Blur: Die Wüsten leben!


Das siebte Album von Blur erscheint unter neuen Vorzeichen: Nach 14 bewegten Jahren sind sie zum Trio geschrumpft. Konnten musikalische Wellness-Wochen in der Wüste Marokkos den Verlust von Graham Coxon wettmachen?

Das Arrangement in dem Raum im 1. Stock des modernen Westbourne-Studiokomplexes nahe des Londoner Westends sieht aus wie die Versuchsanordnung für einen Psychotest: Auf einem Flokati stehen in vier Meter Abstand zwei Ledersofas, auf dem einen ist ein Popstar platziert. Setzt sich der Interviewer nun auf das zweite Sofa, von wo aus er dem Popstar die Fragen durch die Lüftungsgeräuschkulisse zubrüllen müsste? Rückt er ihm auf die Pelle und pflanzt sich zu ihm auf das einen Tick zu schmale Sofa? Oder zieht er sich den unförmigen Sitzsack in der Mitte des Raumes heran? Er entscheidet sich für den Sack und müht sich die folgende halbe Stunde, auf dem schlaffen Möbel Haltung zu bewahren, bis er dem Popstar, der das Geeier kühl mit ansieht, faktisch zu Füßen hockt. Wie viel insgeheimes Vergnügen der dabei empfindet, kann nur vermutet werden.

Noch vor ein paar Jahren hätte man Damon Albarn guten Gewissens unterstellen können, er sehe es mit Genugtuung, wenn Journalisten vor ihm herumrobben. Der 35-jährige Blur-Sänger hatte über die letzte Dekade eine – von ihm durchaus bestellte – gute Portion Aufmerksamkeit von Seiten der Medien zu verdauen. Und die waren beileibe nicht immer kuschelig zu ihm. Mittlerweile, sagt er, sei ihm das „aufgrund meines antagonistischen Charakters von mir gezeichnete inakkurate Image“ egal. Der einstige Wirbelwind mit dem großen Ego und dem beißenden Witz ist 2003 einer der respektiertesten und – mit seinem Projekt Gorillaz auch in den Blur nie sehr zugeneigten USA erfolgreichsten Popmusiker Großbritanniens, globalsozial engagierter Familienvater mit Wohnsitzen in London und Island. Ein selbstbewusster Beinahe-elder-statesman, der hin und wieder ein einnehmendes Lächeln aufblitzen lässt – warm, strahlend, mit einem melancholischen Schatten um die Augen – und sich auf dem Sofa fläzend auch mal zwanglos am, pardon, Sack kratzt.

Vor allem bei einem Thema vergehen ihm aber Lächeln und Kratzen, das Thema, das mit der Veröffentlichung des neuen, siebten Blur-Albums Think Tank dieser Tage wohl wieder hochkochen wird: der Abgang, besser: Rausschmiss von Gitarrist und Albarn-Gegenpol Graham Coxon, der im Herbst 2002 offiziell geworden war. Die englische Musikpresse verglich die Trennung mit dem Split des königlichen Britrock-Paares Morrissey und Johnny Marr, sie ging einher mit allerlei Spekulationen über das Fortbestehen von Blur und gilt vielen als Damon Albarns endgültiger (und nicht unbedingt wünschenswerter) Sieg im Ego-Kampf um die musikalische Lufthoheit über der Band. In dem „fact sheet“, das den Interviewern ausgehändigt wurde, wird auf die einschneidende Veränderung in der Besetzung nur indirekt in einem Nebensatz eingegangen: Think Tank sei Blurs „erstes Album als Trio“. Ist das nicht ein bisschen … „ein bisschen Orwell-, Big-Brother-mäßig?“, fällt Albarn ins Wort, und der alte Sarkasmus flackert auf. „Ein wenig Totalitarismus, ja? Ich meine, ich habe ja auch auf die Gorillaz oder ‚Mali Music‘-Platte nicht draufgeschrieben: ,Oh, und Graham, Alex und Dave sind hier übrigens nicht mit drauf.‘ Das wäre müßig.“ Der Abgang des genialen Gitarristen – in der Vergangenheit immer wieder als einer der talentiertesten seiner Generation bezeichnet- und Antagonisten Coxon als letztendlich wenig bedeutsame Personalie, als „piece of news“ (Albarn)? Macht sich hier jemand was vor, oder soll die Sache heruntergespielt werden? „Ich will nichts herunterund nichts hochspielen“, schnappt Albarn.

Albarn und Coxon kennen sich seit 1980, seit Schulzeiten in Colchester, zusammen formierten sie mit Bassist Alex James und Drummer David Rowntree die Band, die viel von ihrer Dynamik aus den gegensätzlichen Charakteren und Vorlieben der beiden Freunde beziehen sollte. Neben den zunehmend unvereinbaren musikalisch/ideologischen Vorstellungen der zwei Blur-Köpfe – Coxon war die Pop-Ausrichtung seit langem zuwider, er drängte auf einen kompromissloseren, anti-kommerziellen Kurs und war etwa entsetzt davon, dass Albarn als Co-Produzent für das neue Album Norman „Fatboy Slim“ Cook ins Spiel brachte – waren es in den letzten Jahren vor allem Coxons sich verschärfende Alkohol- und psychische Probleme gewesen, die die Band belasteten.

