Air Supply, nichts dabei!


Auch wenn das neue Album von Death Cab For Cutie nun doch nicht mit den Konventionen des Indiepop bricht: Es will als Appell verstanden werden gegen dumme „Guilty pleasures"-Vorwürfe. Und so versichert uns Chris Walla auch im Interview. Wir dürfen Yes und Battles und Chicago und Leonard Cohen mögen. Gleichzeitig!

Je öfter man New York besucht, desto kleiner wird es. Adam Green läuft telefonierend die Bleecker Street entlang, ein ganz in Weiß gekleideter Nick Cave atmet die kalte Luft einer Straßenecke von Soho, und die Hives, die heute Abend ein Konzert mit den Donnas geben werden, schreiten den Broadway auf und ab wie Mafiapaten. Wenn man von der 53. Straße auf die Park Avenue blickt und sieht, wie sich die Gebäude verschränken und ineinandergreifen, wie die Fassaden in den kleinen Gassen und Seitenstraßen sepiafarben leuchten und schimmern, dann weiß man wieder, warum es keinen besseren Ort gibt auf dieser Welt als New York.

In der Avenue Of The Americas, wo sich die Wolkenkratzer besonders hoch in die Luft strecken, befindet sich ein großes Versicherungsgebäude und in ihm ein kleiner, abgenutzter Raum mit nichts als einem Tisch und einem CD-Spieler. Es läuft narrow stairs, das Album (es ist ihr siebtes), mit dem die vor elf Jahren im kleinen Bellingham, Washington, gegründete Band Death Cab For Cutie im Mai 2008 den ersten Platz der amerikanischen Billboard-Charts belegen wird. Es klingt ganz anders als plans, aber längst nicht so „weird“, wie es Gitarrist/Produzent Chris Walla und Gitarrist/Sänger Benjamin Gibbard lancierten. „Bixby Canyon Bridge“ ist der zunächst gemütvolle und plötzlich harsch von Stakkatogitarren unterbrochene Einstieg mit Unterwassergesang von Ben Gibbard zum Schluss. Die achteinhalbminütige Single „I Will Possess Your Heart“ beginnt ähnlich wie das ebenso lange „Goin‘ Against Your Mind“ von der letzten Built To Spill, die erste Hälfte kommt ganz ohne Sänger aus. Das knappe „You Can Do Better Than Me“, ein Ringo-Song, ein sentimentales pet sounds-Andenken, macht der Liebsten ein etwas fußfälliges Kompliment: „There’s times I think of leaving/But it’s something I’ll never do / ‚Cause you can do better than me /But I can’t do better than you.“ Grandios: das fast schon gravitätische, die Platte abschließende „The Ice Is Getting Thinner“ mit Wehmut im Blut und Kloß im Hals, „Pity And Fear“ mit viel Percussion und Ethno-Ornament und der „Based on a true story“-Song „Grapevine Fires“, in dem die Feuerwehrleute in Doppelschichten arbeiten, während die Erinnerung langsam verglüht.

Weil Benjamin Gibbard, der Verfasser dieser literarischen, innigen und manchmal sogar etwas albernen Texte „nicht in der Stadt“ ist (und unter anderem an neuen The-Postal-Service-Songs arbeiten soll), sprechen wir mit Christopher Walla, der dem Bundesstaat Washington den Rücken gekehrt hat, um im Indie-Wunderland Portland zu wohnen. Vor allem drei Dinge machen diesen Mann sympathisch: 1. Er sieht aus wie der junge Thurston Moore. 2. Er bemüht sich bei jeder Antwort um größtmögliche Genauigkeit, ist erstaunlich selbstkritisch und vertritt unkonventionelle Ansichten: Die letzte, fünfte Death-Cab-LP plans, deren Herzstück „I Will Follow You Into The Dark“ die Band noch über die „O.C.,California“-Umlaufbahn hinausschleuderte, hält er heute nur noch für halb gelungen. 3. Er ist Classic-Rock-Fan und hält die erste Van Haien für den heiligen Gral der Rockmusik.

