Das garstige Genie


Wer Mingus verstehen will, wer die Faszination begreifen will, ach was, wer das Fieber am eigenen Leib spüren will, das fast jeden packt, der es wagt, sich auf die düstere, manische und bisweilen psychopathische Welt des genialen Komponisten und Musikers einzulassen, wird nicht umhin können, sich eines Tages erst The Black Saint & The Sinner Lady, dann Mingus Mingus Mingus Mingus Mingus und schließlich gleich The Complete Atlantic Recordings 1956-1961 zu besorgen. Als Einstieg, quasi als ein erster vorsichtiger Schritt in die Richtung eines unberechenbaren Mannes, der dann und wann auch vor physischer Gewalt nicht zurückschreckte, eignet sich aber auch sein attraktives Online-Zuhause www.mingusmingusmingus.com.

Man kann, wie viele andere es getan haben, gefahr- und emotionslos über Mingus schreiben, er habe „das Baßspiel revolutioniert“. Auch sind sich Biografen einig, daß seine oft pedantisch genau arrangierten, höchst komplexen Kompositionen zum besten gehören, was die New Yorker Jazz-Avantgarde in den 50erund 6er-Jahren hervorgebracht hat. Solche Statements sind so schick, wie sie bedeutungslos sind. Wer Mingus fühlen will, muß den „Haitian Fight Song“ und die überarbeitete Fassung „II B.S.“ hören, nicht als Untermalung eines (wenn auch ansprechenden) amerikanischen TV-Spots eines deutschen Automobilkonzerns, nicht als Filmscore in „Jerry Maguire“, „U-Turn“ und „Absolute Beginners“, sondern am besten ohne ablenkende Bilder in seiner ganzen zwölfminütigen instrumentalen Pracht. Welten öffnen sich, beschäftigt man sich ausgiebig mit Mingus‘ Werk und mit ein bißchen Glück läßt sich nach ein paar Durchläufen von „Freedom“ sogar erahnen, was Thom Yorke und Johnny Greenwood an dieser Komposition so faszinierte, daß es zur direkten Inspirationsquelle für das atemberaubende „The National Anthem“ von Kid A (und wohl auch von „Pyramid Song“ von Amnesiac) werden konnte. Einblicke in Charles Mingus‘ Arbeit erlaubt ein prall gefüllter „Listening Room“ auf der offiziellen Seite des 1979 im Alter von 56 Jahren verstorbenen Musikers, in dem Real-Player-Files von mehr als 4O Aufnahmen abgelegt sind.

Charles Mingus war ein gefährlicher Mann. So geschätzt er bei seinen Mitmusikern war, so gefürchtet war er auch. Wie gewaltig seine Präsenz auf der Bühne war, verdeutlicht auf www.mingusmingusmingus.com ein Filmausschnitt im „Screening Room“: Die Aufnahme eines knapp zweiminütigen Baßsolos von 1968 zeigt den Magier mit dem selben manischen Blick, der ihn auch auf dem Coverfoto von Duke Ellingtons money iungle so bedrohlich erscheinen läßt.

Seine gewalttätigen Ausbrüche auf und hinter der Bühne, seine einschüchternde Art und seine bisweilen zur Schau gestellte Frauenfeindlichkeit – ein interessanter, wenn auch noch vergleichsweise harmloser Bericht eines Augenzeugen aus Mingus‘ Umfeld findet sich unter http://webusers.siba.fl/-eonttone//mingus/misc/seattle.html – waren aber nur eine Facette eines komplizierten Charakters: Wie ein offener Brief an Miles Davis zeigt, war Mingus, wenn es darum ging, einen Kollegen zur Nachsicht mit unerfahreneren Musikern zu mahnen, zu großer Feinfühligkeit fähig.

„Miles, ich verehre dich und du sollst wissen, daß du gebraucht wirst. Aber du bist als Person ein bißchen zu wichtig, als daß du nicht besonders darauf achten müßtest, was du über andere Musiker sagst, die auch versuchen, schöpferisch tätig zu sein. Erinnerst du dich an mich, Miles? Ich bin Charles. Ja, Mingus! Du spieltest vor elf Jahren […] die dritte Trompete bei meinen Aufnahmesessions in Kalifornien. […] Sei also nicht so hart mit Leuten, die sich auf den unteren Stufen der Karriereleiter befinden …“, schrieb er im November 1955 an Miles Davis, wie sich auf der offiziellen Website in der Rubrik „In His Own Words“ nachlesen läßt. In derselben Sparte findet sich auch die Abschrift eines „Blind Dates“: i960 spielte das renommierte Downbeat-Magazin Mingus eine Reihe von Platten vor, zu denen sich der Musiker äußerte. Lesenswert ist außerdem ein ausführliches Interview mit Charles Mingus‘ zweiter Frau Sue, die mehrere Bücher über ihren ungewöhnlichen Mann geschrieben hat: www.sonic.net/-goblin/8mingus.html.