Being Wayne Coyne


Die Verbindung ist zwar nicht besonders gut, aber immerhin spricht dort Wayne Coyne am anderen Ende der Frequenz in Oklahoma. Und wie er spricht: Mitteilsam wie eine nette Tante nach dem ersten Solourlaub seit 30 Jahren, beginnt er zu erzählen von seinem Auftritt beim US-TV-Sender „Comedy Central“, bevor er fließend zum neuen Album und den Beatles überleitet, bis er schließlich beim Sinn und Zweck der Kunst als solcher angelangt ist. Verbindung hin oder her, der Mann ist präsent. Er scheint sich im Verlauf des Telefonats förmlich zu materialisieren: Es ist, als säße er uns direkt gegenüber, mehr noch, als hockte er auf unserem Schoß. Nein, als tanzte er in einer transparenten Blase über unseren Köpfen. Er trägt einen chamoisfarbenen Burberry-Anzug mit bunter Feder und wirkt wie ein zerzauster Zauberer, der uns mit seinem immerwährenden inneren Monolog zusammenschließt. Mr. Coyne, Sie haben das Wort: “ Ich traue dir nicht“, sagte der Moderator Stephen Colbert in der Show „The Colbert Report“ plötzlich zu mir und stocherte dabei mit seinem ausgestreckten Zeigefinger auf mich ein: “ Ich sage dir auch, ivarum ich dir nicht traue: Mit deinen Lyrics und deiner Musik führst du mich auf ein fremdes Terrain oder in einen fernen Wald, in dem ich noch nie zuvor war. A her du kennst all die geheimen Pfade und versuchst, mich dort in die Falle zu locken. “ Er ist wirklich clever, dieser Stephen Colbert, er ist so gut. Und das auf „Comedy Central“! Neben Jon Stewart von „The Daily Show“ ist er der beste Satiriker und Nachrichtenmann in den USA. Stewart spielt seine Rolle zwar nicht – er ist einfach so. Colbert dagegen verwandelt sich auf Sendung in dieses konservative Arschloch. Bei der Vorbereitung für die Show war er immer da, gab sich total normal, war nett, zuvorkommend. Im Interview änderte er sich schlagartig und schlüpfte in seine Rolle – das war wirklich beängstigend. Er meinte, EMBRYONIC sei doch bestimmt in Ultraschall aufgenommen worden. Außerdem wollte er wissen, wo auf diesem Album menschliches Leben beginnt. Es gibt Leute, die finden so etwas kontrovers. Ich finde es lustig. Es gibt Titel, von denen man mehr hat, wenn man nur auf ihren Klang achtet. EMBRYONIC ist so ein Titel, er soll auch nicht für die ganze Platte stehen. THE SOFT BULLETIN bedeutet eigentlich auch nichts. Diesmal wussten wir schon im Voraus, dass wir das Album EMBRYONIC nennen würden, weil uns der Klang dieses Wortes so gut gefiel. Und es sieht auch geschrieben gut aus. Es bedeutete uns etwas. Warum? Keine Ahnung. Ich meine, die Platte ist noch so neu, wir kennen die Bedeutung des Titels ja selbst noch nicht. Texte bedeuten ja, je nach Zusammenhang, auch immer etwas Anderes. Außerdem ist immer irgendwas unbekannt in der Kunst. Ohne diesen formenden Drall des Unbekannten wäre es keine Kunst, sondern bloß Handwerk. Wenn du dagegen Kunst genau berechnen willst, dann ist es pure Berechnung und keine Kunst mehr.

Apropos Berechnung: In unserem Song „Gemini Syringes“ geht es unter anderem um mathematische Gleichungen, in denen Polynomringe vorkommen. Knifflige Geschichte, so ein Polynomring. Das ist bekanntlich die Menge aller Polynome mit Koeffizienten aus einem Ring „R“ und der Vanbalen „X“. Ich nehme an, besonders viele Songs gibt es nicht, die sich mit einem mathematischen Problem beschäftigen, von diesem speziellen Problem ganz zu schweigen. Ich habe auch keine Ahnung, warum das ein Problem sein soll. Auch verstehe ich von höherer Algebra rein gar nichts, es interessiert mich nicht einmal. Warum sollte es? Aber der deutsche Mathematiker Dr. Thorsten Wörmann war so freundlich, es uns zu erklären, man hört ihn in diesem Song. Leider ist er ein Experte, weshalb der Laie noch immer nichts versteht. Aber in „Gemini Syringes“ macht deshalb ja auch noch Karen O (von den Yeah Yeah Yeahs-Anm. d.

