Aus der Musikexpress-Ausgabe Juli 1991: Madonna im Interview


Daß ihr "Skandal-Film" ein kränkelndes Kind war, muß ihr schon im Vorfeld bewußt gewesen sein. Gewöhnlich für sterbliche Journalisten nicht mehr zu sprechen, gab Madonna diesmal Interviews en masse. Ohne Erfolg. Auch wenn sie mit Tabus jonglierte wie nie zuvor — "Truth Or Dare, In Bed With Madonna" war bereits zwei Wochen nach US-Filmstart ein Ladenhüter. Wichtiger, so Madonna zu ME/Sounds-Mitarbeiter Dan McLeod, sei letztlich die gesellschaftliche Wirkung ihrer Provokationen. Die aber seien ohnehin erst in einigen Jahren meßbar.

ME/SOUNDS: Wieviel wurde aus dem Rohmaterial des Films wieder rausgeschnitten?

MADONNA: Tonnenweise. Aber wir haben nicht spezifische Szenen beschnitten, sondern überall die Schere angesetzt. Der erste Rohschnitt war dreieinhalb Stunden lang.

ME/SOUNDS: Es wird gemunkelt, daß es bei den Dreharbeiten zwischen dir und Regisseur Alek Keshishian gelegentlich Stunk gab…

MADONNA: Nicht nur gelegentlich — ständig!

ME/SOUNDS: Welche Auflagen hast du ihm gemacht?

MADONNA: Es gab keine Verbote, keine Verhaltensregeln. Wir haben uns vor Drehbeginn darauf geeinigt, daß er alles filmen kann.

ME/SOUNDS: Warum gab es dann trotzdem Stunk?

MADONNA: Wir haben uns nur dann in die Haare gekriegt, wenn ich den Wunsch äußerte, eine bestimmte Szene nicht zu filmen. Dann erinnerte er mich prompt an mein Versprechen, und da ich nun mal mein Wort halte, bekam er letztlich doch seinen Willen.

ME/SOUNDS: Was waren das für Situationen, in denen du nicht gefilmt werden wolltest?

MADONNA: Einmal wollte ich meine Großmutter besuchen, die obendrein auch noch ganz in der Nähe des Friedhofs lebt, wo meine Mutter begraben ist. Meine Großmutter ist alt und schwerkrank. Es wäre sicher eine rührende Szene gewesen, wenn wir beide in ihrem Vorgarten gestanden hätten. Aber sie hätte es emotional sicher nicht verkraftet, dabei gefilmt zu werden.

ME SOUNDS: Warum war die Kamera nicht bei deinem täglichen Fitness-Training dabei?

MADONNA: Wir hatten reichlich davon auf Film, aber da die Leute das irgendwann schon mal gesehen haben, ließen wir es draußen. Wir hatten 248 Stunden Filmmaterial, das nicht genutzt wurde.

ME/SOUNDS: Gibt es nach diesem Film noch irgendetwas in deinem Privatleben, von dem du glaubst, es nichtpublik machen zu sollen?

MADONNA: Nun. die Idee des Films war es. mich sechs Monate lang zu begleiten — nicht aber mein ganzes Leben! Intimität ist eine Sache, die in deinem Kopf stattfindet. Es sind die Beziehungen, die du zu deinen Freunden, deinen Liebhabern, deiner Familie in speziellen Momenten hast. Und die kann eine Kamera nun mal nicht alle zeigen.

ME/SOUNDS: Die bewegendste Szene im Film ist vielleicht die, in der du dich rührend um eine Tänzerin bemühst, die mehr oder weniger vergewaltigt wurde. Auch an anderen Stellen des Films entfaltest du mütterliche Instinkte, die man bei dir gar nicht erwartet hätte.

MADONNA: Nun, vielleicht ist das Bemuttern eine meiner Macken, weil ich nie eine eigene Mutter gehabt habe. Mein ganzes Leben bin ich auf der Suche gewesen, immer habe ich mich gefragt, wie es wohl ist, eine Mutter zu haben. Und vermutlich übertrage ich diese Gefühle auf andere Personen. Ich fühle mich instinktiv zu Menschen hingezogen, die Hilfe, die eine Mutter brauchen. Vielleicht lebe ich auf diese Weise mütterliche Phantasien aus.

ME SOUNDS: Hat der Film dir Teile deines Charakters gezeigt, die dir bislang nicht bewußt waren?

MADONNA: Er hat mir gezeigt, daß ich tief im Innern meines Herzens eine Mutter bin. Und gleichzeitig: Was für ein ausgewachsener motherfucker ich bin, wie besessen ich von mir selbst bin.

