Banks


„L. A. ist eine merkwürdige Stadt.“ Das ist einer der ersten Sätze, den Jillian Banks sagt, wenn man sie nach ihrer Heimatstadt fragt. „Es kommt mir oft so vor, als komme niemand wirklich von dort. Als seien alle nur zugezogen.“ Gerade ist sie 26 Jahre alt geworden, eine stille, nachdenkliche Frau. „Immer wenn ich Leuten erzähle, dass ich aus L. A. stamme“, sagt sie, „schauen sie mich erstaunt an und fragen: ,Wirklich, du bist nicht aus Iowa oder sonst wo hergezogen?'“ Zum Interview erscheint sie ungeschminkt und ganz in Schwarz -als wolle sie am liebsten nicht weiter auffallen. Unsichtbar und abgeschirmt unter ihrem großen Schlapphut. Sofort muss man an Julia Holter denken, wie sie die Protagonistin ihres wunderbaren Kammerpop-Albums LOUD CITY SONG aus dem vorigen Jahr im Eröffnungsstück „World“ durch L. A.s Straßen schweifen lässt: die Augen verborgen unter der Krempe ihres Hutes. Auch Holter ist an diesem unwirklichen Ort aufgewachsen, in den Hügeln dieses Millionen-Molochs zwischen Surfer-Paradies und bitterer Armut, zwischen goldenem und kaputtem American Dream.

Dabei ist das Los Angeles ihrer Kindheit und Jugend eher das einer Ansammlung sonniger Vorstädte. Keineswegs aber idyllische, sondern mit einsamen, distanzierten Menschen angefüllte Vorstädte. Vom Gefühlschaos dieser verwundeten Seelen, zu denen sie selbst gehört, erzählen ihre Songs: von Liebe, Weltschmerz und Melancholie, vom Verloren-und Gebrochensein. „I never knew I could be broken in so many ways“, singt sie mit heiserer, schwärmerischer Altstimme in „Before I Ever Met You“ – jenem Song, mit dem auf YouTube ihre Verwandlung zu einer der am höchsten gehandelten Pop-Newcomerinnen des Jahres begann.

Zu den Liedern ihres Debütalbums GOD-DESS, zu ihren Texten und Sound-Landschaften passt es, dass schon Kindheitserinnerungen Schmerz und Angst als Fluchtpunkte ihres Seelenlebens offenlegen: „Meine frühste Erinnerung ist, wie meine Mum mit mir durch die Hollywood Hills kurvte und ich wahnsinnige Angst vor den steilen Klippen hatte.“ Einmal sei sie auch rücklings in einen Kaktus gefallen, erzählt sie. Und dann ist da auch der Vater, der zu Peter-Gabriel-Songs mit ihr auf den Füßen albern durchs Wohnzimmer tanzt und laut mitsingt. Alles ist schon da: Tränen und Verletzung und Liebe -und vor allem Musik.

Ihre ersten Songs schrieb sie nach der Scheidung ihrer Eltern mit 15 auf einem Spielzeug-Keyboard. „Ich war ziemlich hilflos damals“, sagt sie. „Ich wusste nicht, mit wem ich reden sollte. Und dann waren da plötzlich diese Melodien, die fünf Pfund Gewicht von meinen Schultern nahmen. Ich habe mich praktisch ein ganzes Jahr mit diesem Kinder-Keyboard in meinem Zimmer verschanzt. Es war mein kleines Geheimnis.“ Songwriting -das ist für sie eine Art therapeutische Heilungszeremonie. „Eigentlich schreibe ich nur Songs, wenn ich das dringende Bedürfnis habe, etwas loszuwerden, auszusprechen oder aufzuschreiben.“ Aus jeder kleinen bis mittelgroßen Lebenskrise, aus jedem sentimentalen Moment, jedem Gefühl von Verwirrung und Scham, so scheint es, hat Jillian Banks einen Song gemacht. Sie ist der Typ Musikerin, deren Lieder nur allein, im Verborgenen, hinter verschlossenen Türen und unter Bettdecken entstehen können -dort, wo keine fremden Stimmen hin dringen. „Ich kann nur über mich selbst schreiben“, sagt sie. „Würde ich versuchen, über einen anderen zu schreiben, sagen wir einen Freund, würden dabei wahrscheinlich Textzeilen darüber rauskommen, wie wütend, frustriert oder traurig mich seine Situation macht.“ Und wie sie davon erzählt, hat das wohl weniger mit Empathiemangel oder sturem Egoismus zu tun als mit Ehrlichkeit. Jener Ehrlichkeit von Tagebucheinträgen. Sie machen den Zuhörer zum Voyeur ihrer seelischen Innenansicht.