„Mir ist klar, dass ich lange, lange Zeit ein ziemliches Arschloch gewesen bin“ erklärte Coxon, der nach einer Entziehungskur von London aufs Land gezogen sein soll, inzwischen in der Zeitung Scotsman.“Eine Viertelstunde am Tag war ich wahrscheinlich recht nett, so nach drei, vier Drinks. Danach war ich ein knurriges, verbittertes Miststück. Oder verkatert und reizbar.“

Mag sein, dass es der mit Coxon aus dem Bandgefüge gewichene Stressfaktor war, der die Sessions zu Think Tank so angenehm machte und Alex James vom Ergebnis als „dem Besten, was wir je gemacht haben“ schwärmen ließ. Als Außenstehender glaubt man dem Werk die Abwesenheit (Coxon ist nur auf dem Track „Battery In Your Leg“ zu hören) des mürrischen Albarn-Korrektivs aber auch stellenweise negativ anzumerken. Albarn will das nicht gelten lassen: „Graham ist seit einem Jahr nicht mehr in der Band“, erklärt er, „und er war seit Jahren nicht mehr da gewesen als der Graham, mit dem ich aufgewachsen bin. Das letzte Album, bei dem ich das Gefühl hatte, dass er noch auf allen Zylindern lief, war Blur. Das war in gewisser Weise seine Abschiedsplatte, was die Band betraf. Auf 13 war er schon nicht mehr viel zu hören „, fügt er an und lässt eine Verbitterung durchblicken, die offensichtlich nicht nur mit dem Schmerz über eine zerrüttete Freundschaft zu tun hat: „Trotzdem wurde die Platte von den Medien als ’sein‘ Album dargestellt, als habe er …na, egal. So läuft das eben.“

Die genauen Umstände des zunächst nicht öffentlich gemachten Rauswurfs waren lange Stoff für Gerüchte, die sich erst erhärteten, als Blur nebst Tross Mitte September 2002 für letzte Sessions nach Marakkesch in Marokko aufbrachen – ohne Coxon. Der Bruch war auf ausgesprochen unfeine englische Art erfolgt: Per Telefonanruf vom Management, nicht etwa von Albarn, James oder Rowntree persönlich, wurde Coxon davon in Kenntnis gesetzt, dass seine Dienste nicht mehr gefragt waren. „Ehrlichkeit und Kommunikation sind wichtig, wenn man eine Band gesund halten will“, so sein bitteres Resümee im Herbst, „und bei Blur gab es beides nie. Zuletzt waren wir nur noch Businesspartner.“

Ein eingeschworener Haufen waren Blur nie wirklich gewesen. Gegen die internen Spannungen und das Dynamit in den komplexen persönlichen Beziehungen der Mitglieder wirkten die Querelen der Gallagher-Brüder immer wieder wie niedliche Rangeleien. Von Blurs legendär desaströser erster US-Tournee 1992 sind derbe Alkohol- und Prügel-Stories überliefert, bei den Aufnahmen zum bislang letzten Album „13“ (1999), berichtete Produzent William Orbit, habe im Studio bisweilen „Blut auf dem Fußboden“ geklebt. Metaphorisch. Hoffentlich. „Wenn wir nicht die Band hätten, hätten wir nicht viel miteinander zu schaffen“, sagte Drummer Rowntree, der außerhalb von Blur mit Musik wenig am Hut hat, als Computeranimator arbeitet und wie Alex James ein begeisterter Flieger ist, einmal, „undes wäre blöd, so zu tun, als sei das anders“. (Ein gemeinsames Steckenpferd haben er und James aber doch noch: Die beiden unterstützen seit Jahren mit Promo-Aktivitäten das britische Mars-Missions-Projekt, das diesen Juni die Sonde Beagle 2 auf den Weg bringen will; nach ihrer Landung auf dem Mars im Dezember wird die Sonde ein Melodiesignal zur Bodenstation senden-komponiert von James und Rowntree.) Wer in der Band den Ton angibt, ist heute klarer denn je. Ist Blur nach Graham Coxons Abgang noch mehr die Damon Albarn Band als zuvor? Albarn schmunzelt. „Ich tue immer noch das, was ich immer getan habe: die Songs schreiben.“ Und wieviel Demokratie herrscht innerhalb von Blur? Die Antwort kommt prompt: „Nicht viel.“ Nicht viel? „Nun …“, er richtet sich unter großem Ledersofageknarze auf, „die Demokratie bei Musik ist eine andere, sie manifestiert sich im Gesamtsound. Unsere Politik ist: Die besten Ideen werden genommen. Wer also mit den besten Ideen ankommt, ist dabei.“