ME/SOUNDS: Dein Ehrgeiz und dein Perfektionismus sind momentan offensichtlich darauf ausgerichtet, auf der Leinwand ebensolche Erfolge feiern zu können wie als Popsängerin. Nachdem die bisherigen Rollen nicht das gewünschte Echo fanden, soll nun wohl die Paraderolle als „Evita“ den Durchbruch bringen. Oder ist das Projekt bereits gestorben?

MADONNA: Nicht daß ich wüßte. Die Dreharbeiten sollen im August beginnen, vorausgesetzt man einigt sich auf ein Budget. Wenn das der Fall ist, stehe ich zur Verfügung. Bis dahin geht das Leben weiter.

ME/SOUNDS: Meryl Streep, so heißt es, habe dir an die Gurgel gewollt, als sie erfuhr, daß du die Rolle der Evita bekommst.

MADONNA: Das war ein Scherz. Das weiß ich zufällig genau, weil wir einen gemeinsamen Freund haben.

ME/SOUNDS: Um den Film, den du unlängst mit Woody Allen gedreht hast, ranken sich ja ebenfalls Gerüchte. Angeblich soll er alle deine Szenen aus der Endfassung herausgeschnitten haben.

MADONNA: Woody schrieb mir einen Brief und riet mir. mich von all diesen Gerüchten nicht irritieren zu lassen. Aber natürlich kann ich nicht ausschließen, daß er am Schneidetisch doch seine Meinung ändert.

Ein Projekt, das ich in jedem Fall realisieren werde, ist der Film über Martha Graham. Als Tänzerin war sie ein wichtiger Einfluß für mich, aber auch als Person, die mit sexuellen Tabus brach. Als ich nach New York kam und mich für Tanz und Theater interessierte, habe ich ihre Klassen besucht.

ME/SOUNDS: Stichwort Tabu: Rechnest du nicht damit, daß selbst viele Fans durch einige Szenen des Films schockiert werden? Glaubst du wirklich, daß der durchschnittliche Fan willens ist, das Spiel „muh or dare“ auch in seinem Leben zu spielen?

MADONNA: Wer behauptet denn, daß sie es selbst spielen müssen! „Truth or dare“ ist eine Metapher für unser Leben: Es gehört Mut dazu, die Wahrheit auszusprechen. Jeder muß für sich entscheiden, ob er dazu in der Lage ist.

ME/SOUNDS: Die Homosexualität zwischen den Tänzern deiner Tour wird offen dokumentiert. Glaubst du, daß der Film dazu beiträgt, die Homosexualität aus ihrem gesellschaftlichen Ghetto zu holen?

MADONNA: Ich hoffe, die Zuschauer sind vorbehaltlos genug, um sich selbst einzugestehen, daß es eine wunderschöne Sache ist. wenn zwei Männer sieh küssen. Ich möchte gerade die Leute ansprechen, die von Homosexuellen nur Klischeevorstellungen haben: wie sie aussehen, wie sie küssen, wie sie Liebe machen. Natürlich konnte ich in diesem Film nicht zwei schwule Männer im Bett zeigen. Aber ich kann doch zumindest zeigen, daß es nicht zwei Marsmenschen sind, die sich da küssen. Und ich hoffe, daß solche Bilder dazu beitragen, festzementierte Vorurteile aufzubrechen. Auch wenn es vielleicht Jahre dauert, bis sich solche Lernprozesse im gesellschaftlichen Verhalten niederschlagen.

ME/SOUNDS: Dem Film nach zu urteilen, scheinst du vorwiegend von femininen Männern angezogen zu sein.

MADONNA: Das ist letztlich nur eine Frage der Sensibilität, die Frage, ob ich als Mann meine weiblichen Charakterzüge akzeptieren kann. Männer, die das nicht können, sind für mich abstoßend und indiskutabel.

Von der Schwulen-Szene hingegen bin ich fasziniert. Wenn ich in einen Gay-Club gehe, bin ich wie elektrisiert. Der Raum ist mit tanzenden, schwitzenden Körpern gefüllt, die zu einem einzigen großen Tier zu verschmelzen scheinen. Eine unglaubliche Erfahrung. Und ich fühle mich mit ihnen solidarisch. Sie fühlen sich mißverstanden, ich fühle mich ebenso mißverstanden. Ihr Versuch, mit ihrer Sexualität offen und unkonventionell umzugehen, imponiert mir. Sie akzeptieren, daß ich auch den maskulinen Teil meiner Person erforschen will.

