffel sind immer seltener geworden und die „Schweine“ mußten nur deshalb enger zusammenrücken, um nicht lebensgefährlich abzumagern. Setzt sich diese Entwicklung auch in Zukunft fort, wird es spätestens zur Jahrhundertwende nur noch drei Konzerne geben, die Tonträger verkaufen – falls es dann überhaupt noch welche gibt.

Dabei drohen der Branche nicht etwa die größten Gefahren von der privaten oder professionellen Piraterie, durch Mitschnitte, Bootlegs oder Counterfeits — sondern durch das Teufelswerk „Neue Medien“. Die fortschreitende Versorgung des Musikkonsumenten mit Kommunikationstechniken, die ihn mit der ganzen Welt verbinden oder auch nur den Lokalfunk ins Haus bringen, geben ihm so viele, zumeist kostenlose Musikprogramme an die Hand, daß der Anreiz, bespielte Tonträger zu kaufen, immer geringer wird. Schon heute läßt sich ausrechnen, daß der CD-Boom, der der Branche wieder Aufwind gegeben hat, in fünf Jahren wieder abgeebbt sein wird. Der Nachkaufbedarf wird erfüllt sein, und die Plattenindustrie steht wieder auf dem Tiefpunkt der Jahre 82/83. Zwar werden wieder neue Trägermedien ins Rennen geschickt, wenn die „herkömmliche“ CD ihren Reiz eingebüßt haben wird, jedoch folgt auf jede Neueinführung die Gegenentwicklung von wiederbespielbaren Speichern, die dieselbe Qualität wie das Original garantieren.

So ist das „Digital Audio Tape“ (DAT) nur deswegen noch nicht in großem Stil auf dem Markt, weil die Elektronikbranche, die sowohl Hard- als auch Software-Lieferant ist, sich nicht selbst schaden will. Aber genausowenig wie der Siegeszug der Musiccassette wird sich DAT verhindern lassen. Nach der „Einweg“-CD wird die wiederbespielbare Silberscheibe ein Mehr an Möglichkeiten bieten.

Der Abstand zwischen der Vermarktung von Original- und Kopiermedium wird kürzer — bis zum völligen Knock-Out des „vorprogrammierten“ Tonträgers. Die heute von Sammlern bange gestellte Frage, ob und wann denn die geliebte schwarze Vinylscheibe verschwinden werde, wirkt naiv angesichts der Tatsache, daß einer ganzen Branche die Existenzgrundlage entzogen werden könnte.

Im September präsentierte Philips/Polygram die CD Video (CDV). Diese 88er Ausführung der kläglich gescheiterten Bildplatte bereichert die Formatpalette für den Käufer gleich um drei Neuzugänge: Die „normalgroße“ 12 cm-Disc kommt nun als CDV-Single mit sechs Minuten Spieldauer daher, die EP bietet auf 20 cm zweimal 20 Mi- ¿

nuten und die 30 cm durchmessende“.CDV-LP“ ist mit 2 x 60 Minuten Spieldauer eher für Filme und Opern geeignet.

Die im bewährten Medienverbund gleichzeitig angebotenen Abspielgeräte von Philips, später auch von Sony und Pioneer, sind auf Kompatibilität angelegt: Der CDV-Player soll das Bindeglied zwischen HiFi-Anlage und Fernsehen werden — einen Platz, den bereits HiFi-Video-Recorder für sich beanspruchen.

Natürlich können die neuen Geräte neben den goldenen auch die silbernen CDs abspielen, doch die Frage ist berechtigt, wo genau der Zusatznutzen für ein weiteres, hochwertiges System liegt, das den Käufer zur Zeit um die 1500 Mark kostet. Selbst der technikbegeisterte Audio/Video-Maniac wird ans Rechnen gehen angesichts der Tatsache, daß auf ihn noch so unverzichtbare Anschaffungen zukommen wie das kombinierte Aufnahme- und Wiedergabegerät für CDs, der DAT-Recorder, der „Discman“ oder — nicht zu vergessen — der kabeltaugliche Fernseher, der demnächst der „D2Mac“-Norm entsprechen muß und möglichst einen superbreiten, rechteckigen, hochauflösenden Bildschirm haben sollte. So gesehen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß die Bildplatte trotz technischer Überlegenheit gegenüber dem Video-Band auch im zweiten Anlauf ein Luxusartikel für Klassikfreunde bleiben wird.

