Clips und Kohle


Anfangs vom englischsprachigen Konkurrenten MTV mitleidig belächelt, hat VIVA vorgemacht, wie erfolgreich Musikfernsehen in deutscher Sprache sein kann. Doch längst ist das Geschäft mit den bunten Bildern zu einem Wirtschaftsfaktor geworden, bei dem es um Millionen geht. ME-Autor Peter von Stahl über Clips & Kohle.

Als Stefan Raab und Heike Makatsch sich vor etwas mehr als drei Jahren erstmals vor laufenden TV-Kameras im Namen von VIVA an ein jugendliches Publikum wandten, wurde das von der internationalen Großkonkurrenz MTV als „peinlicher Provinzialismus“ belächelt. Inzwischen jedoch ist den MTVlern das Spotten gründlich vergangen. Nicht nur, daß sich das deutsche Unternehmen VIVA unter Geschäftsführer Dieter Corny längst zu einem veritablen Konkurrenten des international agierenden Clip-Kanals MTV gemausert hat. Die VIVA-Visionäre besaßen zudem auch noch die Frechheit, die MTV-Macher mit Blick auf die technisch erreichbaren Haushalte in Deutschland zu übertrumpfen. Zwar senden beide Kanäle zwei Drittel des Sendetages lang ausschließlich Videoclips,doch nimmt das Angebot sowohl von MTV als auch von VIVA immer mehr den Charakter eines Vollprogramms an-vorausgesetzt natürlich, man ist jung und interessiert sich vorrangig für Musik. Trotzdem: An den schönen, bunten Videoclips allein kann es nicht liegen, daß flott gemachtes Musikfernsehen auf so viel Zuspruch stößt.

„MTV ist der Spiegel der Jugendkultur mit allen ihren Bedürfnissen“, meint Stefan Vogel, Pressesprachrohr der deutschen Dependance des global von 160 Millionen Haushalten zu empfangenden Senders, dessen Muttergesellschaft Viacom es mit einem Jahresumsatz von gut zehn Milliarden Dollar zum weltweit fünftgrößten Medienkonzern gebracht hat. Nun könnte man prinzipiell da rüber streiten, ob die Begriffe „Kultur“ und „Fernsehen“ überhaupt in einem Atemzug genannt werden dürfen. Fakt ist, daß sich die Jugendkultur mit all ihren Bedürfnissen tatsächlich in der „Benutzeroberfläche Musikfernsehen“, übrigens eine Wortschöpfung von VIVA-Boss Dieter Gorny, widerspiegelt. Gorny weiß längst, daß es „um viel mehr geht, als nur darum, Bon Jovi besser zu moderieren als die Konkurrenz“. Gerne betont er: „Wir haben eine Art von Fernsehen kreiert, das es vorher in dieser Form in Deutschland nicht gab. Unser Anspruch ist es, auch abseits der Musik Wege zu finden,Trendfernsehen zu machen und Katalysator für neue Talente zu sein.“

