All You Need Is Love


Seine Songs sind Kult - nicht erst seit Pulp Fiction. Nach Jahren der Kompromisse zwischen Kunst, Kommerz und Kirche frönt AI Green nun wieder dem wahren Soul.

Einige Meilen den Elvis Presley Boulevard stadtauswärts, vorbei an Motels, Hamburger-Ketten und der zum Museum umgebauten Villa des King, steht an einer Querstraße ein bescheidenes Holzschild. Die Aufschrift: Full Gospel Tabernacle Church.

Hier predigt Mr. Lets-Stay-Together. der Leibhaftige. Sonntag für Sonntag. Reverend AI Green. Schon in den Zeiten, als AI der Ladies‘ Man, noch im enganliegenden, bis zum Bauchnabel aufgeknöpften Strass-Overall den Zeremonienmeister der Liebe gab, hatte er sich in seiner Rolle unwohl gefühlt. Seine innere Aufgewühltheit beschränkte sich nicht auf den Gesang: Hin- und hergerissen zwischen Sex, Glamour und tief empfundener Religiosität, drohte er die Balance zu verlieren. Und wie seinen Seelenbruder Marvin Gaye hätte auch AI Green der selbsterzeugte Strudel menschlicher Leidenschaft beinahe das Leben gekostet: 1973, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, überschüttete eine eifersüchtige Freundin den nackten Soulmann in seinem Bad mit kochendem Grießbrei, fügte ihm damit schwerste Verbrühungen zu und erschoss sich anschließend. AI Green zog daraufhin einen Schlussstrich unter das weltliche Soul-Business. Statt „Baby“ und „Honey“ sollte er künftig nur noch „Jesus“ stöhnen. Zumindest in seinen Songs. Mit den Millionen-Tantiemen solcher Hits wie „Let’s Stay Together“, „Im Still In Love With You“ oder „Love And Happiness“ kaufte sich der Superstar Anfang 1976 eine eigene Kirche samt dem Titel eines Reverend.

Sonntag mittags schläft das Villenviertel von Memphis noch. Nur aus der Füll Gospel Tabernacle Church dringen Schlagzeug und vielstimmiges Flehen auf den gekiesten Vorplatz: Einige Besucher sind bereits unter hysterisch anmutenden „Jesus‘-Rufen von den Sitzen gesprungen, als ein Sportwagen vorprescht und ein kleiner energischer Mann mit Anzug und Aktentasche zum Altar eilt: AI Green. Ohne seine Gemeinde verschnaufen zu lassen, reißt der Reverend das Mikro an sich, lässt improvisierte Songzeilen mit Bibelsprüchen wechseln. Die kirchen eigene Profi-Band fällt ein, das vielstimmige „Praise the Lord!“ sitzt wie gegossen: „Jesus I love you. Lord I love you.“ Noch immer überkommt AI Green dieses selige Glucksen, sobald er das 4-Buchstaben-Wort in den Mund nimmt, es genüsslich zerdehnt, veratmet, ja stirbt: Love! „Er kann alles mit seiner Stimme machen, er ist der Beste, den ich je gehört habe“ schwärmt sein alter und neuer Produzent Willie Mitchell. 1968 hatte er den eher im konventionellen „Shouting-Stil“ beheimateten Soulsänger während eines gemeinsamen Club-Gigs in Texas kennengelernt und in die Royal Recording Studios nach Memphis gelockt. Der in Forest City, Arkansas, geborene Green war zu dem Zeitpunkt bereits [als AI Greene And The Creations] mit „Back Up Train“ zum ersten Mal in den Charts präsent. „Wir haben dann zwei Jahre lang an seinem Gesangsstil gearbeitet, ihn sanfter und weicher gemacht“, so Mitchell. Der Produzent komponierte die Musik, AI Green schrieb anschließend die Texte. In Songs wie „Tired Of Being Alone‘ oder dem epischen „I Didn’t Know“ erreichte die kongeniale Zusammenarbeit ihre höchste Blüte: AI Greens Gesang baut kunstvolle Spannungsbögen von leisem Gurren bis zu gospeligem Overcome auf, rutscht genau im richtigen Moment in ein gepresstes Winseln, um ein lange unterdrücktes Fieber in seiner ganzen Hitze ausbrechen zu lassen.

Ein Vierteljahrhundert ist es her. seit Mitchell Green auf seinem „Hi-Label zu einem der weltweit erfolgreichsten Soulstars machte. Während der letzten Jahre hatte der Reverend nur noch christliche Botschaften verkündet – zu höchst radiotauglichem Rhythm’n Blues, und im schlimmsten Fall auch noch im Duett mit Annie Lennox. Genauso gut aber hätte er auch Telefonbücher vorsingen können. Schliessüch war es doch immer wieder diese Stimme, für die man ihm selbst Plastikpop-Arrangements vergeben wollte. 2003 haben Mitchell and Green, das Dream Team des Memphis Soul, noch einmal für ein Album zusammengefunden: i can’t stop. Mit alter Studiobesatzung, Hammondorgel, melodramatischen Streichern und: jeder Menge Leidenschaft. Offensichtlich ist der Rever- end zu der Überzeugung gelangt, dass sich Heiliger Geist und Eros nicht ausschließen. Aber lebte der beste Soul nicht schon immeraus dieserSpannung heraus? „Liebe“, predigt AI Green heute von der Bühne und lacht dazu sein berauschtes Lachen, „bedeutet mehr, als nur die Hüften zu schwenken und unter die Decke zu kriechen.“ Amen!