Ein kleines bisschen Horrorshow: Das Live-Comeback von Xavier Naidoo
Im Dezember entsteigt der gefallene Reichsbürger-Versteher, Corona-Leugner und Hooligan-Kuschler Xavier Naidoo der Gruft und betritt wieder große Bühnen. Linus Volkmann huldigt einem schlimmen deutschen Musiker.
Ich schwöre, vor über 20 Jahren saß ich mal in einem Reisebus mit Xavier Naidoo. Gechartert hatte ihn seine damalige Plattenfirma EMI (R.i.P.), geladen sah sich ein Dutzend Journalist:innen, denen auf einem Rundkurs durch den Stop-and-Go-Verkehr von Köln die neue Platte des Ausnahme-Athleten Naidoo vorgespielt werden sollte.
Es fährt ein Bus nach nirgendwo
Was klingt wie ein semi-interessanter Fiebertraum, stellt 2002 die bizarre Realität der Musikindustrie dar. Da die Branche die digitale Revolution verschlafen hat, sieht sie sich millionenfach illegalem Filesharing im Netz gegenüber. Es gilt in der Branche fortan, Neuerscheinungen nicht mehr gottlos flächendeckend an alle möglichen Redaktionen zu verschicken, sondern sogenannte „Listening Sessions“ anzuberaumen. Damit verbleiben die neuen Stücke beim Hersteller und können nicht in irgendwelchen Hinterzimmern von Chef-Reds oder Praktis geleakt werden. Bei ausgewählten Produkten lassen sich die Plattenfirmen auch schon mal etwas einfallen, um solche – presseseitig wenig geschätzten – Termine aufzuwerten.
Xavier Naidoo bekommt daher eine random Busfahrt durch den stockenden Verkehr in Köln ab – einmal vom Mediapark über die Ringe und zurück. Im Nachhinein erscheint mir diese Session wie ein subtiler Diss gegen den Act, es war aber vermutlich gut gemeint. Ich persönlich nahm diese Einladung damals bloß an, um nicht den ganzen Tag in der Redaktion zu schimmeln und weil ich hoffte, das Ganze wäre am Ende so skurril, dass ich eine gute Geschichte rauspressen könnte.
Die ödeste Bus-Erfahrung meines Lebens zerschlug diese Hoffnung allerdings. Entbehrliche Medienleute, gelangweilte Plattenfirmen-Azubis und ein kaum motivierter Xavier Naidoo summierten sich zu einem komplett unlegendären Ereignis. In Erinnerung blieb mir nur von der beworbenen Platte „Zwischenspiel – Alles für den Herrn“ der Song „Wenn ich schon Kinder hätte“. Ein riegelblöder „Protestsong“ vorgetragen in einem selbstgerechten Duktus, als wären die reaktionären Schüttelreime des Text‘ ein geisthaltiges Manifest statt lediglich die umständliche Vertonung des damals sehr prominenten Aufklebers „Todesstrafe für Kinderschänder“. Überhaupt findet sich in dem sauer vergorenen Frühwerk von Xavier Naidoo schon alles angelegt, was irgendwann dann mal so richtig unangenehm werden würde.
Allein die Zeile „Ich könnt nicht mit ansehn / wie ihr dann meinem Fleisch und Blut / Lügen beibringt auf euren Schulbänken“ stellt ein eindrucksvolles Foreshadowing auf seine späteren Corona-Stunts dar.
Der Soundtrack zum Stuhlgang
Wenige Jahre später habe ich eine weitere Begegnung mit Naidoo-Anmutung. Für die damals populäre Koch-Rubrik des Intro-Magazins (ebenfalls R.i.P.) treffe ich auf Moses Pelham. Der kocht nicht nur 500 Gramm Käse mit 500 Gramm Makkaroni, sondern in den Nullerjahren auch vor Wut über seinen ehemaligen Musikerkollegen Naidoo. In mehreren Prozessen stritten die beiden über Vermarktungsrechte, Verträge und Beteiligungen. Das Interview – beziehungsweise das Kochen – fand bei Moses Pelham daheim statt. Ja, mein Leben in dieser Phase besaß ein wenig was von „MTV Cribs“ für Fußgänger:innen.