Red.) klickende und klackende Geräusche. Karen ist ein Freak, im Sinne von: Sie will’s wirklich wissen. Sie hat keine Angst vor gar nichts. Sie erinnert dich daran, warum du Rockmusik magst. So soll das sein: Kunst muss von furchtlosen Idioten gemacht werden. Und ich? Ich sang „Watching The Planets“, und eine bestimmte Stelle in meinem eigenen Gesang erinnerte mich an Karen! Ich dachte mir, oho, da sollte sie mitsingen, also schickte ich ihr das mal per E-Mail, und sie schickte Variationen zurück BEING WAYNE COYNE Ein Gespräch mit sich selbst:

Wayne Coyne von THE FLÄMING LIPS nimmt uns mit auf einen monologischen Trip durch seine Gedankenwelt – eine Reise, die der spontanen Entstehungsgeschichte des neuen Albums EMBRYONIC gleicht und uns zum Kerngedanken der Kunst führt.

und sagte, sie werde sich das anhören, wobei mir klar war, dass sie’s tun würde, und zwar per Telefon im Studio unseres Produzenten Dave Fridmann (u.a. Mitgliedvon Mercury Rev

-Anm. d. Red.). Karen also schnurrte und bellte und grollte und maunzte und knurrte für „Watching The Planets“ so inspirierend, dass ich um dieses Fiepen, Zwitschern und Hecheln herum nachträglich den Song „I Can Be A Frog“ bastelte. Es gibt Leute, die meinen, das sei der stärkste Song auf dem Album. So meinte ich das vorhin mit der Berechnung. Eines kommt zum anderen, das Unbekannte kommt dazu, und schon hast du etwas Neues, wo vorher noch gar nichts gewesen ist. Wenn das kein Wu nder ist, weiß ich’s auch nicht. Das ist das Problem mit den Beatles: Sie waren so einflussreich, dass sie so sehr Teil jeder anderen seitdem gemachten Musik geworden sind, dass man sie selbst gar nicht mehr hören muss. Unser Song „Convinced Of The Hex“ beispielsweise zitiert das Schlagzeug von „Tomorrow Never Knows“. Ganz im Gegensatz aber zur Musik von Can, Faust, dem elektrischen Miles Davis oder den frühen Pink Floyd! Da stolpert man in einen ganz solitären Moment hinein. Diese knirschende, monotone Dringlichkeit, die zugleich mechanisch und organisch ist. Absichtlich kann man das nicht machen, das passiert zufällig. Normalerweise schreiben wir Songs, einfache Songs, sehr einfache, aber Songs. Da ist eine Skizze, dann wird der Sound konkreter, und so haben wir das immer gemacht. Bei EMBRYONIC war es erstmals umgekehrt: treibende, verrückte Klänge als Jams, ich an der Bassgitarre, zwei Drummer, Congas und Störgeräusche darüber, vielleicht noch ein deutscher Mathematiker, der etwas unfassbar Langweiliges erklärt. In diesen Free-Form-Jams mussten wir die Songs erst entdecken. Und wenn wir keine Songs entdecken konnten, ermunterte uns Dave Fridmann: „Singt doch einfach darüber.“

Vielleicht muss man das erklären, was wir machen: Bei THE SOFT BULLETIN, da hatten wir Songs, da brachte uns eine Idee zur nächsten, ein wenig lustige Elektronik dazu, fertig. Bei YOSHIMI BATTI.ES THE PINK ROBOTS wussten wir erst am Ende, was das wird. Bei AT WAR WITH THE MY-STICS hatten wir diese seltsamen Rocksongs, sehr verschiedene Sachen und kein Konzept. EM-BRYONIC hatte in erster Linie eine Stimmung zu sein, deshalb die Jams. Du musst ja mit irgendwas anfangen.

Ich bin kein besonders guter Musiker, und wenn ich es nicht bewusst versuche, dann werde ich es nie tun – etwas Neues zu wagen. Das ist es übrigens, was Radiohead zu einer wirklich großen, bewundernswerten Rockband unserer Zeit macht. Nicht OK COMPUTER, tolle Platte, sondern was danach kam und aus dem die Haltung sprach:

„Wisst ihr was? Fuck it.‘ Wir heben jetzt total ab!“

Auf einem ähnlichen weg sind wir auch mit E.MBRYONIC. Wir können durchaus melodisch und strukturiert sein, aber die Fläming Lips sind eben manchmal auch laut und außer Kontrolle. Wäre unsere Band eine eigenständige Persönlichkeit, was sie womöglich ja sogar ist, dann akzeptieren wir alle Seiten dieser Persönlichkeit. Wir haben die Möglichkeit, zugänglich und poppig zu sein. Und wir können eine vollkommen gestörte Rockband sein, die Freude und Erfüllung darin findet, die Sau rauszulassen. Wahrscheinlich wäre EMBRYONIC ein besseres Album geworden, wenn wir die Perlen rausgefischt und kein Doppelalbum daraus gemacht hätten. Aber weißt du was? Es ist egal. Weil es darum geht, etwas zu wagen. Und wer wagt, verliert. Früher oder später wird er scheitern. Ist das nicht schön?