Scheeßel – Der große Beschiss


Die Luft in den größeren Höhen des Pop-Geschäftes ist dünn und eisig, und wer den Weg dorthinauf wagt, sollte über Erfahrung verfügen und gut angeseilt sein, denn schnell stürzt der Neuling ab. Jürgen Wigginghaus und Mountain Music, zu Hause im Sauerland, wollten sehr hoch hinaus, und der Fall war sehr tief.

Scheeßel 1977, das waren großspurige und leichtfertige Versprechungen einer Mini-Agentur, die weder organisatorisch noch kaufmännisch in der Lage war, ein derart ehrgeiziges Projekt durchzuziehen. Scheeßel, das waren dreiste Lügen, Angst vor der Wahrheit, schreiende Naivität und bornierte Blindheit gegenüber den Dingen, so wie sie sich darstellten. Das waren aber auch Gerüchte und Intrigen, Mißgunst und Neid, das war der falsche Ehrgeiz eines 6000-Seelen Dorfes, sein Image aufzupolieren und einen finanziellen Schnitt zu machen, das war persönliche Unfähigkeit, gepaart mit Großmannssucht — eine Mischung, die tödlich ist. Mit diesen Zutaten und Voraussetzungen war die Katastrophe vorprogrammiert. Und alle Beteiligten taten ihr Bestes, damit der Weg dorthin geebnet wurde. Hier nun der Fahrplan ins Chaos:

Mountain Music plante ein Festival mit Douwe Egberts („Rider“-Tabak in Holland). Kosten 360.000 DM, davon bürgte der Sponsor für 100.000 und steckte 40.000 in die Werbung. Als weiterer Sponsor, der vor allem die Werbetrommel rühren sollte, wird die Popzeitung „Musik Joker“ gewonnen. Während die Zuschüsse in der Folgezeit konstant blieben, wurde das Konzept von Mountain immer weiter aufgebläht. Statt zehn sollten erst 16, dann gar 22 Gruppen antreten; statt einen sollte das Open-Air nun zwei Tage dauern.

Mountain Music kündigte als Headliner Rory Gallagher, Alex Harvey, Thin Lizzy und auch Alvin Lee an. Damit handelten sich die Lüdenscheider eine einstweilige Verfügung der Plattenfirma Phonogram ein, die es ihnen untersagte, diese Gruppen weiter auf Plakaten und Handzetteln anzukündigen.

Ohne rechtzeitig die gültigen Verträge gesehen zu haben.baute die Mountain-Crew auf die Zusagen des Luxemburger Agenten Roland („MusiKram“) Nilles („buche sämtliche englischen und amerikanischen Gruppen. Anruf genügt“), der als Booking-Manager schon 90.000 Vorkasse kassiert hatte. Nilles behauptet heute, 12 Bands tatsächlich vertraglich gebunden zu haben. Mountain habe jedoch weder Garantiesummen noch Flugtickets geschickt.

Die finanzielle Decke von Mountain erwies sich in der Tat als zu kurz. Per Kleinanzeige wurden daher in der Tageszeitung „Westdeutsche Allgemeine im Juli Kreditgeber gesucht: für 100.000 DM in Stückelungen zu 20.000 DM. Versprochene Rendite: 20 Prozent. Gläubiger bekamen als Sicherheit die Einnahmen bestimmter Vorverkaufsstellen verschrieben. Etwa die einer Plattenladenkette (Vertrag vom 29. 7.), die jedoch per Rundschreiben bereits am 27.7. ihre Niederlassungen anwies, keinen Vorverkauf zu übernehmen. Wortlaut: „Achtung. Für das Festival in Scheeßel verkaufen wir keine Karten. Anderslautende Erklärungen aus Anzeigen entsprechen nicht der Wahrheit.“ Mountain lernte nicht aus Fehlern. Ein „endgültiges und erweitertes Programm“ wurde mit großem Werbeaufwand verkündet. Die Zusammenstellung der Gruppen war reines Flickwerk. Wigginhaus: „Daß Nektar“ in der Werbung gleich nach den Byrds genannt!!!) überhaupt gebucht wurde, das war eine Sache, die wurde aus der Not geboren, nachdem Gallagher und die anderen rausgefallen waren.“ Die Byrds und Nite City, die

wochenlang(I) angekündigt wurden,schickten ihre unterschriebenen Verträge erst eine Woche vor dem Festival nach Deutschland. Quicksilver, Steppenwolf und Iron Butterfly mußten als Paket gebucht werden, existierten genau wie die Byrds jedoch nur auf dem Papier.

Der Vorverkauf lief nicht, weder im Ruhrgebiet noch im Norden Deutschlands. 20 bis 30 Karten pro Verkaufsstelle ist guter Schnitt, in Hamburg wurden in einzelnen Vorverkaufsstellen drei oder vier Karten abgesetzt, im friesischen Aurich ganze zehn. Mountain warf über 10.000 Freikarten auf den Markt und versprach sich davon einen Werbeeffekt, machte sich aber nur selbst Konkurrenz. Der Sponsor „Rider“ wußte nichts davon und fand es im Nachhinein „ziemlich schokkierend“.

Kein Geld, kein Überblick, keine Gruppen.

