Charlie Sexton


Austin/Texas ist die Heimat eines 17jährigen Sonntagskindes, das alle Trümpfe in der Hand hat: das Aussehen, um schon bald als Postertapete Teenager-Zimmer zu zieren und die musikalische Substanz, um selbst einem Gitarren-Idol wie Keith Richards Respekt abzuverlangen. Peter Jebsen hat den Werdegang des Wunderknaben verfolgt.

Schauplatz: Austin/Texas. Wir befinden uns in irgendeinem der zahlreichen verräucherten Clubs, die die Universitätsstadt zur texanischen Musikmetropole machen. Auf der Bühne stehen die Bizarros, eine eher durchschnittliche Rock V Roll-Band, die sich mit lokalen Gigs vor „Lone-Star-Beer“- trinkenden Studenten über Wasser hält.

Die Zuhörer grinsen – mitten im Auftritt marschiert ein 11jähriger Knirps auf die Bühne und stöpselt seine Gitarre ein. Als er in die Saiten greift, verstummen die Witzeleien. Mit harten Power-Riffs und ausgereiften Soli nimmt der Gitarren-Zwerg das verblüffte Publikum im Sturm und erntet seinen allerersten Applaus.

Das war vor sechs Jahren. Heute, mit 17, kann Charlie Sexton auf eine musikalische Vergangenheit zurückblicken, um die ihn selbst manch langjähriger Profi beneiden dürfte: Plattenaufnahmen mit illustren Größen wie den Stones-Mannen Keith Richards und Ron Wood, Bob Dylan und Ex-Eagle Don Henley; ein Vertrag mit der großen Plattenfirma MCA, die sich mit geballter Konzernkraft hinter ihre Entdeckung stellt; eine Einstands-LP (PICTURES FOR PLEASURE), die vom Billy Idol-, Simple Mindsund Glenn Frey-Produzenten Keith Forsey auf schnittigen Hitkurs gebracht wurde; und zu allem Überfluß winken auch schon diverse Film-Offerten.

Charlie Sexton hat beste Aussichten, ein neues amerikanisches Teenager-Idol zu werden. Er hat den Einzelkämpfer-Look a la „Rebel Without A Cause“, der Leinwand-Helden von James Dean bis Matt Dillon auch zu Poster-Stars gemacht hat. Seine Stimme klingt wie eine Mischung aus David Bowie und einem jugendlichen Elvis Costello, und seine blueslastigen Gitarrenkünste finden

Anklang in den höchsten Rock-Kreisen. Angesichts dessen fehlen manchen amerikanischen Journalisten die (englischen) Worte – sie retten sich ins Deutsche und sprechen nur noch vom „Austin Wunderkind“…

Der Werdegang des heutigen Wahlkaliforniers entspricht fast dem stereotypen Lebenslaufseiner schwarzen Blues-Kollegen. Charlie Sexton ist seit frühester Kindheit von Musik umgeben; er war vier Jahre alt, als ihn seine Mutter zum ersten Mal in einen Club schleppte. Von da an war er Feuer und Flamme. Seine allererste Gitarre ließ er sich noch von einem siebenjährigen Spielkameraden abschwatzen („Ich warte heute noch darauf, daß er mir die zurückgibt!“), mit acht Jahren startete Sexton dann seine eigene Gitarrensammlung.

Der verordnete Musikunterricht ödete ihn an: er besorgte sich lieber Schallplatten oder schlich sich in Clubs ein, um Methoden und Tricks seiner Gitarren-Vorbilder herauszufinden und zu kopieren. „Ich habe damals alles in mich hineingefressen, an das ich nur herankam – Rock ’n‘ Roll, Rockabilly, Blues und eine Zeitlang sogar Heavy Metal“, erinnert sich Charlie im Frühjahr ’84 in Austin, „aber als ich dann endlich ein paar alte Nummern von Little Richard hörte, warf ich alles andere aus dem Fenster. Das war wirklich ehrliche, echte Musik. „

Mit elf verließ der Nachwuchs-Gitarrero das Übungskämmerlein und hatte sein Live-Debüt mit den Bizarros. Kurze Zeit später lernte er die Fabulous Thunderbirds kennen, das Blues-Quartett um Stevie Ray Vaughans großen Bruder Jimmie; auch bei ihnen stieg Charlie Sexton kurzerhand als „Special guest“ ein. Mit von der Partie war diesmal sein neunjähriger Bruder Will, der seinen ersten Auftritt zu nächtlicher Stunde im Soap Creek Saloon zu Austin fast verschlafen hatte.