Von den Rockeinflüssen abgesehen, die Narrow stairs tatsächlich zu einer insgesamt raueren Platte als plans machen, habe ich bei ein paar Stücken auch Progrock herausgehört. „I Will Possess Your Heart“erinnert sogar an britische Neo-Progbands wie Elbow und Catherine Wheel in ihrer adam and EVE-Phase. Zufall?

chris walla: Bestimmt nicht. Als ich in der Junior High School war, stammten meine Lieblingsplatten von Genesis, Yes und King Crimson. Yes-Bassist Chris Squire ist einer der Gründe, warum ich angefangen habe, Musik zu machen. Erst als ich älter wurde, habe ich mich mit Indierock und ähnlichen Sachen beschäftigt. Ich habe im Sommer die Band So Many Dynamos aufgenommen, die diese Versatzstücke ebenfalls benutzen. Und dann gibt es natürlich Battles, einzigartige Musiker, die unschlagbar spielen können. Eine weitere Band, die vermehrt auf Prog zurückgegriffen hat, waren die Decemberists auf the crane wife.AIs ihr Produzent hat es einen Riesenspaß gemacht, die Band bei den Aufnahmen dabei zu beobachten, diese ausufernden, epischen Stücke zu spielen. Und es hat mich als Musiker sehr inspiriert.

Ich weiß, dass es sehr problematisch ist, als Mitglied einer Band über Texte zu sprechen, die man gar nicht selbst geschrieben hat. Aber kann es sein, dass Benjamins recht konzise, mal offene, mal abgeschlossene Erzählungen sich stark an den Kurzgeschichten von Raymond Carver orientieren?

Ich weiß zumindest, dass er Raymond Carver liebt. Und ich denke, dass seine Texte auf dieser Platte nicht nur literarisch sind, sondern auch sehr rund heraus, sehr direkt. In den letzten Jahren war Ben geradezu von der Idee besessen, sehr konzentrierte und direkte Geschichten zu erzählen. Sehr einfach und gleichzeitig bewegend zu texten, ohne dass es idiotisch klingt. Auch auf die Romane und Lyrics von Leonard Cohen ist Ben zurückgekommen. „The Ice Is Getting Thinner“ ist ja eigentlich eine ziemlich klassische Cohen-Komposition: Es gibt drei Verse, die alle mit den Worten „the ice is getting thinner“ enden, und es ist auf seine Weise sehr komprimiert und klar. Eine einfache Metapher wie die des dünner werdenden Eises in einem Trennungslied wortwörtlich zu verwenden und das Lied so zu nennen, ohne dass es kitschig wirkt, ist eine Gabe. Denn wenn man nicht aufpasst, schießt man weit übers Ziel hinaus.

Kälter und grüblerischer als in „The Ice Is Getting Thinner“ hat Ben Gibbord bisher nur selten getextet.

Genau das wollten wir ja auch erreichen, und ich bin wirklich stolz auf dieses Stück. Dem Lied so viel Erdenschwere wie möglich zu geben, das war unser Ziel. Bei einem Song wie „You Can Do Better Than Me“, der leichtfüßig und gelöst ist, wäre das hingegen lächerlich gewesen. Dann wiederum gibt es aber auch einen Song wie „Talking Bird“, der unglaublich traurig ist: Es geht um die Idee, jemanden in seinem Leben zu haben, der dir stets treu und ergeben ist, obwohl du ihm oder ihr eigentlich gar nicht so viel geben kannst. Jedenfalls nichts, was er oder sie sich nicht auch woanders holen könnte.

Weißt du, wie lange Benjamin in der Regel braucht, um einen Songtext zu verfassen?

Er braucht eine ganze Weile. Ich denke, er ist ziemlich langsam. Ein akribischer Arbeiter, der genau weiß, was zum Grundgefühl eines Songs passen könnte und auf was er lieber verzichten sollte. Bis das Ganze dann fertig ist und wir als Band es präsentiert bekommen, kann eine halbe Ewigkeit vergehen. Wenn es dann so weit ist, läuft das aber sehr demokratisch ab: Können die anderen mit einem bestimmten Wort oder einer Zeile so gar nichts anfangen, ist Ben diesbezüglich sehr aufgeschlossen. Dieser Fall tritt aber nur ganz selten ein.

Um noch einmal auf die Musik zurückzukommen: Habt ihr euch gedacht: Dieses Mal wollen wir etwas aufnehmen, das ganz anders ist als transatlanticism oder plans?