Würdest du sagen, du hast eine Tendenz zu der Ansicht, die besten Ideen könnten deine sein? „Mag sein“, grient Albarn vieldeutig. „Damit habe ich kein Problem. Ich meine, ich schreibe alle Songs. Das habe ich immer getan, das ist meine Funktion in der Band.“

Albarns Idee war es auch, die Band im Herbst samt Equipment in die Wüste bei Marrakesch zu verpflanzen, um weit weg von ihrer gewohnten Umgebung Inspiration einzufangen – eine Reise, die speziell auf Alex James tiefen Eindruck machte, nachzulesen in seinem Online-Tagebuch. „Als ich das letzte Mal in Mali war“, erklärt Albarn, „empfahl mir jemand dieses Festival für arabische Musik in Essaouira, westlich von Marrakesch. Ich kam da hin, und da waren 50.000 Leute, Kids, die sich vier Tage lang dieser wundervollen, transzendentalen Musik hingaben, ohne Alkohol, aber mit Bodysurfing und allem, was man mit einem Outdoor-Rockkonzert assoziieren würde. Da dachte ich, es wäre toll, das Blur-Camp dahinzubringen. Und zu schauen, was passiert. „Was passiert? Alex James spricht von Think Tank als dem „Album unseres Lebens „, außerdem scheint er eine regelrechte Erleuchtung erlebt zu haben. „Naja“, lächelt Albarn, „wenn man zum ersten Mal nach Afrika oder Indien oder so kommt, ist das eine sehr profunde Erfahrung. Alex und Dave waren noch nie in solchen Ländern, es hat ihnen ganz schön die Augen geöffnet.“

Das Hungerhilfe-Projekt Oxfam, für das Albarn erstmals nach Mali reiste (ein Trip, aus dem das Charity-Album Mali Music hervorging), ist nicht die einzige Organisation, für die Albarn sich dieser Tage engagiert. Da ist auch die britische Friedensbewegung CND, für die Albarn und sein Freund Robert „3D“ Del Naja von Massive Attack seit Monaten die Werbetrommel rührten und deren Großdemo in London am Wochenende nach diesem Interview zwar nicht den Irakkrieg verhindern konnte, aber mit dafür gesorgt hat, dass Tony Blair heute ein steifer Wind ins Gesicht bläst. Apropos Blair: Das waren noch Zeiten, im gleißenden Jahr 1996, als alles eitel Cool Britannia war und Pop-Prominenz wie Noel Gallagher dem frisch gewählten Premier bei einem Empfang in Downing Street No. 10 die Aufwartung machte. Albarn war das damals schon zu blöd und hat heute umso weniger Nerv für das Gepöbel von Bruder Liam, der sich über Albarns CND-Engagement lustig machte: es werde ja wohl kaum jemand auf dieses „Penisgesicht von Blur“ hören. „Absolut lächerlich“, kommentierte Albarn gelangweilt, „und wenn ich mit dem Herrn nicht so eine unselige Vergangenheit hätte, würde ich deutlicher werden.“

Es dürfte Damon Albarns weiterhin intaktem Ego eine nicht unbeträchtliche Genugtuung verschaffen, die Band, gegen die er und die Seinen im Zuge der unsäglichen „Britpop Wars“ Mitte der 90er so verletzend ausgespielt worden waren, sowohl künstlerisch als auch – zumindest mit Gorillaz – kommerziell hinter sich gelassen zu haben. Weiteres Gestichel kann er sich heute verkneifen: „Ich habe nicht mehr so viel Wut in mir wie früher.

Das ist, hoffe ich, einer der Vorzüge des Älter- und Reiferwerdens.“ Blur sind ein Stück erwachsener geworden – freilich unter Schmerzen und grausamen Verlusten, von denen sich erst zeigen muss, ob die Band sie kreativ so einfach wegstecken wird. Andererseits – und vielleicht ist gerade das ein Garant für ein langes Leben – findet Steuermann Albarn das Konzept „Band als geschlossenes System“ heute ohnehin überkommen, das habe er bei Gorillaz und seiner Arbeit mit afrikanischen Musikern gelernt. „Das ist nicht mehr der Punkt , sagt er. Darum darf sich jetzt auch Ex-Verve-Gitarrist Simon Tong als Blur-Mitglied begreifen, genau wie die anderen fünf Musiker- Saxofonist, Percussionist, Keyboarder und Sängerinnen-, die Albarn für die anstehenden wenigen Live-Shows (eine einzige auch in Deutschland, am 18. Mai in Köln) angeheuert hat. „Blur hat momentan neun Mitglieder“, verkündet er, „auf der Bühne sind wir alle gleich, keine Stars. Das Starsystem ist für’n Arsch, ich hasse es.“ Blur in Zukunft als offenes Kollektiv? Star oder nicht Star, ist ja auch wirklich egal; Hauptsache, der Boss wird respektiert.

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