Zum Cognac bei Honey


Freie Fahrt für den Sonderzug nach Pankow, die deutsch-deutsche Entspannung macht’s möglich. In der Hauptstadt der DDR schlagen die Uhren zwar immer noch anders, doch sie schlagen merklich schneller. Von den Behörden eingeladen und betreut, fuhr ME/Sounds nach „drüben“, um einen Streifzug durch die aufblühende Szene zu machen. Reisebegleiter waren die Musiker von der Ost-Berliner Gruppe Silly.

Auf dem Weg in eine andere Welt stehen wir zuerst im Schlauch, einem Schlauch aus Blech und Holz. Wie im Innern einer Schlange werden wir im Zeitlupentempo in den Osten hineingewürgt. Zwei Vopos schwitzen hinter Glas und schauen ungläubig. Paßbilder können manchmal schon komisch sein.

Hinter uns schließt sich schweres Metall, dumpf knarrt es in den Fugen, ein Schnappschloß klickt. Es gibt kein Zurück — die Tür hat keinen Griff… S-Bahnhof Friedrich-Straße.

Gerade sind 750 Jahre herum — und vor und hinterm Schlauch wird feste gefeiert. Wer das Nachtleben von Berlin-Ost erforschen will, braucht dafür eine Genehmigung.

Und einen Betreuer. Der erkennt uns sofort im Gemenge von Care-Paketen, die bundesdeutsche Omis und

Opis in die „Hauptstadt der DDR“ schleppen.

Wir haben Glück, denn Gerd Sonntag sieht gar nicht so aus wie ein graumelierter Herr vom Stasi. Im Gegenteil. Er ist staatlich anerkannter Rock-Sekretär in der „Generaldirektion beim Komitee für Unterhaltungskunst“. Sektion Rock, und wickelt u.a. sämtliche Formalitäten der DDR-Erfolgsband Silly mit den Behörden ab. Er ist augenscheinlich nett, in guter Tagesform und bringt daher die richtige Kondition für eine endlose Nacht auf die Waage. Ost-Autos tuckern, holpern und stinken. Wer hier mit Kat über den Asphalt braust, ist wahrscheinlich Diplomat und darf auch ungestraft Schnaps und Zigaretten schmuggeln. Zum Treffen mit den Musikern geht’s ohne solche Privilegien. Vor uns holpern Trabant und Wartburg, neben uns tuckern Lada und Moskvich, hinter uns stänkern Skoda und Wolga.

Die Begrüßung ist herzlich. Die Sillys sind bis auf den Bassisten Hans „Jäcky“ Jürgen Rezniceck vollständig in Beatle-Boots und gepflegtem Kraushaar angetreten. Wir lernen schnell: Eine Band, die in der DDR LPs wie Bataillon D’Amour 150.000 mal verkaufen kann, hat (fast) Diplomaten-Status. Man fährt Peugeot und Citroen und hebt sich — in diesem Fall Gott sei Dank! — optisch und akustisch wohltuend von Karohemd-Krautern wie Citv und Karat ab.

„Hier ist unheimlich viel passiert“, meint Gitarrist Thomas Fritzsching mit Blick auf den „Prenzelberg“. Ich denk, ich steh in Kreuzberg. Altbauten und Straßencafes bilden ein Milieu-Idyll, das zur großen Berlin-Feier kräftig aufgeputzt wurde. Hippies, Flippies und Punkies grinsen oder gucken böse, je nach Stilfraktion, daß man sofort Heimatgefühle bekommt. Eine üppige Subkultur wächst und blüht hier im kaum noch Verborgenen. „Wer trinkt, stirbt. Wer nicht trinkt, stirbt auch“, meint ein schlau gekritzelter Graffito auf einem Bauwagen.

Wir haben Durst. „Die Möwe“, eine Künstlerkneipe im Jugendstil, hat im August leider zu. Statt dessen geht’s an die Schönhauser Allee zum Auftanken in die „Speisegaststätte Venezia“. Der gelackte Kellner will erst nicht. Aber schließlich sind die Sillys Promis und haben Vorfahrt. Der Feierabend wird kurzerhand verschoben, dazu serviert der Livrierte uns einen 87er „Badacsony — Grauer Mönch — Szürkebardt Hungary“.