Das sonst immer enger zusammenrückende Lager der Hard- und Software-Anbieter zeigt im Falle der CDV denn auch eine gesunde Skepsis. CBS und EMI verhalten sich abwartend, WEA/Teldec und BMG (Ariola/RCA) lassen ihre Produktion von der Polygram vermarkten, die als einziges Unternehmen ein echt vitales Interesse am neuen, alten System hat.

Nach dem Flop der Bildplatten-Systeme TED und Laservision glaubte niemand mehr an die Nachahmung des Erfolges in Japan, wo der Bildplattenspieler zum Zweitgerät nach dem Videorecorder geworden ist. Eine 1986 erstellte Marktstudie brachte es auf den Punkt: Das entscheidende Manko der Bildplatte gegenüber dem Video-System ist die fehlende Aufzeichnungsmöglichkeit. Erst wenn dieser Zusatznutzen geboten werden kann, hat die Bildplatte bei breiten Käuferschichten eine Chance. Falls diese Weiterentwicklung eines Tages tatsächlich kommen sollte, dürfte die Ausstattung mit Videorecordern jedoch uneinholbar weit fortgeschritten sein.

So sehen viele Branchenbeobachter in CDV nur den Versuch von Philips, zumindest einen kleinen Teil der enormen Entwicklungskosten wieder einzuspielen, bevor vielseitigere Systeme wie DAT oder CD-E („E“ steht für „erasable“, also löschbar) die goldenen Scheiben ad acta legen. Zusammen mit den Achtungserfolgen im professionellen Bereich (Verkaufsförderung, Ausbildung, Dokumentation) hätte CDV mit erhofften 60.000 verkauften Geräten und der zehnfachen Menge an Discs seine Schuldigkeit getan.

Die in direkter Konkurrenz stehenden Musikvideos, die bald auch hierzulande in breitem Umfang als Kaufcassetten angeboten werden sollen, haben den entscheidenden Vorteil der bereits erfolgten Marktsättigung mit Videorecordern, für die wiederum ein unerreichbar großes Software-Programm in den Videotheken zur Verfügung steht.

Dasselbe gilt — wenn auch mit Abstrichen — für den Klassik-Fan, der mit CD V angepeilt wird, der aber dummerweise auch zu der betuchten Käuferschicht gehört, die als erste den — zumeist hochpreisigen — CD-Player nach Hause trugen und somit ihren Gerätebedarf gedeckt haben.

Spätestens seit der CD/DAT-Diskussion ist deutlich geworden, daß das Musikangebot von der Hardware-Industrie gesteuert wird. Die beiden Elektronik-Giganten Sony und Philips bestimmen, wann der Musikfreund welche Technik mit dem dazugehörigen Programmangebot kaufen darf. Nach der verlorenen Schlacht um den weltweiten Video-Standard klüger geworden, legten sich die Japaner Ende vergangenen Jahres einen Software-Produzenten zu, indem sie kurzerhand und völlig überraschend die Music-Division von CBS für zwei Milliarden Dollar kauften. So schuf sich die Sony Corporation eine beherrschende Stellung auf dem Weltmarkt mit dem Schwerpunkt auf den USA.

Europa ist fest in den Händen der Polygram, der mutmaßlichen Nr. 2 der Welt. Obwohl bei Philips eine organisatorische Trennung zwischen den Hard- und Software-Töchtern besteht, wäre eine direkte Abstimmung zwischen den Unternehmensbereichen unvermeidlich, sobald der Erzrivale Sony unter dem Druck eines schrumpfenden Marktes zur übermächtigen Gefahr würde. Dritter im Bunde könnte der Mischkonzern Thorn werden, der über eigene HiFi-Marken verfügt, ein weltweites Firmengeflecht kontrolliert, und mit der ehrwürdigen „Tante“ EMI („His Master’s Voice“) den drittgrößten Tonträgerproduzenten der Welt sein Eigen nennt.

Außen vor blieben bei diesem Szenario die „Bertelsmann Music Group“ (BMG; Labels u.a.: Ariola, RCA, Arista) und die Warner Tochter „wea International“. Für beide Unternehmen würde es kein finanzielles Problem darstellen sich einen Hardware-Arm zuzulegen, doch welches wirklich internationale Unternehmen ist noch zu haben?