Das, was man davon auf Konzertbühnen und in Musikvideos erblickt, mutet dann doch erst mal ein ganzes Stück weniger versehrt und unsicher an. Glamourös wird sie sich am Abend nach dem Interview im Berliner „Berghain“ von einer Fashion-Pose in die nächste werfen. Im schwarzen Cape wie eine elegante Fledermaus im flackernden Scheinwerferlicht langsam mit den Armen schwingen. Auch in den Videos herrscht oft das minimalistische Schwarz-Weiß eines Film noir: Geheimnisvoll und merkwürdig unbewegt sorgen so kleinste Gesten für maximale Wirkung. Die zarte Schönheit steht inmitten von Nebelschwaden oder hinter verregneten Fensterscheiben („This Is What It Feels Like“), in einer staubig-morbiden Fabrikhalle („Waiting Game“), im Spiegelkabinett („Drowning“) und vor zuckenden Super-8-Projektionen („Fall Over“). Im Video zu „Warm Water“ ist Banks einmal nicht allein, sondern windet sich in den Armen eines breitgebauten, tätowierten Mannes. Überhaupt eignet sich nicht nur der Sound, sondern auch die Ästhetik für ein Lifestyle-verliebtes Großstadt-Publikum. Das suggeriert schon die verspielte Marterpfahl-Typografie ihres Logos. Dreiecke, Pfeile und rautenförmige Augen – die neuen Insignien der Internet-Kids. Was als potenzieller T-Shirt-Aufdruck auffällt, wird geklickt.

Musikalisch ist Banks ein Emporkömmling der R’n’B-Revolution, die in den vergangenen Jahren einiges an Fahrt aufgenommen hat. Wunderten sich noch 2011 viele über James Blakes formvollendeten Widerspruchssound zwischen seidenweichem Falsettgesang und waberndem Dub-Bass, wurde diese Art der Komposition spätestens 2013 zum Genre du Jour. Die Verquirlung von gefühligem Liebeskummer (in die Sprache von Soul oder R’n’B übersetzt) und kühler, unerbittlich klopfender Elektronik ist längst allgegenwärtig: Disclosure, Kelela, FKA Twigs, Jessie Ware, Chet Faker, How To Dress Well. Die Musik von Banks setzt sich aus ähnlichen Versatzstücken zusammen: britischer Schlafzimmer-Bassmusik der vergangenen Jahre und amerikanischem R’n’B der Jahrtausendwende. Am schönsten hört man das in „This Is What It Feels Like“: Banks‘ Gesang plätschert leicht verzerrt auf einer bleiernen Synthie-Melodie dahin, der sofort Aaliyah und Destiny’s Child im Gehörgang herbeizitiert. In anderen Songs stolpern kantige, klöppelnde Beats umher, wie sie so oder so ähnlich der amerikanische Produzent Timbaland seit Ende der Neunziger perfektionierte. Diesen Einfluss trägt Banks auf Konzerten in ihrer eigenen Art Rechnung: mit einer zurückgenommenen, akustikgitarrenbegleiteten Coverversion von Aaliyahs 1998er-Hit „Are You That Somebody?“. Keine Elektronik, aber das Zitat weist unmittelbar auf Produzent Timbaland.

Zu tun haben diese komplex konstruierten, oft schroffen, bassbetonten Sounds aber dann noch weniger mit der Popgeschichte ihres Geburtslandes als mit der Stadt, nach der Banks ihre zweite EP benannte: London. Die Metropole im alten Europa ist nicht nur das perfekte Gegenstück zu Los Angeles, es ist der vielleicht einzige Ort, an dem die raffi nierten Songs ihre endgültige Form annehmen konnten. Hier fand sie unter den vielen erstklassigen UK-Bass-Produzenten Verbündete, produzierte mit Jamie Woon, TEED, Sampha, Lil Silva und SOHN, der gerade erst mit seinem eigenen Debütalbum für Aufsehen sorgte. Banks spricht von ihnen nicht als Kollegen oder Mitstreiter: „Sie sind wirklich gute Freunde.“ Nach London zu kommen zum Arbeiten gab ihr die Möglichkeit, noch einmal bei null anzufangen -neue Menschen, neues Leben, neuer Sound: „London -das bedeutete für mich vor allem Wandel. Hin zu mehr Unabhängigkeit, hin zu mehr Freiraum für Musik und hin zu einer neuen Familie. Ich habe mir dort mein eigenes kleines Netzwerk aus Glücksgefühlen und Arbeit eingerichtet.“

Ein gutes Beispiel für das Aufeinandertreffen der Songwriterin Banks und Londons elektronischer Tradition ist das von SOHN produzierte „Waiting Game“. Es beginnt als fragile Ballade: ein geisterhafter, stöhnender Chor schleppt sich als Loop über zarte Pianoakkorde. Alles klingt müde, niedergeschlagen. Sanft beginnt Banks die erste Strophe: „I’ve been thinking it over /The way you make me feel all sexy but it’s causin‘ me shame /I wanna lean on your shoulder /I wish I was in love but I don’t wanna cause any pain“. Als sie das erste Mal über die zentrale Textzeile -„Love is a Waiting Game“ – hinweghaucht, hebt ein pochender, düster drohender Bass an. Die Klänge aus den Nachtclubs sind verführerisch, gleichzeitig schnüren sie dem Hörer in ihrer klaustrophobischen Dichte die Kehle zu. Bedrohung und Faszination liegen zum Verwechseln nah beieinander. Es ist wie mit dem Wasser, das sich als Thema durch Texte, Videos und Sound zieht -in „Warm Water“ gurgeln und glucksen die Synthesizer wie in einem Lounge-Springbrunnen, im Text von „Drowning“ kämpft sie metaphorisch gegen das Ertrinken. „Ich bin besessen von dem Gedanken, dass Wasser alles sein kann“, sagt Banks, „heilsam und beängstigend, friedlich und lebensgefährlich. Genau so soll meine Musik klingen.“