Doch, ja, das haben wir schon. Ich gebe zu, dass es vermutlich sehr einfach für uns gewesen wäre, eine zweite Version von plans zu machen. Aber keiner von uns wollte das. plans war aus unendlich vielen, winzigen Legosteinen zusammengesetzt, und es war einfach sehr befreiend für uns, dass wir dieses Mal einige Stücke dabei harten, die nach ein paar Takes im Kasten waren. Ich denke heute, plans war überproduziert. Nein, es war sogar schlecht produziert. Man hat zum Beispiel den Bass überhaupt nicht gehört! (Anm.d. Verf.: Der Produzent hieß auch damals Christopher Walla.) Ich mag immer noch vieles auf der Platte, doch nimm zum Beispiel mal „Marching Bands Of Manhattan“: ein toller Song, aber wie wir ihn vorgetragen haben, das war Murks. Eine solche Komposition erfordert einfach viel mehr epische Größe – das haben wir damals nicht hinbekommen und somit eine Chance verpasst. Narrow stairs ist nun unsere erste Platte ohne Gastmusiker seit langer, langer Zeit, und sie ist insgesamt gesehen sehr kompakt. Klar, uns sind eine Kesselpauke und anderer seltsamer Orchester-Kram in den Schoß gefallen, aber wir haben alles selbst gespielt. Vier Menschen in einem Proberaum zusammenbringen, „Record“ drücken, drauflosspielen, fertig.

Das Gegenteil von Yes!

(lacht) Exakt!

Warum muss man Bands wie Yes oder Emerson, Lake & Palmer uncool und furchtbar finden, um auf der guten Seite zusein?

Oh, das muss man nicht, das ist ja lächerlich. Aber ich weiß, was du meinst. Jeder trägt doch ein musikalisches Gepäck mit sich herum, und vieles davon sind eben Sachen, mit denen man aufgewachsen ist. Wenn man eine schöne Kindheit hatte und die Musik von Boston oder Debbie Gibson damit verbindet, dann liebt man diese Musik auch 20 Jahre später noch. Als eine Band wie Chicago…

Von Chicago gibt es einige Songs, die so unglaublich gut sind, dass man sie sich kaum anhören kann!

Absolut. Unglaubliche Musiker, mindestens fünf ihrer Alben sind fantastisch, und „Feeling Stronger Every Day“ ist ein Killersong! Ich meine, ich habe nie das Verlangen, die Doors aufzulegen, und ich muss auch nie mehr in meinem Leben „Stairway To Heaven“ hören, aber ansonsten gab es in den Siebzigern und Achtzigern wahnsinnig viel Musik, der ich nie müde geworden bin. Matthew (Caws -Anm. d. Red.) von Nada Surf ist auch ein großer Verehrer dieser Zeit, sein Alltime-Lieblingssong ist „Magic Man“ von Heart. Die ersten drei Heart-Alben sind schlicht perfekt. Sie waren die Lieblingsband meiner Mutter. Alles, was sie wollten, war Led Zeppelin zu sein. Und dann gibt es da noch diese eine und bisher einzige Yes-Platte, auf der nicht Jon Anderson singt, sondern Trevor Horn von den Buggles: drama. Eine lächerlich übertriebene Prog-LP, dabei aber sehr gut. Iron Maiden haben ihr viel zu verdanken. Was ich sagen will: Ich lehne die Idee, dass es sich bei diesen Sachen um „guilty pleasures“ handeln soll, ab. Vor drei Wochen habe ich mir sogar ein Air-Supply-Konzert angesehen (grinst). Wenn ich etwas mag, dann mag ich es.

An dieser Stelle müsstejetzt einer von uns beiden seufzen und sagen: „They don’t make songs like this anymore!“

(lacht) Naja, das stimmt ja auch. Was mir damals an der ganzen Sache noch gefallen hat, war die enorme Bandbreite bei den großen Plattenfirmen: Chicago waren auf einem Major-Label, aber eben auch Genesis mit ihren wirklich seltsamen, verschrobenen Platten. Und Brian Eno! Man muss sich das mal vorstellen: Die Plattenfirma konnte es kaum erwarten, Brian Eno Geld hinterherzuwerfen, damit er taking tiger Mountain by strategy aufnehmen konnte! So viel Geld für so ein wirres, verrücktes, großartiges Zeug. Davon gab es damals eine ganze Menge.

NARROW STAIRS Und die hohe, noch immer sanft gebettete Stimme von Benjamin Gibbard jedoch, das ist heute. Und diese zwei herrlichen Zeilen, mit denen das Lied „Long Division“ beginnt: ,His head was a city of paper buildings and the echoes that remained / Of old friends and lovers, their features bleeding together in his brain.“ Wären Death Cab For Cutie und ihre elf neuen Songs eine Stadt aus Papier, sie würde größer werden und durch die ersten Wolken wachsen -jedes Mal, wenn sie Feuer fängt.

>» www.deathcabforcutie.com

>» albumkritik seite 86