Nirvana

Nevermind – 20th Anniversary Deluxe

Geffen/Universal 23.09.2011

Grunge: Zum 20-jährigen Jubiläum kommt das bestverkaufte Indie-Album aller Zeiten in diversen „Deluxe“-Editionen.

Was ist da los, wenn eigentlich alles gut laufen sollte im Leben? Wenn sie sagt: „Mach mit mir, was du willst. Kinder. Haus bauen. Oder einen Baum pflanzen. Könnte alles so schön sein!“ Daher muss man eigentlich schon sehr arrogant sein: einen Song über den Häuslichkeitswunsch der Partnerin zu schreiben und diesen „Immodium“ zu nennen. Wie das Medikament gegen Durchfall. Kriegt da jemand wacklige Beine, wenn er an Bindung denkt?

Nein. Den Titel „Immodium“ änderte Kurt Cobain, der das Stück komponierte, später um in „Breed“, Nirvana veröffentlichten es auf ihrem Album Nevermind. „Immodium“, der mit diesem Titel auch der „ Deluxe Edition“ beiliegt, sagt alles aus über Cobains Selbstwahrnehmung. Es ist keine Arroganz, eher Hilflosigkeit, Abgrenzungsschwäche, die den Sänger in einen Strudel aus Drogen- und Medikamentenabhängigkeit und Krankheit riss, an dessen Ende Selbstmord stand. Aus „Immodium“ wurde „Breed“, das schulterzuckende Einverständnis zum Kinderkriegen. Dabei ist „ Immodium“ ein Gigant von Song, so stark im Sog wie ein Düsentriebwerk. Allein der Trommelwirbel, an den sich Gitarre und Bass stromlinienförmig anpassen, ist Gold wert. Es ist seltsam, dass Nirvana-Songs eine derartige Power hatten, aber Cobain immer nur davon sang, wie schlecht es ihm geht. Depression macht oft egozentrisch, und erklären kann man sich anderen Menschen dann nur schwer. Oder warum nennt Cobain einen Song „Lithium“ – manche Antidepressiva enthalten Lithium –, und kommt im Refrain nicht über die wenig bedeutungsschwangeren Worte „Yeah Yeah Yeah Yeah“ hinaus? Hier dreht sich jemand um sich selbst. Aber: Krankheiten und Drogen werden – denk da mal drüber nach, Lou Reed – hier auch nicht glorifiziert. Als Kapitulationserklärung klang nie wieder etwas so befreiend wie „Lithium“.

Vielleicht ist es das, was Nevermind, die zweite Nirvana-Platte, seit 1991 nicht nur zum erfolgreichsten Indierock-Album aller Zeiten (über 30 Millionen verkaufte Tonträger) machte und dessen Inspirationsquelle, die Pixies, nahezu völlig verdrängte – sondern auch zu einem traurigen, faszinierenden Werk. Jemand war fertig mit der Welt, bevor es richtig losging mit der Karriere. Das berühmte „Here we are now, entertain us“ aus „Smells Like Teen Spirit“ war nicht zynisch gemeint. Cobain gab seinem Leben eine kleine, letzte Chance.

Die Deluxe-Editionen zum 20-jährigen Jubiläum sind eine zwiespältige Sache. Die Demoversionen (Boombox Rehearsals, Devonshire Mixes, BBC Sessions) spielen vor allem Schlagzeuger Dave Grohl in die Hände. Es ist unfassbar, wie ausgereift sein Drumming schon war, bevor es für die fertigen Versionen ins Studio ging. Konnte man nahezu eins zu eins übernehmen.

Produzent Butch Vig traf auf ein bestens vorbereitetes Trio. Grohl war – würde es in Bezug auf Schlagzeuger nicht so klischeehaft klingen – das „Rückgrat“ der Gruppe, der Gegenpol zu Cobain. Und das, obwohl er als Letzter in die Band einstieg. Wer konnte ahnen, dass aus Grohl später jemand werden würde, der grimassieren würde wie ein Schimpanse beim Eierkraulen. Und ausnahmslos schlechte Musik macht. Abgesehen davon also, dass hier die einstige Brillanz Grohls sichtbar wird, sind sämtliche Alternativ-Versionen überflüssig. Wer will, wird sich bestätigt sehen, dass der finale „Nevermind“-Mix zu poppig klang. Und sich fragen, weshalb Pixies-Verehrer Cobain nicht gleich – statt erst für In Utero (1993) – bei Brutalsound-Produzent Steve Albini angefragt hatte.

Anders beim Bonusmaterial nicht verwendeter Nevermind-Stücke. Es ist gut, dass sie hier versammelt sind. Man muss auch mal den heiligen Gral Nevermind hinterfragen dürfen: die Tracks und ihre Abfolge. Das Album hatte, gerade ab der zweiten Hälfte, Hänger. „ Polly“, „Lounge Act“ und „Something In The Way“ haben Atmosphäre, leiden aber unter zu schwachen Refrains. Andere Songs hätten da ihren Platz verdient. Das für Nirvana-Verhältnisse geradezu epische „Aneurysm“ (schon wieder ein Begriff aus der Medizin) etwa, „Dive“, die später zu B-Seiten und Sampler-Beiträgen wurden, oder, wie „ Rape Me“, auf In Utero landeten. Wobei das Riff von „Rape Me“ Ähnlichkeit mit „Smells Like Teen Spirit“ aufwies, der Song deshalb wohl geschoben und von Cobain – das nahm man ihm ab – als ironische Referenz an ihren Megahit gerechtfertigt wurde.

Was ist heute der Wert von Nevermind? Es ist ein im besten Sinne zeitlos klingendes Album mit sehr vielen guten Stücken. Wer an Grunge denkt, denkt heute an löchrige Jeans, Pearl Jam, affige Bärte und den nackten Oberkörper von Chris Cornell, auf den die Locken eklig fallen. Nirvana hatten mit diesen Posen, dieser Mode nicht das Geringste zu tun. Sie waren irgendwie Punk. Aber eben ohne die Punk-Egalhaltung. Cobain sendete Hilferufe aus – und war im nächsten Moment nur zu erschöpft, um selbst was anzugehen. Das Nachfolgealbum In Utero war der erstaunliche Triumph der Abgeklärtheit und Härte. Kein Einknicken mehr, was Forderungen der Partnerin angeht, wie bei „Immodium“ alias „Breed“. Keine Songs für Häuslebauer.

Als hätte es Courtney Love nie gegeben. Aber das ist eine andere Geschichte.

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