Moses bewohnte eine repräsentative Etage nahe der Hanauer Landstraße – stilecht mit Billardtisch, Original-Udo-Lindenberg-Gemälde und vielen gerahmten goldenen Schallplatten an den Wänden. Allerdings nirgendwo eine Spur von der Hit-Kollabo in den Neunzigern mit dem berüchtigten Mannheimer Xavier Naidoo. Auf die stieß man erst, betrat man eine kleine Gästetoilette. Naidoo? Der ist fürs Scheißhaus. Die Message der Hängung hätte kaum deutlicher sein können.

Dieser Weg muss weg
Gestattet mir, bevor noch mal die richtigen fiesen Äußerungen und Moves des Sängers angefasst werden müssen, folgende längst überfällige Aussage: Das unangenehmste an der „WM im eigenen Land“ 2006 stellte neben dem unappetitlichen Schwarzrotgold-Gehubere auf jeden Fall der unerträglich prätentiöse Naidoo-Song „Dieser Weg“ dar. Endlich hat es mal jemand (ich) gesagt!
Fehltritte-Swag – das defekte System Naidoo (Auszug)
Der Wikipedia-Artikel über die Kontroversen zu Xavier Naidoo wirkt wie eine zu Text geronnene Geisterbahn – mit extrem langer Fahrtzeit inklusive eines pathologischen Anstrichs. Vom Aluhut, Impfparanoia bis zu Rassismus, davon dass Deutschland kein souveräner Staat sei bis hin zu antisemitischer Verschwörungsprosa. Hier findet sich alles, was die Welt auch noch heute zu so einem feindseligen Ort macht. Habt Verständnis, dass ich an dieser Stelle nur zwei seiner vielköpfigen Hässlichkeiten in die Auslage packen werde.
Keine Möse
2012 versöhnten sich zwar Moses und Xavier, dafür ruinierte letzterer aber neben seiner eigenen fast auch die Reputation von Kool Savas. In dem gemeinschaftlichen Album XAVAS steigert sich Xavier erneut hart in Gewaltfantasien hinein, die in diesem Fall auf Homosexuelle abzielen, denen Pädophilie unterstellt wird. Der Song „Wo sind sie jetzt?“ liefert einen eindrucksvollen Tiefpunkt deutscher Musikgeschichte. Christlicher Fundamentalismus gone mad.
„Ihr tötet Kinder und Föten / und ich zerquetsch euch die Klöten. […] Warum liebst du keine Möse / weil jeder Mensch doch aus einer ist?“
Erschreckend, wie man diesen und auch alle anderen Kontroversen-Songs von Xavier bis heute im Netz findet. Diese ganzen bösen Peinlo-Stücke zu verlinken, wäre daher hier möglich, sei uns allerdings ganz bewusst erspart. Stattdessen zur Auflockerung eingestreut „Denk an die Kinder“ – ein musikalisch ironischer Kommentar des Rappers Alligatoah 2014 auf die damals schon schwelende Causa Naidoo.
„Wir sind keine Soulpop-Fans / Wir sind Naidoo-Hooligans“
Im Jahre 2000 wird der mosambikanische Vertragsarbeiter Alberto Adriano von drei Neonazis in Dessau totgeschlagen. Aus diesem Schock heraus gründet sich die Gruppe Brothers Keepers – bestehend aus afrodeutschen Rappern jener Zeit – und greift mit dem Song „Adriano (Letzte Warnung)“ in den gesellschaftlichen Diskurs ein. Die unterrepräsentierten Stimmen von Schwarzen Menschen finden Widerhall, das Opfer Adriano wird zu einer Symbolfigur rechten Terrors. Unter den Rappern findet sich im Stück und darüber hinaus auch sehr prominent Xavier Naidoo. 20 Jahre später ist jener dann erneut Teil eines Gruppensongs, diesmal sogar von ihm selbst initiiert. Der Name des Stücks lautet „Heimat“ und direkt nach Xavier Naidoo hört man Hannes Ostendorf, bekannt als Sänger der rechtsextremen Band Kategorie C. Ostendorf steht unter anderem in Verbindung mit dem Aktionsbündnis HoGeSa (Hooligans gegen Salafisten), bei deren größter Zusammenkunft 2014 in Köln spielte er am Hauptbahnhof vor tausenden angereister Hools.