Keyboarder Rüdiger „Ritchie“ Barton ist seit sieben Jahren der Liebste von Sängerin Tamara Danz. Beide schauen leicht grimmig, als ich ihnen „Auf eine lange Nacht“ zuproste. Ritchie. weil er als Fahrer bestellt wurde mit Perspektive auf einen Null-Promille-Abend — und Tamara, weil sie einfach so unverblümt ist.

„Erst seil vier Jahren werden auch bei uns Künstler mit einer Goldenen Schallplatte ausgezeichnet“, meint Drummer Herbert „Herbie“ Junck. Silly geht es gut. Im Wohnzimmer eines ländlichen Bauernhauses am Stadtrand von Berlin, in Münchehofe, hängen zwei Goldene hinterm Piano an der Wand. Hier probt die Ost-Kapelle mit Blick auf Gartengemüse und Kuhstall in einem ehemaligen Gutshaus, das den Eltern von Tamara gehört. Doch anders als bei uns orientiert sich die güldene Preisvergäbe hier nicht an Verkaufszahlen, sondern am künstlerischen Urteil einer erlauchten Kritikerrunde.

Wir fahren am „Mont Klamott“ vorbei, einem Nachkriegshügel aus Schutt und Schande, über den längst Gras gewachsen ist. Vorbei auch am „Kulmi“. dem Kulturministerium. Nur unweit vom „Palazzo Prozzo“, dem Palast der Republik, sind wir im Herz der City, nahe dem romantischaltstädtischen Nicolai-Viertel, das perfekt restauriert wurde. Beim“.Paddenwirt“ am Nicolaiplatz ist’s rustikal; zum hausbackenen Schnittchenteller wird ein 87er „Debro — Lindenblatt-Hüsslevelü“ und ein 750er „Spree Quell Ambassador“ gereicht.

Wir kommen auf den Punkt. Auf die Berliner Luft. Tamara liebt sie schon von weitem: „Wenn man nach ’ner längeren Tour auf dem Flugplatz landet, dann riecht das hier irgendwie anders, nach Heimat,“ Wir fahren Richtung Szczecin, zum „Alibi“ in der Saarbrücker Straße. Eine Kette regelt den Disco-Verkehr, wir müssen warten. Die Sillys, schnell von Passanten erkannt, haben längst diverse Autogrammwünsche erfüllt, als wir endlich hinein dürfen.

Der Türsteher ist kräftig und steht mitten in der Garderobe. Wir drükken uns durch zur „Alibi-Bar“, wo’s

„Alibi-Drinks“ gibt. Tiger-Lillys lassen ihre Hüften in hautengen Jeans kreisen, von Beat zu Beat zuckt Neon in bunten Farben, wahrend von irgendwoher klebrig-süßer Sekt gereicht wird. Marmortische und schneeweiße Jalousien. Man meint, man sei auf Ibiza und beobachte brunftige Abschlepp-Hirsche im sportivcn Muskeldcsign bei der Arbeit.

Wir fahren Richtung Rostock-Pankow— Süd-Praha. Absolvieren „Altdeutsches Ballhaus“ und „Berliner Ballhaus“ und streifen auch das „Yucca“. Hier flaniert erneut ein Strandpublikum, diesmal aber konsequent vor einer palmigen Sonnenschein-Tapete. Die „Beastie Boys“ verherrlichen über den Boxen ungehindert den Bierdosen-Exzess, während Schlauscheitel-Popper neben volltrunkenen Diplomatenkindern die Nase rümpfen.

Wieder geht es Richtung Süd-Praha. hin zum „Operncafe“, vis-a-vis der Staatsoper, der Humboldt-Universität und der „Ewigen Flamme“, die an diesem Abend ganz erloschen wirkt. Der Eintritt macht schlappe 3 Mark 10 — und die leicht durchgeknallten Muskelpakete vor der Tür drehen bei unserer Ankunft grad einer besoffenen Hausfrau den Arm um. Drinnen dürfen wir nicht fotografieren, denn die Türsteher haben heute richtig Lust aufs Verbieten.