Doch zurück zu den Anfängen. 1993 gründeten die Plattenfirmen EMI, Sony, WEA und Polygram (gemeinsam mit dem Versandhaus-Sohn Frank Otto) einen Musik-Spartensender. Das Konsortium war sich einig, daß seine Produkte neben dem zwar europaweiten, letztlich aber in Musik und Moderation streng angloamerikanisch ausgerichtetes Programm von MTV in Deutschland eine eigene TV-Plattform brauchten. Doch heute, nachdem sowohl VIVA als auch MTV längst feste Größen sind im multimillionen Geschäft mit der populärer Musik, geht es längst nicht mehr nur ums bloße Abspielen von Videoclips. So ist Dank Dieter Gornys Devise „Pop umfaßt viel mehr als nur Musik“ der Wortanteil im VIVA-Programm nach und nach größer geworden. Neue Magazinformate wie „Niteconcert“ (mit Livegigs von Newcomer-Bands) oder „WordCup“ (mit schwarzer Musik) geben VIVA ein schärferes Profil. Darum bemüht sich der Kölner Sender auch auf anderen Feldern der Jugendkultur: VIVA-Cafes und Regionalbüros werden in allen Großstädten des Landes eröffnet. Es gibt eine VIVA-Fashion-Line (vom Käppi bis zum Sweater), auf AOL stehen seit Mai die ersten VIVA-Online-Seiten, und in den Regalen der Getränkemärkte sollen bald VIVA-Softdrinks in den Geschmacksrichtungen „Red Passion“, „Southern Jungle‘ und „Arctic Cool angeboten werden. Geschäftsführer Gorny bekennt zwar, daß der Ur-Impuls für VIVA aus den Promotionabteilungen der Plattenmultis gekommen sei, fühlt sich jedoch heute als Vorsteher eines Senders,der sich längst von bestimmten Vorstellungen der Industrie befreit hat: „Es ist doch in Zeiten, in denen schon vom Ende der CD geredet wird, kurzsichtig und naiv zu denken, daß VIVA von den Konzernen nur als Werbefläche für ihren CD-Verkauf gegründet wurde.“ Michael Oplesch, seinerzeit Mitglied der VIVA-Gründungsmannschaft und inzwischen Geschäftsführer des Hamburger Konkurrenten MTV, hat diesbezüglich seine eigene Sicht der Dinge: „Um es ganz ehrlich zu sagen, VIVA ist aus zwei Gründen gestartet worden. Erstens um endlich eine Promotionbasis für deutsche Künstler zu schaffen, und zweitens als Anstoß für MTV, schneller auf diesen gewaltigen lokalen Markt aufmerksam zu werden. Beides ist VIVA gelungen.“ Oplesch sagt dies just an jenem Tag, an dem auf seinem Sender erstmals in der MTV-Geschichte vier Nachmittagsstunden lang in deutscher Sprache moderiert wird. Dafür fängt er sich seit Wochen Spott und Häme aus Köln ein: „Wir haben das Weltsymbol MTV gezwungen, uns zu kopieren“, kommentierte Dieter Gorny stolz die Teutonisierung des Mitbewerbers. MTV-Sprecher Vogel freut sich zwar, daß für Gorny die deutschsprachigen Sendungen von VJ Holger („In Touch“),Kimsey von Reichschach („Select“) und Christian Ulmen („Hot“) „immer noch viel zu britisch aussehen“. In Ruhe betrachtet unterscheiden sich diese Shows aber tatsächlich nur marginal von den entsprechenden VIVA-Formaten – was sicher auch daran liegt, daß „wir uns ja unseren Zuschauer nicht selber schnitzen können“ (Vogel).

Das sieht Dieter Gorny ähnlich, möchte einen aus seiner Sicht besonders wichtigen Punkt allerdings noch einmal deutlich unterstreichen: „Vor drei Jahren hat man unserem Programm Provinzialismus vorgeworfen. Und jetzt stelle ich verdutzt fest, daß MTV genau die gleichen Parameter in seine Programmgestaltung einbaut, die man bei uns drei Jahre lang belächelt hat. Als Fernsehunternehmen bindet man sich doch keine zehn Millionen Mark Mehrkosten ans Bein, nur weil man meint, man müsse das mal eben so tun. Das macht man als ehemals unangefochtener Bolide doch nur, weil man es tun muß. Man ändert was, wenn man merkt, daß die Relation zwischen Investition und Ertrag nicht mehr stimmt, und weil man befürchtet, daß einem ein wichtiger Werbemarkt langsam aber sicher flöten geht.“

