Das Hoch im Norden


NIRVANA war erst der Anfang. Das Herz des Rock 'n' Roll schlägt in Amerikas Nordwesten. Und während noch die Welt erstaunt den Kopf verdreht, gibt's schon wieder was Neues auf die Ohren. Erste Anwärter auf die Er(b)f olge der mittlerweile millionenschweren Nachbarn: SOUNDGARDEN und PEARL JAM

Pearl Jam (v.l.): Dave Abruzzese (dr), Mike Mc Cready (g), Eddie Vedder (voc), Jeff Ament (b), Stone Gossard (g) — die Erleuchtung des Neunziger Rocks. Seit ihrem ersten Zusammentreffen willige Opfer „einer magischen Kette von Zufällen“ mit perfektem musikalischen Ergebnis. Ihr Debut-Album TEN schöpft genußvoll aus seelischen Tiefen, denn „zu netten Popmelodien kannst du keine Lieder über Leben und Tod singen“.

Soundgarden (v.l.): Matt Cameron (dr), Ben Shepherd (b), Chris Cornell (voc), Kim Thayil (b) – die Schwerstarbeiter aus dem Norden. Seit Anfang der Achtziger Seattles härteste Institution und damit erste Anwärter auf wohlverdiente Breitenwirkung. Vorläufiger Höhepunkt: ihre letzte LP BADMOTORFINGER, mit dem richtigen Ansatz für die Masse: „Pure Aggression ist das Zentrum unserer Musik.“

WENN DER ALLTAG zum Mythos wird, wird das Leben für den angehenden Rockstar zur Qual. „Wir werden diesen Hype töten, ganz einfach: Wir ziehen nach New Mexico, Soundgarden geht nach Nebraska, Nirvana schicken wir nach Wisconsin, und niemand wird uns mehr nach Seattle fragen. “ Denn, nach Seattle fragt Pearl Jam-Gitarristen Stone Gossard mittlerweile die ganze Welt. Gut zwei Jahre ist es her, daß eifrige A&R-Manager amerikanischer Major-Labels den Blick nordwärts richteten, weg von sich prostituierenden Rockdivas in spe. die im strahlenden Sonnenschein Kaliforniens ihre Tattoos ölten, um für die erste Million gerüstet zu sein.

Nordwärts, um dort einer frischen, lauten, konventionslosen und vor allem völlig unverdorbenen Szene den Hof zu machen, koste es was es wolle.

„Die Unterschrift irgendeiner Seattle-Band zu bekommen, egal wer, egal wie“

war die Mission der Abgesandten der Großindustrie, wie sich heute lokale Künstlermanagements des Nordens schmunzelnd erinnern. Doch zumindest den Besserwissern von damals, die sich fragten, „ob eine Band wie Nirvana tatsächlich ein größeres Publikum erreichen kann, ohne sich musikalisch radikal anzupassen,“ (Rolling Stone, September 1990) ist mittlerweile das zynische Lachen vergangen. Mit den Millionenumsätzen des alternativen Trios ist die Zeit reif für die Offensive des Untergrunds, aber auch für panische Aktivitäten in den Promotionabteilungen der Industrie. Von den Nachwirkungen des Nirvana-Schocks allmählich erholt, suchen alle nur das Eine: „the next big thing“ mit der richtigen Heimatadresse.

Kein Wunder also, daß hochdotierte Kandidaten wie Pearl Jam mittlerweile lieber über Seattles Schrebergärten sprechen als über die kreative Wunderwelt der hiesigen Musikszene.

„Weißt du, vor sechs Monaten hätten wir dir wahrscheinlich noch eine hochphilosophische Theorie über Seattle aufgetischt, aber mittlerweile sind wir die Frage einfach leid, “ brummt Gossard verdrossen. Die Erklärung liegt ohnehin für jeden, der mehr als sechs Monate seines Lebens im subkulturellen Brachland einer Kleinstadt verbracht hat, auf der Hand. Hier bastelt man sich seinen Spaß selbst, sonst hat man keinen. Hilfe zur Selbsthilfe lieferten dabei im Idealfal) von Seattle engagierte Lokallabelbetreiber, wie Bruce Pavitt und Jonathan Poneman aus dem Hause Sub Pop, die bald jeder angestammten Band der Stadt in die erste Vinylrille halfen, und Clubbesitzer, die ihre Acts lieber in heimischen Garagen als im MTV-Programm suchten.

