Deep in the heart of Texas


„New Sincerity“ — „die neue Aufrichtigkeit“ verkündet das Banner, unter dem sich in Texas die Gegner von Plastik-Pop und Country-Lala versammeln. Jörg Feyer besuchte das Mekka der ehrlichen Häute.

„The first time I saw Austin Town, I knew I ad to live there one day …“ Für Danny Stuart von der Gruppe Green On Red war es Liebe auf den ersten Blick; vielen anderen erging und ergeht es nicht anders: Austin, Bundeshauptstadt des Rinder- und ölstaates Texas, beherbergt eine Musikszenerie, die in punkto Vitalität und Vielfalt kaum Vergleiche fürchten muß.

Texas im Jubiläumstaumel: Vor 150 Jahren wurde die Unabhängigkeit von Mexiko erfochten, 1845 schloß sich Texas als 28. Staat freiwillig den USA an. Austin zeigt stolz Flagge: Stars & Stripes und Lone Star-Banner schmücken beidseitig die Congress-Avenue, die geradewegs auf das State Capitol zuführt. Kaum eine Tankstelle oder Fast-Food-Kette, die nicht mit einem fröhlichen „Happy Birthday“ zur Gratulations-Parade aufmarschiert wäre. Meist eingehüllt in gewaltige Nebelschwaden aus Mythos und romantischer Heroen-Verklärung, wird dem breiten Publikum in Zeitungsserien („The Texas Experience“) die Unabhängigkeits-Legende dargeboten.

Der Zufall meint es gut mit mir. Gleich bei meiner ersten Club-Exkursion steht der oben erwähnte Dan Stuart wenige Meter entfernt am Tresen und ordert mexikanisches Bier. Im „Liberty Lunch“ spielen an diesem Samstagabend zwei lokale Größen (Doctor’s Mob und Butthole Surfers) vor einem buntgemischten Publikum — viele Punks, die sich auf Brust oder Rücken als Dead Kennedys- oder Exploited-Anhänger zu erkennen geben, aber auch Bowie- und Robert Plant-T-Shirts; langbeinige Jerry Hall-Duplikate und exotische Nachtgewächse

mit obskuren Kopfbedeckungen drehen ihre Runden.

Die optische Reizkulisse beansprucht mich einen Tick zu lange: Stuart ist bereits wieder im dichten Getümmel untergetaucht. Später sehe ich ihn nur noch einmal ganz kurz, als er mit verklärtem Blick aus der Toilette schwankt — sichtlich erleichtert, offensichtlich ziemlich besoffen, jedenfalls nicht unbedingt in der richtigen Verfassung, um als ergiebiger Gesprächspartner in Frage zu kommen. Aber sein Austin-Plädoyer könnte etwa so geklungen haben: „Na ja, also das Essen ist verdammt gilt, mexikanische Küche, Bar-B-Q’s und so. Und dann das Klima — sehr angenehm, nur im Sommer wird’s ein bißchen zu heiß. Dann die vielen Clubs: Jeden Abend gute Live-Musik, vor allen Dingen so viele verschiedene Sachen. Nicht so wie im benachbarten Athens, wo es 36 Bands gibt — und alle 36 hören sich an wie eine Sparausgabe von R.E.M. „Hey, Mann, dies ist einfach eine tolle Stadt zum LEBEN…!“

Daß es in Austin (wieder mal) kräftig brodelt, wurde auch überregional registriert: Das neue Musik-Magazin „Spin“ und selbst der tranige „Rolling Stone“ brachten Berichte, MTV schickte ein Team in die „Provinz“, ja sogar bis an den Rhein war die Kunde gedrungen: „Aus dem Nichts“, notierte „Spex“ in der 85er-November-Ausgabe, entstünden in den USA immer wieder musikalische Zentren, wie jetzt eben Austin.

Aus dem Nichts? Zwar verweisen viele der neueren Bands nicht explizit auf die Tradition, aber die Grundlagen für die heutigen Aktivitäten wurden zweifellos schon in früheren Jahren gelegt. Oder, wie John T. Davies, Musikkritiker der Tageszeitung „Austin American Statesman“, formuliert: „Sie beziehen sich insofern auf die Tradition, als sie Austin gewählt haben, um hier Musik zu machen. “ Rekapitulieren wir kurz die entscheidenden Stationen, die Austin zur texanischen Musikmetropole wachsen ließen.