Es geht treppab — und rechts fällt der Blick auf einen Wartesaal, der schwer nach Konfirmanden-Unterricht aussieht. Links toben die Promille in einer netten Wohnstube mit goldgerahmten Aktbildern. Hier gibt es noch den Dee Jay. der richtig lange Ansagen macht, mit-, singt und wie in der Tanzschule die Pärchcn animiert. Hinterm Tresen im prallgcfülltcn Schunkclraum wird in einer gut behüteten Vitrine „Club“. „Seniper“ und anderer Ost-Tobak feilgeboten. Vorm Tresen kippt ein DDR-Proll einem Polski-Proll eine wilde Mischung aus viel Wodka und wenig klebrig-süßer Ost-Kola in den Hals. Beide haben sieh niehis mehr zu sagen. „£v, schnell, da vorn gibi’s lliilsefasseir. brüllt ein Tänzer in den Flur. Riesige Hände schieben das Publikum zur Seite und ordnen die wilde Völkerverständigung, bei der die Fäuste fliegen. Zwei Polski-Prolls sind die Verliererund werden in die Nacht gespuckt. Man hört und sieht, daß die DDRler den Osten nicht mögen. Zumindest nicht am Abend.

Wir düsen an Honeys Amtssitz vorbei. Richtung Rostock, streifen ein paar Läden, können uns nicht entscheiden und geraten um 3 Uhr früh in eine Krise. Schwulen Türstehern sind wir nicht warm genug, andere Tanzpaläste wünschen ihren letzten Gästen bereits einen guten Heimweg — nun merkt man doch, daß man in Ost-Berlin ist. Die „Pinguin Bar“ am Rosa-Luxemburg-Platz ist zwar auch rosarot, empfängt uns für ihre letzte Stunde aber mit offenen Armen. Hier dominiert solide Partykeller-Atmosphäre, wie in den 60er Jahren. Auf der Karte gibt es „Korn-Juice 200 g“ für 4 Mark 95. Ich bestelle „Manhattan-Cocktail“ und bekomme prompt einen „Martini-Cocktail“ von dem fröhlich strahlenden Kellner in Livree serviert.

Die Discothek bedient hier unter Jugendstil-Lampen ein Frankieboy-Verschnitt. der für uns gern die Stones herauswühlt und „Street Fighting Man“ auflegt. In meinem Punschglas schrumpelt einsam eine Winzkirsche im lauwarmen Sprit, während am Nachbartisch ein Pärchen an einer giftgrünen Brühe nuckelt. Hier lautet die letzte Ansage vom Dee Jay: „Ich wünsche Ihnen allen eine arbeitsreiche Woche.“

Wir verlassen Hobbythek und Blümchen-Tapete und schauen kurz in der Schönhauser Allee ins „Lolott“. Ein Schlauch, der von einem Hüter schwer bewacht wird. Dahinter hokken ein paar bunte Nachtsehwalben mit dem Kopf in der Hand. „Tanz für junge Leute“ steht auf dem Programm.

Es ist Zeit für die „Schoppenstube“. Und Tamara ist jetzt ein Juwel. Sie kennt alle und jeden und lotst uns überall hinein. Das Türpaket am Eingang würde beim Circus Sarrasani sofort einen Job finden. Drinnen offeriert die Weinkarte heute morgen u.a. „Traubenmilch“ oder „Bärenblut“ — egal, alles Zuckerwasser. Hier lohnt der Gang zum Klo. denn kristallene Lichter beleuchten hintere Räumlichkeiten, die seltsam entrückt erscheinen. Am Tisch pennt jetzt Gitarrist Uwe Hassbecker. Ein ohnehin stiller Knabe. Draußen lärmt der Verkehr und ruft um 5 Uhr die Werktätigen an ihre Schaltstellen im Arbeiter- und Bauernstaat.

In der Schönhauser Allee eröffnet jetzt gegenüber die „Imbißhalle Konopke“, ein Insidertreff. Unter der Bahnüberführung stehen Stühle und Tische, an denen blasse Gesichter hocken. In einer Ecke riecht es nach Currywurst und Heavy Metal, in einer anderen nach Adolf und braunem Moder. Rasierte Skin-Schädel schlürfen „Club Cola“. Für einige Zigarillos plaudern sie mit glänzenden Augen über die weiße Rasse. Großdeutschland und anderen gerade hier totgeglaubten Müll. Einer war dabei, wie Bowie auf der anderen Seite der Mauer rockte, als es zu Schlägereien mit den aufgeschreckten Vopos kam. Es brodelt und gärt. Drüben ist gar nicht so weit weg, wie ich dachte. Nur der Montagmorgen wirkt ein wenig grauer. Ich denke an den Song „Jeder“, in dem Tamara singt: „Ich hör Lachen / Du hörst Schrein / Jeder langt mit seinen Worten/ Wahrheit oder Lüge ein. „