Gossard: „Die Kids gehen abends aus, sehen die großen Brüder ihrer Schulfreunde spielen, denken sich, das kann ich auch, klauen Mamas Kohle, kaufen Instrumente und fangen selber an. Und das Gute daran ist: Sie machen es nicht, um irgendwann mal in MTV zu sein, oder ein schickes Auto und viele Mädels zu haben, sondern nur um selber mal auf dieser schmierigen, kleinen Bühne zu stehen.“ Stone Gossard weiß, wovon er spricht, Mitte zwanzig gehört er schon zu den anerkannten Veteranen der Szene. Mit Jeff Ament, Bassist und Langzeitpartner Gossards bis zum heutigen Tag, war er schon in den frühen Achtzigern für bemerkenswert ungezügelte Lärmattacken zwischen Countryfolk und Trashpunk bei Green River verantwortlich. Für das wütende Organ sorgte seinerzeit Mark Arm, heute um kernen Deut friedlicher als angestammte Stimme der Seattle-Institution Mudhoney bekannt. Nach einer EP und einer LP auf Sub Pop löste sich Green River 1988 auf, und Gossard und Ament gingen ¿

mit Mother Love Bone, Majordeal und Sänger Andrew Wood gezielt eigene Wege: „Wir haben uns damals ganz bewußt von Sub Pop und dieser Punk- und Undergroundecke distanziert. Wir wollten mehr. “ Verheißungsvolles Ergebnis nach einer ersten EP SHINE war 1990, verfolgt von den mißtrauischen Blicken ideologischer Independent-Puristen. Mother Love Bone’s LP-Debut APPLE. Betörender Rock, tiefgründig, schwermütig und aufreizend gefährlich — der Soundtrack zum Drahtseilakt erntete überschwengliches Lob von allen Seiten, und hatte doch seinen Absturz bereits hinter sich. „In Memory Of Andrew Wood“ war die Brandmarke des hoffnungsvollen Starts, die Mother Love Bone-Stimme war noch vor dem Erscheinen von APPLE an einer Überdosis Drogen gestorben.

„Das Leben regiert!“ Gossard und Ament zogen die einzig ehrliche Konsequenz aus der schmerzhaften Erfahrung und bannten sie mit den gemeinsamen Freunden von Soundgarden, Chris Cornell (voc). Matt Cameron (dr) und dem heutigen zweiten Pearl Jam Gitarristen Mike McCreadyaufdas Innencover ihrer nächsten Veröffe n 11 ich u ng. TEMPLE OF THE DOG, das opulente Requiem der Musikergemeinschaft für den verstorbenen Freund ist in seiner grenzenlosen Hingabe an Gefühl und Lautstärke die tatsächlich traurigste Hardrockscheibe. die je ein Plattenregal veredelt hat. und gleichzeitig völlig unsentimentales Dokument einer funktionierenden Musikergemeinschaft, die den gemeinsamen Nenner schon immer in Andrew Woods Worten fand: „Let’s fall in love with music, ihe driving force in mir living …“ („Man Of Golden WordsVAPPLE).

Die treibende Kraft ließ auch Gossard und Ament nicht ruhen. Schon auf TEMPLE OF THE DOG taucht in den Unterzeilen der Songs als zweite Stimme mit Eddie Vedder ein Name auf, der wie Gossard meint, seine und Aments Kunst heute als Sänger von Pearl Jam zur vorläufigen Vollendung bringt. „Was wir jetzt erleben, ist genau die Vison, die wir mit Green River und Mother Love Bone schon hatten. Nur damals waren wir zu unsicher und nicht in der Lage, gewisse Dinge zu steuern. Heute gibt es keine Zweifel mehr, keine Fragen mehr über Gegenwart und Zukunft, weil dies die erste Band ist, aus der wir persönlich Kraft schöpfen. Es ist fast eine spirituelle Erfahrung. Und daran ist Eddie schuld. * Eddie Vedder, ungleich unerfahrener in Sachen Bandchemie, hat seine Tage vor Pearl Jam als unentgeltlich schuftender Roadie in den Musikclubs von San Diego verbracht, „nur um so nahe neben Stewart Copeland stehen zu dürfen, daß ich sein Spiel spüren konnte, oder um einmal in meinem Leben Joe Strummers schwarz-weiße Telecaster aus nächster Nähe zu sehen. Ich war der erklärte Maniac San Diegos, der dort für keinen Penny arbeitete, nur um die T-Shirts meiner Bands in der richtigen Umgebung tragen zu können. “ Der Maniac, der nachts nie schlief, und sich in den frühen Morgenstunden auf sein Surfbrett schwang, bis er über einen Freund ein Instrumentaltape von Gossard und Ament in die Finger bekam. „Ich hörte es über Nacht, ging morgens surfen, und hatte sofort mindestens drei Songs dazu im Kopf. Dabei waren noch nicht mal Melodien auf dem Tape zu hören, nur dieser hypnotische Groove, der etwas aus mir herausholte, das vorher einfach nicht da war. “ Die Geschichte vom magischen Moment des kalifornischen Morgens bis zu Pearl Jams Debut-Album TEN war denn auch eine schöpferische Tour de Force, die alle Bandmitglieder immer noch kopfschüttelnd als „seltsam schöne und wahnsinnige Erfahrung“ schildern. Wer Pearl Jam mitleidig lächelnd als naive Hippie-Philosophen mit später Woodstock-Attitüde betrachtet, hat dabei noch nicht mal unrecht, meint Gossard: „Bei uns hörst du Led Zeppelin oder sogar Simon & Garfunkel mitklingen. Musik muß Gefühl haben, daß ist das wichtigste. „