Bei dieser Show trafen die Sexton Brothers auf ihre zukünftige Patentante – die Rhythm & BluesSängerin Lou Ann Barton, hiesigen Kennern durch ihre hervorragende ’82er-Elektra-LP OLD ENOUGH bekannt. Der rührige Szenen-Star nahm die beiden Gitarren-Kids unter die Fittiche und führte sie in die Musikerkreise von Austin ein. Bald verbrachte das brüderliche Duo nur noch die Schultage bei der Mutter in Wimberley, einem 60 Kilometer von Austin entfernten Country-Nest; an den Wochenenden zogen sie mit Tante Lou Ann durch die Clubs der texanischen Hauptstadt.

„Ich war darauf angewiesen, mich mit anderen Musikern zusammenzutun, da von meinen Altersgenossen keiner diese Musik richtig spielen konnte – ich eigentlich auch nicht“, meint Sexton, „aber dafür konnte ich es besser vortäuschen. Irgendwann hatte ich es dann wirklich drauf. „

Profi wurde er mit 13, als er mit einer Blues-Band durch Austin tingelte; für drei Auftritte am Abend gab’s den fürstlichen Lohn von 25 Dollar. Und dann wurde eines Kollegen Pech ein Glücksfall für Little Charlie, wie Mr. Sexton damals genannt wurde (ein Spitzname, den er heute nicht mehr gern hört): Jesse Taylor, Gitarrist des Country-Rockers Joe Ely, hatte sich kurz vor einer anstehenden Tournee die Hand gebrochen; und da sich Charlies Reputation bis zu Joe Ely herumgesprochen hatte, durfte er für Taylor einspringen. Sechs Wochen lang war der 13jährige „on the road“ – aus Gründen des Jugendschutzes selbstverständlich immer mit Aufpasser.

Solcherart fürs harte Rock-Busineß gewappnet, klemmte sich Charlie seine Tausend-Dollar-Ausrüstung aus dem Kinderzimmer unter den Arm, sagte Mutter Kay und dem verschlafenen Wimberley ade und zog zusammen mit Bruder Will in ein kleines Häuschen in Austin. Die Miete erspielte man sich nachts, tagsüber ging’s meistens (Will) beziehungsweise manchmal (Charlie), in die Schule.

Angelockt von der blühenden Rhythm-&-Blues-Szene Austins mit Gruppen wie den Thunderbirds, Stevie Ray, Vaughans Double Trouble, der Lou Ann Barton Band und den LeRoi Brothers, strömten Anfang der 80er Jahre etliche Talentsucher aus New York und Los Angeles gen Texas, wobei ihnen natürlich die Fähigkeiten des gutaussehenden Rock-’n‘-Roll-Jünglings nicht verborgen blieben. Der nahm’s erst mal gelassen hin, schlug eine Zeitlang alle Vertragsangebote in den Wind und unterschrieb schließlich Anfang 1984 bei MCA Records.

Und damit begann der Aufbau zum Solo-Star. Nach zwei lokalen Produktionen in Austin einem Hobby-Projekt eines Buchhalters mit Rock-Ambitionen und einer Weihnachtsplatte hatte Sexton sein nationales Schallplatten-Debüt auf der Soundtrack-LP THE WILD LIFE. Bei seiner Version des Rolling-Stones-Songs „It’s Not Easy“ griffen ihm Ron Wood und Co-Autor Keith Richards persönlich unter die Arme.

Während sich Keith nur kurz im Studio blicken ließ und schnell wieder abdampfte, freundete sich Sexton mit Ron Wood an und wurde von ihm prompt zur Produktion seiner jüngsten Solo-LP eingeladen; inklusive freier Kost und Logis im Haus der Familie Wood. Bei dieser Gelegenheit lernte er auch gleich Bob Dylan kennen, der Freund Ronnie mit ein paar Gitarren-Tracks beehrte.