Stimmt. Die fortschreitende MTV-Germanisierung ist natürlich weit mehr als nur eine simple Reaktion auf den allseits unbestrittenen Erfolg von VIVA in Deutschland. Der Hauptgrund für die neuentdeckte Liebe von MTV zur deutschen Sprache ist das Geld der werbungtreibenden Wirtschaft, die den beiden Musiksendern überhaupt erst zu ihren zweistelligen Millionenumsätzen verhilft. Seit vielen Jahren schon nimmt die Begeisterung großer Markenartikelhersteller wie Levi’s, Nike, Coca Cola oder McDonald’s für weltweit oder zumindest paneuropäisch gleichgeschaltete Marketingkampagnen immer weiter ab. Cola wird zwar weiterhin weltweit getrunken, nur vermarktet werden muß es regional. Angesichts dieser für weit- oder europaweit operierende Medienkonzerne potentiell schwindenden Werbemillionen blies der 73jährige Viacom-Boss Sumner Redstone schon vor drei Jahren zum Sturm auf die Provinzen:“Unsere Sender sind erfolgreicher, wenn sie den lokalen Märkten angepaßt werden.“ Als Redstones Untergebener Brent Hansen, Programmchef von „MTV Europe“ in London, im letzten Sommer noch lauthals verkündete,die“international denkenden MTV-Zuschauer Europas würden regionale Programme niemals akzeptieren“, waren genau jene technischen Sendeeinrichtungen längst geordert, die es MTV nun ermöglichen, in Italien und Deutschland (und ab Winter auch in England und Frankreich) beliebig viele Sendungen in den jeweiligen Landessprachen zu produzieren und in das Hauptprogramm von „MTV Networks“ einzubetten.

Ray Cokes, einer der größten Stars, die das Musikfernsehen jemals hervorgebracht hat, prahlte noch 1994: „Am Ende dieses Jahrtausends wird es keinen Platz auf dieser Welt mehr geben, der nicht unter dem Einfluß von MTV steht.“ Cokes selbst steht nach seinem Abgang nun nicht mehr unter dem Einfluß von MTV, und für das Programm gilt genau das Gegenteil seiner Prophezeiung: MTV steht unter dem Einfluß Deutschlands. Die Vision, die Jugend dieser Welt würde sich auf allen Kontinenten kritiklos dem Schnittmuster der amerikanischen MTV-Vorstellung von Jugendkultur (schwerer HipHop für die Schwarzen, korrekter Alternative-Rock für die Weißen) unterwerfen, verwandelte sich in die biegsamere Losung“think global, act local.“ Um aber aber in einem eingegrenzten Markt erfolgreich agieren zu können, bedarf es bestimmter Strukturen. Eine Tatsache, die für MTV Deutschland eine explosionsartige Entwicklung mit sich brachte. Bestand das Unternehmen hierzulande bis vor nicht allzu langer Zeit noch aus einem einzigen Anrufbeantworter in München, so arbeiten nun 120 festangestellte MTVIer in der Hamburger Zentrale. Noch wird ein Großteil des Programms aus London übernommen für die hiesige Programmchefin Monika Rübsamen ein Beitrag zur Volksbildung: „Die Leute hören gern Englisch, weil sie da was lernen können. Aber wir müssen ihnen zwischendurch das Gefühl geben, sich entspannen und das Programm einfach zu 100 Prozent verstehen zu können.“ Konkret heißt das: Seit März wochentags vier Stunden deutschsprachige Moderation, in kürze auch die „News“ auf deutsch. Tendenz steigend. Aus gutem Grund, denn nach dem sprachlichen Umdenken bei MTV knallten in Hamburg die Sektkorken. Man habe, hieß es an der Alster, die nachmittäglichen Zuschauerzahlen ruckzuck verdoppelt. Feststeht indes: Obwohl beide Musiksender sich langsam aber sicher zu ernstzunehmenden Sparten-Vollprogrammen mit Magazinsendungen, Kinotips und Beratungsecken entwickelt haben, verweigern ihre Macher noch immer die Veröffentlichung der exakten Zuschauerquoten. Eine Haltung, die zumindest aus ihrer Sicht völlig verständlich ist. Denn die Quotenermittler der „Gesellschaft für Konsumforschung“ (GfK), heißt es bei VIVA und MTV ausnahmsweise mal in trauter Übereinstimmung, seien nicht in der Lage, die Einschaltquoten der Zweitfernseher in den Haushalten zu messen. Die Glotzen in den Jugendzimmern und damit genau jene Mattscheiben, auf denen sich VIVA- oder MTV-Programm bevorzugt abspielt, würden nicht erfaßt. Aus diesem Grund, argumentieren die Clip-Kanäle, könnten nur die großen, in der Regel auf dem Wohnzimmergerät gesehenen Sender von ZDF bis RTL mit den GfK-Zahlen hausieren gehen. Und weil dem nach Meinung der Musikkanal-Macher so ist, werden MTV und VIVA wohl weiterhin an einem hinlänglich bekannten Ritual festhalten: Um zu belegen, wie erfolgreich der eigene Sender doch ist, haut man sich gegenseitig sogenannte „Reichweitenstudien“ um die Ohren. Zahlen über Zahlen, von denen selbst Geschäftsführer Gorny sagt: „Diese Studien sind nicht falsch – sie sind nur unterschiedlich interpretierbar.“