Hochgefühl im Falle Pearl Jam, „Alive“, die erste Singleauskoppelung aus TEN bringt ihre Sache auf den Punkt: Mit Pearl Jams anrührender Variante des Neunziger Rock ’n‘ Rolls heben die Kids den Kopf zum kollektiven „Jetzt erst recht!“. „Wie ein Vergrößerungsglas in der Sonne, “ mußte Musik sein, die Poet Vedder früher konsumierte, heute macht er sie selber.

„die Lieder, die sich direkt ins Herz brennen. „Und das ist „das Größte, was mir jemals passieren konnte“.

Pearl Jams friedfertig-esoterische

Eigendefinition allein straft schon jeden Lügen, der gerne im Sound von Seattle übergreifende Gemeinsamkeiten feststellen würde. Mit der Philosophie ihrer Freunde hat die vehementeste Kraft des Nordens, Soundgarden, hörbar wenig zu tun. „Black Sabbath. Wir haben eigentlich alles, was wir korinen, von ihnen“, konstatiert Bassist Ben Shepherd knapp.

Mit zentnerschweren Heavy-Klängen und akustischen Tiefschlägen mit K.O.-Garantie verweist Soundgarden seit Mitte der Achtziger alle bösartig in Leder verpackten Kollegen auf die Zuschauerränge. Und die Konsequenz, mit der sie ihren kompromißlosen Anspruch bereits über Jahre verfolgen (Gitarrist Kim Thayil: „Mann, wir sind seit mehr als sieben Jahren zusammen. Dabei kenn ich noch nicht mal jemanden, der nur seit sieben Jahren dieselbe Freundin hat.“) läßt sich nirgends unmißverständlicher hören als auf ihrem jüngsten Werk. BAD-MOTORFINGER ist nach einem Live-Debut (SCREAMING LIVE) bei Sub Pop und einem ersten Studio-Album (ULTRAMEGA O.K.) beim Kultlabel SST, nach LOUDER THAN LOVE die zweite Major-Veröffentlichung der Band. „Ganz klar, Aggression und Bedrohung“, sind für Kim Thayil die Grundpfeiler der kakophonischen Soli und zermarternden Grooves am Rande des Nervenzusammenbruchs, die Soundgarden auf BADMOTORFINGER zur angstschweißtreibenden Perfektion reifen ließ. Doch Soundgardens Welt ist nicht der kleine Horrorladen tumber Trash-Metal-Clones. Nicht zuletzt wegen Sänger Chris Cornells markerschütternder Gesangsorgien und des mystischen-mythischen Tiefgangs seiner Texte liefert Soundgarden weitaus mehr Ballast, als headbangenden Hohlköpfen lieb sein kann. Die brutale Wut einer Soundgarden-Platte, die fliegenden Locken und der obligatorisch freie Oberkörper eines Sängers wie Chris Cornell mag Nirvanas Kurt Cobain genauso fremd sein wie Pearl Jams Eddie Vedder, doch die Basis ist tatsächlich dieselbe. Kim Thayil: „Die Leute sollten ihre Gefiihle zulassen, und sie sollten auch den Mut haben wütend zu werden. Von klein auf bekommt man erzählt, Wut sei eine destruktive Regung, ich glaube es ist viel schädlicher ßr Menschen, wenn ihnen auch noch vorgeschrieben wird, wie sie sich zufiihlen haben.“

Vielleicht ist das Grundrezept der Reinkarnation des Rock n Roll in den Neunzigern wirklich so einfach: Die Welt will nicht mehr betrogen sein. „Es wird eine Revolution geben,“ orakelt Pearl Jam Eddie Vedder. „Die Kids brauchen Werte, für die es sich zu leben lohnt.“ Oder einfach eine Gitarre.