Carlos Santana


"Santana is back -— better than ever", lautete im April die euphorische Überschrift eines Konzertberichtes im Melody Maker. Doch schon zwei Monate später ist in einem andern die Rede von müden Krankenhauswärtern, von fehlendem Glanz und uninteressanten Soli. Was ist nur los mit Carlos und seinen Mannen? Wie ist es möglich, innerhalb von so kurzer Zeit zwei derart unterschiedliche Konzerte zu geben? Am Publikum lag es sicher nicht, wenn überhaupt, dann an der Besetzung . . . Nun, da sicher ist, daß uns Santana im September, nach langer Zeit mal wieder einen Besuch abstatten, sollte man schon wissen (oder wenigstens vermuten können), was uns so alles erwartet.


Großes Rätselraten

Ähnlich der Spannung vor einem Länderspiel, wen Herr Schön denn diesmal aufgestellt oder vergessen hat, ist das Rätselraten um Santanas Europa-Besetzung zu verstehen. Niemand weiß genau, mit wem er hier aufkreuzt. Im Mai dieses Jahres standen in Los Angeles folgende Musiker auf der Bühne: Carlos selbst, der Ur-Bassist David Brown, Ndugu, der Drummer, der nebenbei auch noch bei Wcather Report auszuhelfen scheint, der Sänger Leon Thomas (von „Welcome“), Armando Peraza und Tom Coster an den Congas und am Piano. Eine besondere Überraschung wäre, wenn Jose „Chepito“‚ Areas oder der alte Schlagzeuger Michael Shrieve sich sehen ließen. Wenn auch die Besetzung noch ein Geheimnis ist, der Stil ist es nicht. Mit Sicherheit wird Santanas Musik sich wieder mehr an die frühere Musik anlehnen. Die lateinamerikanischen Rhythmusteppiche, die brodelnden Percussion-Sounds werden wieder im Vordergrund stehen.

Gruppenidentität

Eine Zeitlang wechselte Santanas Besetzung sage und schreibe von Auftritt zu Auftritt. Wie bei einem solchen Durcheinander gearbeitet und sich konzentriert werden kann, bleibt ein Rätsel. Irgendwie scheinen sich die alten Freunde unschlüssig zu sein, was eigentlich passieren soll oder muß. Unschlüssig vor allem in den musikalischen Belangen. Aber gerade die sind es ja, die sich auf Platten. Konzerte und dem Verhältnis der Fans gegenüber der Gruppe auswirken. Sind die Typen momentan auf der Suche nach einer neuen Gruppenidentität, oder versuchen sie vergebens, die alte wieder zusammenzukitten‘? Wen die Hauptschuld des ganzen Übels trifft, ist nicht genau zu lokalisieren. Krach um Geld, Ansehen und nicht zuletzt Frauen gab es schon von jeher, und man sollte meinen, daß sie darin genügend Erfahrung mitbringen, um sich zu einigen. Sollte vielleicht doch Carlos der Hauptgrund sein, daß sich alles so gewaltig verändert hat?

Gurus, Gurus

Einigen Mitgliedern geht das religiöse Gehabe ihres Chefs schon geraume Zeit auf die Nerven. Carlos‘ Guru-Masche und die demzufolge veränderte Lebenseinstellung paßt ihnen nicht! Einzig Michael Shrieve ist etwas vorsichtiger. Maitreya, wie er sich neuerdings nennt, ist nämlich selbst Anhänger eines Guru, wenn auch eines anderen. Folglich kann er Carlos‘ Ideen und Vorstellungen noch am ehesten verstehen und unterstützen. Die restlichen Mitglieder nehmen die unterschiedlichsten Positionen ein.“Chepito“ Areas, der Percussionist mit dem absoluten Rekord an Ein-und Ausstiegen, würde am liebsten jede Jazzbeeinflussung über Bord werfen und nur noch südamerikanische Rhythmen trommeln. Tom Coster, der Pianist, der sich nach außen hin mehr und mehr als Carlo’s rechte Hand entpuppt und Congaspieler Armando Peraza stehen all dem etwas unbeteiligt gegenüber.