So war es nicht überraschend, daß weder die CD-Cracks Philips oder Sony noch die DAT-Pioniere aus Japan den nächsten logischen Schritt in der Gerätetechnik vollzogen, sondern der französiche Multi Thomson-Brandt (deutsche Marken: Saba, Telefunken, Nordmende). Der „CD-Recorder“ kann die ebenfalls neu entwickelten Discs beidseitig abspielen und so zweimal 45 Minuten Musik auf die normalgroße 12cm-Scheibe bannen.

Seit der unerwarteten Vorstellung des Gerätes Anfang dieses Jahres ist es jedoch sehr ruhig geworden. Von einer Serienfertigung der (als Prototyp 10.000 Mark teuren) Recorder keine Spur. Ein Grund dafür dürfte das Fehlen eines verbindlichen Standards für wiederbespielbare CDs sein, so wie er für die „Einweg“-CDs, für DAT oder Video gebräuchlich ist. Ohne Einigung in der Geräteindustrie wird der Verbraucher noch lange auf „the nexi big thing“ warten müssen — zumindest so lange, bis die Elektronik-Riesen Philips und Sony ihre eigenen Kinder CDV und DAT — mit dem dazugehörigen Musikprogramm von Polygram und CBS, versteht sich — an den Mann gebracht haben. Denn die Tonträgerindustrie sieht mittelfristig einer Zukunft ohne Tonträger entgegen. Die Zeit bis dahin wird durch eine immer dünner werdende Käuferschicht, immer weniger Veröffentlichungen, weniger Outlets und weniger Stars gekennzeichnet. Schon heute sorgen nur zehn Prozent der Bevölkerung als Intensivkäufer für zwei Drittel der Umsätze. Die Altersgruppe unter 25 Jahren tätigt heute 40 Prozent der Käufe, doch die Industrie weiß, daß dieses Bevölkerungssegment im Jahr 2000 um ein Viertel kleiner sein wird.

Die Konzentration im Handel nimmt zu. Die Zahl der Verkaufsstellen hat sich in den letzten zehn Jahren nahezu halbiert. Da 40 Prozent der Schallplattenkäufe spontan erfolgen, gehen der Branche wichtige Absatzanteile verloren. Die Entwicklung der Computer-¿

technik wird langfristig auch im Musikmarkt ihren Einzug halten. Schon heute gibt es Chips, die Musik speichern können. Und was heute noch wie der verzweifelte Versuch der Bundespost aussieht, Musikfans für das gebeutelte Medium Bildschirmtext zu interessieren, könnte in zehn Jahren Realität sein: die Hitparade über Btx. Nur. daß dann der Nutzer die Positionen nicht nur ablesen, sondern abrufen kann.

Andere Denkmodelle gehen in die Richtung eines „Pay-Audio“-Systems, wonach über Kabel oder Satellit das Musikprogramm in das Fernseh- oder Hörfunknetz eingespeist wird. Egal wie die Techniken zur Musikbeschaffung auch aussehen werden, eines haben sie gemeinsam: Sie vollziehen den Schritt vom Tonträger zur Musik-Software.

Bedeutet das auch das Aus für die Schallplattenfirmen? Das wird davon abhängen, ob sich die Industrie rechtzeitig andere Betätigungsfelder erschließt. Klaus-Michael Karnstedt, Geschäftsführer des Peer Musikverlages: „Es wird nicht mehr lange dauern, bis es keine Schallplaiten mehr gibt. Bald wird man sich die Musik über den Bildschirm ins Haus holen, wo man sie dann noch in bester Qualität auf DAT abspeichern kann. Vergütet wird das Ganze dann mit einer Monatspauschale. Die Industrie könnte sich auf die Einspeisung verlegen, vielleicht sogar zu Satellitengemeinschaften zusammenschließen. “ Helmut Fest, Geschäftsführer der EMI Electrola, ergänzt: „In zehn bis 15 Jahren werden wir die Musik über Kabel und Satellit ins Haus bekommen. Trotzdem wollen wir Musiklieferant bleiben. Solange wir die rechtlichen Eigentümer unseres Repertoires sind, werden wir im Geschäft bleiben — gleichgültig auf welchem Wege wir die Musik verkaufen.“

Es klingt wie Zukunftsmusik, ist aber heute schon technisch möglich: die Ablösung des Tonträgers durch Chips und Kabel. Warum aufwendig Platten und Cassetten herstellen, vertreiben und durch den Handel schleusen, wenn die Hits auch online ins Haus kommen?