Aber niemand will die Wahrheit sagen

Mountain Music begann die Übersicht zu verlieren, wenige Tage vor dem Festival. Die Kalkulation stimmte nicht, die Drehbühne mußte gestrichen werden. Täglich waren neue Gerüchte zu hören, welche Gruppen nicht auftreten würden: Sie wurden nicht mehr geflüstert, sie waren in offiziellen Infos der Musikbranche nach-1 zulesen.

Die Ereignisse überstürzten j sich: die amerikanischen Grup- j pen verlangten am 31.8./1.9. ‚ weitere Zahlungen. Weil Geld fehlte, klappte der Transfer: nicht. Nite City und Nektar sag-j ten ab,die Forderung der Byrds nach Übernahme der Frachtkosten und Restzahlung (Gesamtsumme über 25 000 Dollar) konnten nicht erfüllt werden. Angeblich, weil der deutsche Gewährsmann für diese Bands ein nicht einzuhaltendes zeitliches Limit steckte.

Am Freitag (2.9.) war das Festival im Grunde geplatzt. Vertraglich vereinbarte finanzielle Leistungen an den Ordnungsdienst und an die Gerüstebauer konnten nicht erfüllt werden. Die Bühne sollte demontier! werden. Jetzt trat der Gemeindedirektor von Scheeßel auf] den Plan, er bestand darauf,! das Festival durchzuziehen und kriegte den Gerüstebauer herum, indem er ihm Einnahmen aus der Tageskasse versprach. Abends um 21 Uhr wurde der Presse (zwei Journalisten) noch einmal die Hucke vorgelogen, alle Gruppen bis auf Nektar würden kommen. Unterdessen strömten die Besucher schon auf das Gelände.

Was sich am Samstag dann hinter der Bühne abspielte, ist bitter: Niemand traute sich, dem Publikum die Wahrheit zu sagen. An den Eingängen wurden bis 18 Uhr 40 DM Eintritt abkassiert. Auf der Bühne standen jedoch nur Colosseum II, Van der Graaf, Long Tall Earnie, Camel und Golden Earring. Der Schein wurde gewahrt, bis der Feuerschein die Nacht erhellte. Bis kurz vor zwei Uhr ließen die Fans sich narren, dann erst dämmerte es ihnen, brannte die Bühne, wurde — leider – auch die Anlage (Wert: 1.000.000 Mark) der unschuldigen Verleihfirma „Flash Light & Sound“ größtenteils zerstört. Von Rockern bedroht und vom Gerichtsvollzieher mit einem Arrestbefehl über 111.000 DM bedrängt, war Wigginhaus zuvor in einem Krankenwagen geflohen, als seine Freundin unter Schreikrämpfen einen Nervenzusammenbruch erlitt. Er begab sich für einige Stunden in Schutzhaft.

Einige Unbelehrbare wollten auf Drängen der Gemeinde und in Zusammenarbeit mit ihr für

Das Feuer trifft auch Unschuldige:

Die Firma „Flash Light & Sound“

verliert ihre nach Scheeßel vermietete Anlage. Wert: eine runde Million

Sonntag ein dürftiges Notprogramm erarbeiten, aber Flash Light & Sounds spielte nicht mit.

Sonntag wurden von Festivalbesuchern Getränkecontainer aufgebrochen und geplündert. Schaden: eine Viertelmillion. Die Polizei schaute zu. Nachmittags erst verprügelten Zivilpolizisten einige Festivalbesucher. Sonntagabend summierte sich der entstandene Schaden zu Millionen. Aber die Haftpflichtprämie an die Versicherung in Höhe von 11.000 DM hatte Mountain nicht bezahlt!

Betrug und große Verlade. Stimmt dieses Fazit? Gerüchte sagen, das Festival sei auf einen Bankrott angelegt gewesen. Aber aus seinem Köfferchen mit dem Aufkleber „First Rider Open Air — Eilt sehr“ zieht Mountain-Mann Wigginghaus die Verträge mit den Gruppen. Beweise oder nur wertloses Papier? Die Byrds sollen jedenfalls verklagt werden. Der Hintergrund der Geschichte kommt nicht vollständig aus dem Nebel. Konkurrenz-Veranstalter sollen an der Sache gedreht haben. Einer von ihnen sagt jedoch: „Es wäre besser gewesen, wir hätten dieses Festival tatsächlich verhindert. Der Schaden für die ganze Branche ist enorm.“ Ins Gerede kam auch Ingrid Blum, Redakteurin beim „Musik Joker“: Sie sei, so berichtete Mitte September der „Stern“, Gewährsmann von Mountain für die Byrds und Nite City gewesen,durch ihre Hände seien die Verträge gegangen. Honorar für diesen Dienst: 7.000 Mark.

Ein Nachtrag der Redaktion des Musik Express: Im August-Heft des Musik Express erschien eine ganzseitige Anzeige, in der die Firma Mountain ihr Festival ankündigte. Diese Anzeige wurde bereits Anfang Juli gebucht und von Mountain umgehend mit einem gedeckten Scheck bezahlt. Damals ahnten wir nicht, was kommen würde. Dennoch tut es uns leid, wenn Rockfans auf diese Weise veranlaßt wurden, nach Scheeßel zu fahren.