Carlos der Pendler

Carlos selbst weiß nicht so recht, was er eigentlich will. Er pendelt zwischen den beiden Extremenen „reife, jazzangehauchte Stücke“ und „wild pulsierende Latino-Rhythmusorgien“ hin und her – an sich mit dem Wunsch gleich beides zu spielen. Mal hört er auf „Chepito“, der die Leute vorrangig zum Tanzen bringen will, mal hört er McLaughlin und ihrem gemeinsamen Guru Sri Chinmoy zu, die auf reife, energiegeladene Musik“.drangen“. Und da er beide Stilarten liebt, suchte er vergeblich den Kompromiß, der ihn aus dieser Misere befreien soll. „Borbolctta“, Santanas letztes Album, ist der treffendste Beweis dafür. Und keiner war zufrieden. Weder die Fans aus den Anfangstagen noch die aus der „Welcome'“-Phase.

Der große

Daß er jemals in eine solche Krise kommen würde, hätte er sich 1966, als er seine Santana Blues Band gründete, nicht träumen lassen. Damals war die Welt noch in Ordnung, und alle hatten nur ein Ziel: Musik zu machen, die sie und ihr Publikum gleichfalls begeisterte. Als Woodstock im August 1969 und ihre erste LP einen Monat später die Welt aus ihrem Dornröschenschlaf rissen, waren sie eine verschworene Gemeinschaft, die alles teilte und die sich verstand. Carlos. Gregg Rolie (Orgel), „Chepito“, David Brown, der Percussionist Mike Carabello und Michael Shrieve setzten Maßstäbe für die Popmusik. Seither hört man nicht nur auf fast jeder neuen Jazzplatte die typischen Santana-Rhythmus-Instrumente, sondern auch auf vielen Soulplatten und in den Reihen der Rockmusik-Größen. Aber 1971, nach „Santana 3“, war Schluß damit. Ein dicker Krach setzte allem ein Ende. Jeder beschuldigte jeden, und die Gruppe brach auseinander.

Neubeginn

Die musikalischen Vorstellungen gehen auseinander, und Carlos geht mit Gregg, dem Gitarristen Neal Schon und Michael ins Studio, um „Caravanserai“ aufzunehmen. Das Album, das völlig neue Wege, ein neues Feeling und die zukünftigen, zerstückelten Besetzungslisten ankündigt. Vorher gab es noch eine Live-LP mit Buddy Miles und einigen seiner Musiker, die auch ’72 erschien. Santanas Restbestände, die Ex-Mitglieder, versuchen sich an Solo-Projekten wie z.B. „Chepito“ Areas, der mit Freunden eine LP aufnimmt, oder Mike Carabello. der das gleiche tut. Bassist Brown wandert kurzzeitig wegen Drogenbesitzes in den Knast. Darüber hinaus finden sich einige von ihnen auf den LP’s der Santana ähnlichen Bands „Malo“, von Carlos Bruder Jorge angeführt, und ,.Azteca“, in der Santanafrcund und Helfer Coke Escovedo am Ruder sitzt, wieder. Auf „Caravanserai“, dem Neubeginn, spielen schon die späteren festen Mitglieder mit: Bassist Doug Rauch, der aus dem Publikum geholte Conga-Spieler Mingo Lewis, Armando Peraza und Pianist Tom Coster. Kurz nach den Aufnahmen ziehen sich allerdings Gregg und Neal zurück. Der Schritt vom alten zum neuen Stil war ihnen wohl doch eine Nummer zu groß.