Auch in diesem Punkt möchte man Dieter Gorny zustimmen. Ein Beispiel: „result: Institut für Medienforschung“ fand heraus, daß 32,4 Prozent der befragten 14- bis 29jährigen VIVA einschalten, aber nur 28 Prozent MTV. Auftraggeber der Studie: VIVA. Die Hamburger Meinungsforscher „Phone Research“ ermittelten, daß das deutschsprachige MTV-Fenster (14 bis 20 Uhr) jetzt 60 Prozent der 14 bis 19jährigen einschalten und sich die Gesamtquote um 25 Prozent auf 2,5 Millionen Zuschauer pro Tag erhöht habe. Auftraggeber der Studie: MTV. Wie auch immer diese Zahlen zustandegekommen sein mögen, wie auch immer man sie interpretieren mag-in der technischen Reichweite (gibt Auskunft über die von einem Fernsehsender technisch erreichbaren Haushalte in Deutschland) hat VIVA nach Informationen des „Spiegel“ gegenüber MTV die Nase eindeutig vorn. In Ausgabe 16/1997 gab das Hamburger Nachrichtenmagazin die für VIVA technisch erreichbaren Haushalte in Deutschland mit 19,8 Millionen an,die für MTV mit 17,4 Millionen. Dabei ist zumindest die VIVA-Zahl seit dem 17. Juni schon wieder überholt. In einer Pressemitteilung des Kölner Senders hieß es an diesem Tag: „Der europäische Satellitenbetreiber EUTELSAT hat im Mai dieses Jahres eine Untersuchung der GfK-Marktforschung in Auftrag gegeben… Positiv zeichnet die GfK-Studie die Entwicklung von VIVA mit einer Reichweite von beeindruckenden 25,7 Millionen Haushalten.“MTV, wie könnte es anders sein, führt gegen diese Zahl ins Feld, daß man weltweit über 160 Millionen Haushalte erreiche. Was jedoch letztlich zählt, sind nicht die Millionen, die man erreicht, sondern jene, die man verdient – und dann wieder ausgibt. So bezog VIVA unlängst im Kölner Mediapark ein repräsentatives Gebäude, während MTV in Hamburg den historischen Szeneschuppen „Kampnagel“ kaufte. Klar doch, der Rubel muß rollen. Aber eben auch, wenn es darum geht, mit Werbung die eine oder andere Million zu verdienen. Und da sind den Musiksendern von vornherein bestimmte Grenzen gesetzt. In diesem Zusammenhang meint Dieter Gorny, daß die von RTL 2 aus dem Programm gekippt Heike Makatsch-Show „auf VIVA sicher sehr gut bewertet worden wäre“. Dabei hat der VIVA-Geschäftsführer erneut seine homogene, jugendliche Zielgruppe vor Augen und die Tatsache,“daß bei den Zahlen der anderen Sender auch die Opis und Omis mitgerechnet sind“. Und die sind (durch die Werbebrille betrachtet) uninteressant weil sie nicht mehr in Jeans passen, zu dicke Füße für Turnschuhe haben, und weil Cola den Blutzucker hochjagt.