Heraus kommt dabei eine Mischung aus butterweichem, zerbrechlichem Soulgesang, großen Popmelodien, Basswummern, digital verzerrtem Seufzen und der von Portishead und Tricky entliehenen Halbdunkel-Atmosphäre. „Ich hatte schon recht früh, als ich noch alleine am Keyboard Songs schrieb, eine klare Vorstellung davon, wie sie klingen sollten“, erklärt Banks. „Erst das Elektronische gab den Songs ein angenehmes Gewicht.“ Wie ihre Songs im Urzustand klingen -vor ihrer Beschwerung, um bei Banks‘ Sprache zu bleiben -lassen Stücke wie „You Should Know Where I’m Coming From“ erahnen, eine Pianoballade, die bis zum Ende ohne Beat auskommt. Auch ihre Liveversion von „Fall Over“ verzichtet auf die Synthieläufe und Drumcomputer der Studioversion. Nur ihre Stimme, Mikrofon und Keyboard.

Es ist melancholische Songkunst, wie sie dieser Tage von jungen Musikern oft aus Radio und Laptop-Lautsprechern dringt: wehklagend, brüchig, verletzlich. In diesem Sinne könnte man Jillian Banks‘ Musik auch als die einer clubfähigen Lana Del Rey auffassen. Bis auf den Weltschmerz ist sie aber deren genaues Gegenbild: hier Rehaugen und verschreckt gekrümmter Rücken, dort schmolllippige All American Femme fatale. Hier Protagonistin der eigenen Songs, dort Kunstfigur zusammengesetzt aus fremden Identitätssplittern -von Jackie O. bis Trailerpark-Flittchen. Banks spielt keine Rollen, sie ist das wunderschöne, traurige Mädchen mit den wunderschönen, traurigen Songs – nicht mehr und nicht weniger. Bei Del Rey gipfelt die eigene Unsicherheit in flammende Selbstzerstörung und Unterwerfung: „He hit me and it felt like a kiss“, singt sie in „Ultraviolence“. Banks haut den Jungs schon mal aufmüpfige Sprüche um die Ohren: „Boy, don’t hurt your brain thinking what you’re gonna say.“

Viel mehr als an Del Reys Problemkind-Narzissmus erinnert das Frauenbild von Banks an den Idealismus einer Lady Gaga -an das verbrüdernde „Born This Way“-Gefühl. Nicht umsonst hat sie ihrem Debütalbum den Titel jenes Songs gegeben, der diese Message am klarsten zum Ausdruck bringt: „Goddess“. Dort singt sie: „She gave it all /you gave her shit / But she’s a goddess /you never got this“. Dass das durchaus feministisch gemeint ist, gibt Banks zu, aber nicht nur: „Ich bin eine Göttin. Du bist eine Göttin. Jeder ist eine verdammte Göttin.“ Genauso wird sie auch am Abend im „Berghain“ das Publikum auf den Song einschwören. „Als ich anfing, Musik zu machen, waren meine Gedanken noch überfüllt von diesen kleinen Biestern, die dem unsicheren Teenager, der ich war, allen möglichen Mist einredeten. Ich fühlte mich wie stumm und schämte mich wahnsinnig für meine Gefühle und Gedanken. Alles in meinem Kopf fühlte sich schwer und düster an. Erst durchs Schreiben habe ich begriffen, dass all das eben zu mir gehörte. Das bin ich, ein Mensch, wie alle anderen. Vielmehr: eine Göttin. Jeder sollte sich so fühlen: stark und schön.“

Für die Fans, die sich mit ähnlichen Problemen herumschlagen, hat Banks einfach ihre private Telefonnummer auf ihrer Facebook-Seite gepostet: „Hello world!“, schrieb sie dort, „I like making connections outside of a computer screen. If you ever want to talk call me -(323) 362-2658 -BANKS.“ Facebook, Twitter und Instagram -die Welt der digitalen Beziehungen sei nie ihr Ding gewesen. Um die Social-Media-Kanäle kümmert sich ihr Manager. Sie ist übers Internet bekannt geworden, ein typisches Laptop-Mädchen ist sie nicht. Twittern, sagt sie, fühle sich für sie unnatürlich an, auch unehrlich. Deswegen die Telefonnummer. Und vielleicht, so denkt man, während man ihr beim Mutzusprechen zuhört, ist die „Oldschool-Welt“, das Analoge, der einzige Ausweg aus einer Gegenwart voller Frühstücksfoto-Posts. Und vielleicht ist genau das die Kunst dieser jungen Frau mit den gefühligen Lovesongs: Leerstellen zu lassen inmitten all der Überinformation.