Zum 74. Geburtstag Lou Reeds: „Ernüchtert“ aus dem ME/Sounds 04/1989


Für die April-Ausgabe der 1989er-ME/Sounds traf Steve Lake den 46-jährigen Lou Reed zu einem Gespräch über sein damals aktuelles Album NEW YORK. ME/Sounds-Mitarbeiter Lake versuchte herauszufinden, warum der jahrzehntelange Rausch Reeds aus Großstadt-Zombies, Drogen-Wracks, Transsexuellen ein jähes Ende nahm.

Noch vor fünf Minuten wäre es mir schwergefallen, einen zynischeren Zeitgenossen zu finden als Lou Reed. Seine Gleichgültigkeit, das Fehlen jeglicher Emotion trug er jahrelang demonstrativ zur Schau und schrieb (im Velvet Underground-Klassiker „Heroin“) so gänzlich unsentimentale Zeilen wie „/ really don’t care“, wenn erst einmal „the smack begins to flow“.

Seitdem, man kann es nicht anders sagen, hat es sich Lou Reed anders überlegt. Auf seinem neuen Album NEW YORK überrascht er uns plötzlich als singender Sozialarbeiter, der mit ausgestrecktem Finger auf die „moralischen Grenzgänger“ zeigt – genau jene Leute also, die er früher so wortreich verklärte. Seiner Heimat New York, einst die faszinierende Geliebte, schlägt er inzwischen alles andere als Komplimente um die Ohren. Ein „walk on the wildside“, so sagt er uns, ist nicht mehr ein glamouröser Flirt, sondern die Verzweiflungstat von Verrückten. Wach auf. Komm zu Sinnen! ruft der alte Zyniker New York, den USA – und nicht zuletzt auch sich selbst zu.

Im Gespräch ist er, man registriert es fast mit Erleichterung, immer noch der verbockte Knöterich. Und er bestreitet auch gleich, sich auch nur die Bohne verändert zu haben. Grimmig blickt er mich durch seine James Joyce-Brille an, die die neue Seriosität nur zu unterstreichen scheint.

„Du behauptest also, es sei meine Perspektive, die sich geändert habe. Nein. Acht Jahre Reagan haben das Rückgrat der Stadt gebrochen. New York hat sich verändert, nicht ich.“

Man könnte mit ihm lange darüber diskutieren, doch das würde einen ausführlichen Abstecher in sein Privatleben bedeuten – und das ist tabu. Ein Vertreter der Plattenfirma, der bei unserem gesamten Gespräch anwesend ist, hat mich zu Beginn über die REGELN aufgeklärt, unter denen dieses Interview stattzufinden hat. Die REGELN lassen selbst die Zehn Gebote verblassen: Du sollst nicht sprechen über Reeds Privatleben, nicht über Velvet Underground, Andy Warhol, Nico, AIDS und Drogen. Unterm Strich bleibt nur die neue LP, doch da sich diverse Songs spezifisch um AIDS, Drogen und Andy Warhol drehen, weiß man nicht so recht, wo man überhaupt ansetzen soll.

„Acht Jahre Reagan haben das Rückgrat der Stadt gebrochen. New York hat sich verändert, nicht ich.“ – Lou Reed

Soviel ist klar: Lous neues soziales Bewußtsein hat ihn nicht unbedingt glücklicher gemacht. Im Gegenteil: Er ist paranoider denn je. Tina Weymouth, deren Tom Tom Club unlängst gemeinsam mit Lou Reed auf der Bühne stand, gab mir eine bezeichnende Einschätzung: “ Wir spielten im CBGB’s – und Lou hatte panische Angst, weil das Publikum so nah an der Bühne stand. Er ist inzwischen total straight, hat seit zwei Jahren keinen Drink mehr angerührt. Und er hat Schiß vor den Leuten, die er im Lauf der Jahre beleidigt hat. Er befürchtet, es könne ihm genauso ergehen wie John Lennon. „

Daß Reeds Abrechnung mit New York auf einem gehobenen literarischen Niveau stattfindet, versteht sich von selbst. Der Schüler der amerikanischen Literatur-Legende Dellmore Schwartz jongliert mit literarischen Querverweisen, u.a. auf T.S. Eliot. „Strawman“ z.B. bezieht sich auf T.S. Eliots „The Hollow Men“ – eine Anspielung, die dem deutschen Übersetzer völlig entgangen ist. Stattdessen unterstellt er (Spex-Chefredakteur D. Diederichsen -Red.) in einer wenig glücklichen Fußnote, der Song beziehe sich auf Sandinista-Führer Daniel Ortega.

Darauf angesprochen, wird Reed aschfahl. „Fußnote??!! Was für Fußnoten?! Wer hat hier Fußnoten autorisiert?! Wer wagt… Sag mir bitte, daß es nicht wahr ist. Oh Scheiße!“

Sein Gesicht verzieht sich, als kämen ihm gleich die Tränen. „Da versuche … da gebe ich mein Bestes, ich zahle die Übersetzungen obendrein noch aus meiner eigenen Tasche – und dann passiert so was!“

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