McLaughlin

Als ob das nicht schon genug Veränderungen, Ärger und Verwirrungen sind, müssen nun auch noch John McLaughlin und Sri Chinmoy in Santanas Leben treten. Durch Larry Coryell auf Guru Chinmoy aufmerksam gemacht, setzten sich Carlos und wenig spater auch Michael Shrieve mit östlichen Lehren und deren Musiktradition auseinander. McLaughlin und sein Mahavishnu Orchester tauchen auf und durch den gemeinsamen Freund verbunden, nehmen die beiden eine gemeinsame Platte auf, die sich „Love, Devotion, Surrender“ nennt und recht einseitig zugunsten McLaughlins ausfällt. Aber bei dem einen Album bleibt es nicht. Aus Werbe- und Promotiongründen unternehmen sie eine gemeinsame Tour für ihren Guru, auf der sie meist mit akustischen Gitarren auftreten. Durch die Beeinflussung von McLaughlin erfährt der bis dahin eher naturhafte Santana etwas von John Coltrane und seiner Musik und fährt voll darauf ab. Sein Spiel und damit auch sein Stil werden jazziger, freier, reifer und vor allem energiegeladener. Und als „Welcome“ im Sommer ’73 die Plattenläden erreicht, gibt es einen ganz schönen Schock für alle Santana-Fans. Mit so etwas hatten die meisten nicht gerechnet.

Zurück zu den Wurzeln.

Der Schock scheint auch auf die Band zurückgegriffen zu haben. Sie nehmen sich vor, wieder erdhafter und ursprünglicher zu werden. Der schon angeschnittene Kompromiß verdeutlicht sich und nimmt erste Formen an. „Chepito“ Arcas steigt mal wieder ein. und Dave Brown übernimmt nach Jahren erneut den Baß. Pianist Rich Kermode war offenbar nur für „Welcome“ vorgesehen. Das Back-to-the-Roots-Programm beginnt auf vollen Touren zu laufen. Selbst Carlos‘ spaciges, stark jazziges Album mit John Coltrane’s Frau Alice ändert nichts an der Tatsache, daß er sich entschlossen hat. die Leute wieder tanzen zu lassen. Die Unart, für jedes Stück eine andere Besetzung auf die Beine zu stellen, was seit „Caravanserai“ ja zum alltäglichen Bild gehörte, hat auch seine Vorzüge. Die einzelnen Musiker können sich freier bewegen, der Kreativitätsspielraum ist um ein Vielfaches erweitert und eventuell auftauchende Solo-Gedanken können ungeniert in die Tat umgesetzt werden. Und die Musiker machen Gebrauch von dieser Möglichkeit:

Solo-Aktivitäten

„Chepito“ macht mal wieder den Anfang. Sein zweites Solo-Album erscheint noch dieses Jahr, wenn auch vielleicht nur in den Staaten. Michael Shrieve hat schon seil längerem eine fertige Platte in der Schuhlade, die nach einer Veröffentlichung schreit. Außerdem ist er momentan dabei, mit dem japanischen Superpercussion-As Stomu Yamashta eine weitere LP in Angriff zu nehmen. Armando Peraza, der oft unterschätzte Conga-Altmeister, wartet ebenfalls mit einer Allein-Produktion auf. Von Gregg Rolie und Neal Schon, von denen man lange Zeit nichts hörte, ist kürzlich ein Album erschienen, was sie nach der eigenen Band, „Journey“, benannten. Nur Carlos selbst, der vor fast zwei Jahren von Solo-Plänen sprach, hat noch nichts vorzuweisen. Ihm ist ganz offensichtlich die Band momentan das Wichtigste. Seit dem großen Krach anno ’71 bezahlt er seinen Leuten ein Gehalt, damit sie nicht noch einmal versuchen, seine Band zu übernehmen. Heute ist Carlos wirklich Santana!

Widersprüche?

Carlos spielt, besonders in den letzten Jahren, gerne mit vielen, völlig unterschiedlichen Musikern zusammen. Er meint, und damit hat er zweifellos Recht, es würde seinen Gesichtskreis erweitern. Er steht ohnehin auf zwei völlig verschiedene Arten von Musik: der brasilianischen und der indischen. Die Schwierigkeiten beim Verbinden dieser Schichtungen werden noch dadurch vergrößert, daß er die beiden Giiarrenextreme, einerseits seine melodiöse, klare Schönheit, auch Einfachheit mit der energiegeladenen Schnelligkeit seines „Bruders“ McLaughlin zu vereinen sucht. Diese Dinge dürften der Gruppe in den nächsten Monaten noch einiges Kopfzerbrechen bereiten. Sie haben es derzeit schwer, sich wieder zusammenzuraufen und einen geschlossenen Eindruck zu hinterlassen.