Eine weitere Freundschaft entwickelte sich mit Don Henley, dessen Song „Man With A Mission“ durch Charlie Sextons primitiv-kraftvolle Sologitarre zu einem der Höhepunkte auf der Henley-LP BUILDING THE PERFECT BEAST wurde. Zweimal setzte Sexton im Studio an, und schon hatte er seine Parts im Kasten – und mit Don Henley, übrigens ebenfalls ein Texaner, einen weiteren Fan.

Mit seinem Solo-Werk ging es allerdings nicht so schnell voran. Als Produzent war zunächst der Ex-Bowie- und Mott The Hoople-Gitarrist Mick Ronson im Gespräch; nachdem man sich schon zusammen an die Songauswahl und eine erste Session gemacht hatte, zerschlug sich die Zusammenarbeit wieder.

Als neuer Mann stieg der britische Schlagzeuger Keith Forsey ein, der einst im Gefolge von Giorgio Moroders Donna-Summer-Troß von München nach Los Angeles umgesiedelt war und sich dort mit diversen Hit-Projekten selbst einen Namen als Produzent gemacht hatte.

Elektronik-Fan Forsey brachte eine neue Richtung in Sextons Sound. Während dem frischgebackenen MCA-Künstler beim ersten Gespräch vor anderthalb Jahren in Austin noch eine LP als Charlie Sexton & The Eager Beaver Boys mit „wildem Texas-Rock-’n-Roll“ vorschwebtedarunter zum Beispiel eine ausgeklinkte Cover-Version des Dio Di Muci-Hits „The Wanderer“ -, ersetzte Keith Forsey die Sexton-Band durch Schlagzeug-Computer und Synthesizer.

Charlie Sexton heute: „Ein ‚echter‘ Drummer hätte zuviel Zeit gekostet. Dank der Drum-Machine mußten wir nicht immer wieder aufs neue den Schlagzeuger ins Studio rufen, wenn wir mal ein Arrangement ändern wollten.“

Produzent Forseys Kommentar zu Sextons ’85er-Sound: „Charlie ist als Künstler so schnell herangewachsen, daß wir das Material das er vorher geschrieben hatte, nicht voll und ganz realisieren konnten. Wir mußten also neue Songs erarbeiten. „

Während die Debüt-LP PICTURES FOR PLEASURE in der Musikbranche vorwiegend begeisterte Reaktionen hervorrief, stieß das neue Sound-Gewand des „alten Bekannten“ in Austin – einer der wenigen amerikanischen Städte, in denen traditioneller Rhythm & Blues immer noch so angesagt ist wie eh und je – auf ein zwiespältiges Echo. „Wo ist seine Gitarre abgeblieben?“ fragt sich zum Beispiel Charlies Tante Lou Ann Barton. „Die Gitarre war das letzte, an das ich bei der Produktion gedacht habe“, erklärt dazu Charlie Sexton im MCA-Office in Los Angeles, „mir ging es nämlich nicht darum, einfach nur ein ,guitarhero‘ zu werden. Ich war diesmalstärker an Songs an sich interessiert.“

Auch sein Lebensstil hat sich gewandelt. Anfang des Jahres zog er von Austin nach Los Angeles; er lebt dort heute mit Girlfriend Carlene Carter, Tochter des Country-Sängers Johnny Cash und Ex-Frau des britischen Bassisten Nick Löwe. „In Los Angeles ist es für mich relaxter als in Austin, ich kann hier besser untertauchen; und außerdem muß ich weniger Geld für Platten ausgeben es gibt hier viel mehr Radiostationen“, sagt Charlie Sexton, der mit 15 in Austin noch andere Vorstellungen von der amerikanischen Westküste hatte: „In Texas gewinnt man schneller Freunde. Los Angeles ist da etwas unehrlich – es läuft furchtbar viel ,bullshit‘. Keiner will wirklich dort leben; die meisten denken nur daran, wie sie bloß den Absprung von dort schaffen können.“

Texas boy goes Hollywood – in Los Angeles gehört Charlie Sexton mittlerweile zur Szene, sein Name wird dort längst nicht mehr nur als Geheimtip herumgereicht. Die ewigen Trendies müssen sich nun also nach frischem Hype-Material umsehen. Und so munkelt man in Los Angeles schon wieder von einem neuen Gitarren-Wunderkind. Sein Name? Will Sexton!

Kommentar eines lokalen Klatschkolumnisten: „Mit seinen 15 Jahren läßt Will den 17jährigen Charlie als uralt erscheinen …“