First Step: Der Home-Computer, heute ohnehin bei jedem zweiten Schüler die Standardausrüstung. Als nächstes braucht man einen BtxAnschiuß; ein spezielles Gerät ist nicht notwendig, wenn man die entsprechende Computer-Peripherie besitzt. Will man die Eltern nicht nerven, muß eventuell ein eigener Telefonanschluß her — die Kosten halten sich ja in Grenzen und via Akustikkoppler eröffnen sich durchs Telefon ja auch ganz andere Welten.

Dann: Man wähle die Nummer des „Formel Eins“-Btx-Dienstes, suche sich in Ruhe seine die Lieblingssongs aus, entrichte die GEMA-Gebühr, drücke auf „Return“ und lade „Don’t Worry Be Happy“, „Find My Love“ oder „Desire“.

Zwar dürfte die Tonqualität des C64 oder 800XL nicht gerade High Fidelitv sein, aber das trifft auch auf die Anlagen vieler Teenies zu. Außerdem ist es bequemer, billiger und origineller als zum Plattengeschäft zu pilgern, die gerade im ländlichen Raum immer seltener werden.

Außerdem eröffnen Sampling-Programme die Möglichkeit zum eigenen Experimentieren an den Hits der großen Rock- und Popstars.

Ein Markt für diese sogenannte Tele-Software wäre vorhanden: Jürgen Baums, der bei der Düsseldorfer Agentur ABC das Btx-Programm von „Formel Eins“ betreut, spricht von “ 1800 Abrufen am Tag. 40 Prozent der Eingänge für das wöchentliche Gewinnspiel kommen von Terminals, die überwiegend von Jugendlichen genutzt werden.“

Da laut Baums 50 Prozent der Btx-Neueinsteiger Jugendliche sind, scheint die Zeit reif für einen Ausbau des Programms zur Hit-Datenbank. Baums: „Voraussichtlich werden wir Anfang nächsten Jahres zumindest im Rahmen eines Pilotprojektes eine Auswahl von Titeln auf Tele-Software anbieten. “

Der nächste Schritt wäre die Verbesserung der Qualität von elektronisch kopierter Musik. Auch hier bestehen schon Ansätze: In Laborversuchen ist die Kopplung von Computer- und HiFi-Technik bereits gelungen. Eine Voraussetzung für die Verbreitung der Software an den Konsumenten ist ein breitbandiges Datennetz, das mit ISDN in Europa Einzug halten soll.

Aufwendiger wäre die Einspeisung von Musik ins Kabelnetz via Satellit. Dazu müßten die Schallplattenfirmen, die in unserem Zukunfts-Szenario ja keine physisch faßbaren Tonträger, sondern nur noch den Ton verkaufen müßten, analog zum digitalen Hörfunk ihre Musikprogramme ins All schicken — was auf absehbare Zeit zu kostspielig wäre. Noch ein weiteres Medium wird für den Musikliebhaber interessant: Die CD-Interaktiv (oder CD-I) kann auf einem Durchmesser von 12 Zentimetern ein 20-bändiges Lexikon speichern und darüber hinaus Bild und Ton wiedergeben. Da letzterer auch in digitaler Qualität abrufbar ist. kann vom „Rock-Lexikon“ bis zu Zeitschriften wie ME/ Sounds ein multimediales System angeboten werden, das zum Künstlerporträt das Interview und zur Plattenkritik die Musik gleich mitliefert. Freilich besteht Entwickler Philips zur Zeit noch darauf, mit den Scheiben die gesamte Computer Figuration mitzuliefern, deren Preis in den Sternen steht. Technisch ist es jedoch möglich, die CD-I als „intelligente“ Compact Disc im Rahmen des heimischen Geräteparks zwischen HiFi-Anlage und Fernseher einzusetzen.

Übrigens: Nach Ansicht vieler High-End-Freaks ist CD auch nicht das Gelbe vom Ei. Die digitale Aufnahmetechnik garantiert zwar hohe Klangtreue, beraubt die Musik aber ihrer spezifischen Nebengeräusche.

Empfehlung für den mittlerweile etwas verunsicherten Käufer könnte lauten: Vorerst eine hochwertige herkömmliche HiFi-Anlage, die mit LPs bestückt wird, bis die Industrie sich auf verbindliche Formate und kompatible Systeme für bespielbare CDs, DAT und die entsprechenden Geräte geeinigt hat. Trotz des CD-Booms wird sich nämlich die schwarze Scheibe, zumindest als LP, noch mindestens zehn Jahr halten. Das zugegeben helle Funkeln der Compact Disc könnte dagegen von kürzerer Dauer sein.