ME/SOUNDS: Wie wird dein Vater reagieren, wenn er den Film sieht?

MADONNA: Er wird sicher schwer dran zu kauen haben, zunächst jedenfalls. Der Film ist ja selbst für Außenstehende schwer zu verdauen. Aber mein Vater hat Humor, und nach dem ersten Schock wird er meine Motive sicher verstehen — und letztendlich sogar stolz auf mich sein.

ME/SOUNDS: Frauen, die sich in der Öffentlichkeit sexuell freizügig geben, werden gewöhnlich gesellschaftlich geächtet. Bei dir ist es genau umgekehrt: Du wirst für diese Rolle reichlich entlohnt.

MADONNA: Ich werde doch auch gesellschaftlich bestraft! Meine Arbeit wird doch an anderen Kriterien gemessen als die Arbeit anderer Leute. Männer im Musikgeschäft können ihre Sexualität viel ungestrafter ausleben als das etwa bei mir der Fall ist. Anstatt sich mit meiner Musik und meiner Message zu beschäftigen, werde ich immer mit der sexuellen Elle gemessen. Und was ich musikalisch zu sagen habe, wird so einfach vom Tisch gewischt.

ME/SOUNDS: Mit anderen Worten: Deine Arbeit wird nicht angemessen und fair bewertet?

MADONNA: In der Tat. Was nun nicht heißen soll, daß ich deswegen heulend rumlaufe und mich bei anderen Leuten ausweine. Im Gegenteil: Es hat mich dazu gebracht, noch härter zu arbeiten. Und es hat mich dazu gebracht, die gesellschaftliche Ächtung zu ignorieren.

ME/SOUNDS: Es hieß, das du auf deiner Tour einige Konzerte in Italien abgesagt hast, weil du dich nicht mit der katholischen Kirche anlegen wolltest.

MADONNA: Blödsinn. Die Konzerte wurden abgesagt, weil der Vorverkauf schlecht lief.

ME/SOUNDS: Also keine kausale Verbindung mit der katholischen Kirche?

MADONNA: Indirekt schon. Weil namhch die Stimmungsmache, die die katholische Kirche gegen mich anfachte, letztlich dazu führte, daß viele Eltern ihren Kindern verboten, mein Konzert zu besuchen. ¿

ME/SOUNDS: Wie sieht dein Verhältnis zur Kirche heule grundsätzlich aus?

MADONNA: Wenn man streng katholisch erzogen wurde wie ich, sind gewisse Dinge in deinem Kopf einfach eingebrannt. Sünde. Scham und Schuld haben in meiner Erziehung nun mal eine zentrale Rolle gespielt. Ich vermute, daß ich mit meiner Arbeit die Relikte dieser Erziehung ans Tageslicht befördern will, um mit mir selbst ins Reine zu kommen.

Das Problem, das ich nach wie vor mit der Kirche habe, ist die Tatsache, daß sie Körper und Geist, Sexualität und Spiritualität immer radikal getrennt hat. Die Zwei dürfen einfach nicht zusammenkommen, obwohl doch beide Teil unserer menschlichen Existenz sind. Eine Person kann spirituell, religiös — und gleichzeitig doch sexuell sein. Und umgekehrt: Liebe zu machen kann durchaus auch eine spirituelle Erfahrung sein.

ME/SOUNDS: Inwiefern glaubst du mit deiner Arbeit gesellschaftliche Veränderungen herbeiföhren zu können?

MADONNA: Gerade die USA werden sexuell mehr und mehr konservativ und restriktiv — und das ist eine katastrophale Entwicklung. Denn je mehr die Leute unter den Teppich kehren, desto verklemmter und verbissener werden sie. Sexualität, Masturbation, was auch immer — all das ist ein Teil der menschlichen Existenz, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Darüber hinaus gibt es in diesem Land eine neue Anti-Schwulen-Hysterie, und ich möchte, soweit es mir möglich ist, mit meiner Arbeit und mit meiner Popularität dagegenhalten. Der Erfolg wird sich nicht über Nacht einstellen, aber ich glaube doch, daß das. was ich tue. in fünf oder zehn Jahren eine positive Wirkung zeigt. Daß Menschen, die heute wegen ihres Lebensstils angegriffen und verfolgt werden, in Zukunft freier leben können. Und wenn es dazu beiträgt, daß Menschen mehr von ihren Ängsten verstehen, bin ich auch gern bereit, dafür mein Privatleben zu opfern.