Von Brothers Keepers zu Kategorie C – nichts beschreibt den Absturz Xavier Naidoos so erschütternd und prägnant wie dieser Halbsatz.
Die Entschuldigung
Vor drei Jahren dann „Die Entschuldigung“ – auf seinem YouTube-Kanal natürlich nicht als solche gelabelt, sondern unter dem Titel „#OneLove“. Love passt ja immer. Für den Upfuck, den er sich über Jahrzehnte geleistet, ist sie mit ihren 3 Minuten 14 rechtschaffen kurz – und davon gehen ja noch Begrüßung, Verabschiedung und Allgemeinplätze ab. Allerdings halte ich persönlich wenig davon, jede öffentliche Entschuldigung pauschal und reflexhaft abzuschmettern und als „Heuchelei“ oder „damit hat die Person es jetzt NUR NOCH SCHLIMMER GEMACHT!!!11“ entlarven zu wollen. Die, die uns hier Xavier Naidoo vom Teleprompter abliest, ist sehr professionell getextet und bleibt betont vage. Worte, die von tatsächlichen Emotionen gelenkt werden klingen anders – aber möchte man solche wirklich von Xavier Naidoo hören? Seit seinen tränenreichen Auslassungen zu einer vermeintlich internationalen Aktion, die gefangene Kinder aus den Händen der Adrenochrome-Sekte befreit hätte, bin zumindest ich überzeugt: Dieser Mann sollte mit seinen Emotionen nicht allein gelassen werden. Dann lieber so eine wasserdichte Erklärung verlesen, die klingt, als haben sie die Anwälte von Mister Burns verfasst. Angemerkt werden sollte aber auf jeden Fall, dass jemand, dessen problematische Äußerungen sich so konstant durch sein Werk und Tun gezogen haben, sich davon nicht in drei Minuten selbst freisprechen kann. Falls es ihm wirklich ernst ist, bedarf es hier einfach einer umfassenden Aufarbeitung.
Die Konsequenz
Entgegen landläufiger Behauptungen – unter anderem von Xavier Naidoo – ist dies hier (noch) ein freies Land. Dementsprechend kann auch ein Musiker, von dem sich sogar die Söhne Mannheims öffentlich distanziert haben, immer noch seiner Profession nachgehen. Mitte Dezember tritt Naidoo in der Kölner Lanxess Arena auf, zweimal hintereinander. Beide Veranstaltungen sind ausverkauft. Das macht schon mal 40.000 Besucher:innen, im Januar werden bei weiteren Shows noch viel mehr dazukommen. Das ist nicht schön, aber das ist die Realität. Ich würde mich gern in die Argumentation einbetten, dass die Menschen hier einem der ihren eine zweite Chance geben möchten. So in der Richtung: „Du hast die Gemeinschaft verletzt, Hass gesät, Solidarität mit Schutzbedürftigen aufgekündigt, gefährlichen Verschwörungsmythen Reichweite verschafft, aber wir nehmen dich nach deiner performativen Reue wieder in unserer Mitte auf.“
Doch es ist anzunehmen, dass sich ganz viel von diesem Zuspruch, den der Rapper rund um die Veranstaltung jetzt erhält, nicht trotz seiner Entgleisungen, sondern gerade wegen jener über ihm ergießt. Und das macht einfach richtig schlechte Laune.

Post Scriptum
Das Xavier-Naidoo-Comeback ist übrigens nur die Spitze des Scheißberges. 2026 finden zum Beispiel auch die in der ewigen Verdammnis erhofften Frei.Wild wieder auf der Bühne zusammen. Die haben ja gerade noch gefehlt. Aber richtig gruselig wird es erst, wenn irgendwann Der Wendler Gesundheitsminister wird. Okay, so schlimm sollte es dann doch nicht kommen. Allerdings kann man immer weniger ausschließen in diesen Zeiten …
Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.