ME/SOUNDS: Mit deinen sexualaufklärerischen Ambitionen scheinst du ja auch einzelnen Personen zu Leibe zu rücken. Man konnte in der Klatschpresse lesen, daß du dich mehrfach mit Michael Jackson getroffen hast, und dabei ging es anscheinend nicht nur um musikalische Projekte. Es heißt, daß du ihn dazu bringen wolltest, sein emotionales Versteckspiel aufzugeben.

MADONNA: Er schlug vor. gemeinsam einen Song zu schreiben. Ich habe ihm gleich zu Beginn gesagt, daß ein dümmlicher, nichtssagender Lovesong für mich nicht in Frage kommt. Den kann er mit jeder anderen singen. Ich wollte, daß er etwas von seiner Persönlichkeil preisgibt. Denn das Problem mit Michael ist das. daß er in seinen Songs nie einen Standpunkt hat. Es sind Masken, die er wahlweise aufziehen kann.

Zu meiner großen Überraschung schlug er einen Song vor, der den Titel „In The Closet“ haben sollte. („Coming out ofthe doset“ heißt soviel wie: sich zu seiner Homosexualität zu bekennen. — Red.) Ich sagte ihm: „Wunderbar. Michael. Aber was hat das in deinem konkreten Fall zu bedeuten? Was meinst du damit?“ Ich wollte einfach, daß er nicht nur emotional, sondern auch sexuell einen Standpunkt bezog. Aber Michael wollte sich nicht festlegen lassen und blieb sehr vage. Bis mir irgendwann der Kragen platzte. Ich wollte nicht mehr meine Zeit vergeuden und ihm wie eine Gouvernante hinterherlaufen. Ich dachte: „Na gut. der Junge braucht meine Hilfe nicht.“

ME SOUNDS: Es gibt eine Sequenz, in der Warren Beatty sarkastisch sagt, du könntest ohne die Anwesenheit einer Kamera überhaupt nicht mehr leben. Sind es vielleicht nicht so sehr moralische Gründe, die dich zu deinen Provokationen treiben, sondern schlicht und einfach Exhibitionismus?

MADONNA: Nun. das ist wohl eher ein Kommentar über ihn. nicht so sehr über mich. Er will nun mal nichts aus seinem Privatleben preisgeben. Es gab noch einige andere Stellen mit Warren, die wir wieder rausgeschnitten haben, interessante, aufschlußreiche Stellen. Aber er will nun mal nicht, daß so was an die Öffentlichkeit kommt. Er lebt ein sehr isoliertes Leben.

Und was mich betrifft: Wenn ich etwas von meinem Leben offenlegen will, dann tue ich es auch richtig. Warum sollte ich einen Film wie diesen machen, wenn ich in meinem Kopf schon eine moralische Schere habe? Und selbst wenn ich im Film viel von mir preisgebe — ich habe nicht das Gefühl, emotional vergewaltigt worden zu sein.

ME/SOUNDS: Der Film endet mit einer Szene, in der du mit deinen Tänzern im Bett liegst. Und gemeinsam ruft ihr: „Kümmern wir uns, was Hollywood davon hält?“ Und alle brüllen „Sein!“ Ist das wirklich der Fall? Ist dir die Filmkarriere talsächlich gleichgültig?

MADONNA: Nun. das bezog sich konkret auf diesen Film. Es ist ein ausgefallener Film, und wenn man in Hollywood deswegen die Nase rümpfen sollte — bitte schön.

Zugegeben, ich möchte weiterhin Filme machen, gute Filme machen. Was aber nicht heißen soll, daß ich mich deswegen krumm mache und in Hollywood zu Kreuze krieche. Soweit gehen selbst meine Ambitionen nicht.

ME/SOUNDS: Wenn du die freie Wahl hättest: In welcher Epoche möchtest du gerne leben?

MADONNA: In den 20ern, oder vielleicht schon zur Jahrhundertwende, weil es damals so etwas wie eine Renaissance gab. Ich habe den Eindruck, daß man mit vielen gesellschaftlichen Problemen damals wesentlich entspannter umgegangen ist.

ME/SOUNDS: Und werden wir, angesichts deiner eingangs erwähnten Mutter-Instinkte, Madonna irgendwann doch einmal als Ehefrau und Mutter erleben?

MADONNA: Ich habe es mit Scan (Penn) ja versucht. Er braucht wirklich eine Frau, die sich um ihn sorgt und kümmert. Während ich nun mal auf die Barrikaden gehe und gegen das gängige Rollenverständnis der Frau kämpfe. Irgendwann wurde mir klar, daß beides nicht zusammenpaßt. . Auf den Mann, der mich so akzeptiert, wie ich bin. 5 warte ich noch.