Die 60er: Roky Erickson und seine 13th Floor Elevators, Doug Sahm (eigentlich aus San Antonio) und sein Sir Douglas Quintett, diverse Garagen/Psychedelic-Bands. die heute aus „Texas Punk“-Kompilationen wieder ausgegraben werden. Texas ist ein repressives Pflaster, auf dem lange Haare und ein Joint ausreichen, um Polizei und Staatsanwalt zu aktivieren. Roky Erickson wandert, trotz gegenteiliger Gutachten, für drei Jahre in eine geschlossene Anstalt; andere, u.a. Sahm und Janis Joplin (aus Port Arthur), gehen nach Kalifornien, wo die aufkeimende San Francisco-Szene mehr Freiraum verspricht.

Die 70er. 1. Kapitel: Austin wird zum Mekka der sogenannten „Country-Outlaws“ um Willie Nelson, Waylon Jennings, Jerry Jeff Walker, die von der polierten, verzweifelt um ein Pop-Crossover bemühten Nashville-Maschinerie genug haben und hier ein Publikum aus Rednecks und Hippies finden, dem es ähnlich geht. Über die musikalischen Meriten läßt sich streiten, und heute, etwa wenn Walker öffentlich zum Geburtstagskonzert lädt, ist nur noch Nostalgie im Spiel.

Entscheidend ist aber, daß Rednecks und Hippies über das gemeinsame Vergnügen an der Musik ihre frühere Frontstellung begraben. Fortan gilt Austin als liberales Refugium, wo eine gelassene „live & let live „-Atmosphäre, niedrige Lebenshaltungskosten und eine rege Clublandschaft ideale Arbeitsbedingungen für Musiker bieten.

2. Kapitel: 1975 eröffnet Clifford Antone seinen Blues-Club. Seitdem ist die „White Boy Plays The Blues“-Szene, aus der u.a. Stevie Ray Vaughan, die Fabulous Thunderbirds und auch Charlie Sexton hervorgingen, fester und respektierter Bestandteil des lokalen Musikangebots. Auch jüngere Semester schauen gern vorbei, wenn allmontaglich zur Super-Blues-Party gebeten wird.

Das 10jährige Jubiläum mußte allerdings ohne den Gründungsvater stattfinden: Clifford wollte 200 Pfund Marihuana verdealen, suchte sich jedoch die falschen Klienten aus. Die potentiellen Kunden entpuppten sich als Cops, und so darf er noch eine Weile den Jailhouse-Rock singen …

3. Kapitel: Punk/New Wave treffen Austin mit voller Wucht. Die Pistols kommen zwar „nur“ bis San Antonio, aber ansonsten gastiert, von den Buzzcocks bis New Order, alles, was Rang und Namen hat. Die lokale Szene blüht kurz und heftig im Raul’s-Club auf, wo auch Elvis Costello oder Patti Smith zum Jammen vorbeischauen. Einige Bands — The Dicks, Big Boys, Standing Waves, Joe King Carrasco — nutzen die Aufbruchstimmung. um seine respektlose Tex-Mex-Variante zu lancieren. Die gesunde „du mußt kein Genie sein, um eine Band gründen zu können „-Attitüde dieser Zeit hat sich bis heute gehalten.

„He, das heißt, daß 70000 Frauen in dieser Stadt meinen Namen kennen …!“ Michael Corcoran, Musikkolumnist des „Austin Chronicle“, kann es kaum fassen: Gerade sind die neuesten Verkaufszahlen eingetroffen, die ausweisen, daß jedes der 38 000 Chronicle-Exemplare von durchschnittlich 4,65 Leser(inne)n in Anspruch genommen wird. Mit seinem Repertoire aus Musik, Film, Kunst/Literatur und Lokalpolitik ähnelt das Blatt unseren Stadtmagazinen, erscheint allerdings 14tägig und vor allen Dingen kostenlos. Heute ist der „Chronicle“ das wichtigste Medium für die lokale Kulturszene, beim Start vor über fünf Jahren sah es noch nicht so rosig aus: Man saß zwischen allen Stühlen und fand keine richtige Zielgruppe. Chefredakteur Louis Black: „Wir fielen quasi mitten in ein großes Loch, als wir anfingen. Natürlich gab es ’81/’82 vielleicht 20 Clubs, wo du Live-Musik hören konntest, und zwei oder drei Dutzend interessante Bands. Aber es gab keine Musik-Szene im eigentlichen Sinne, nichts, wo sie ein Zentrum gehabt hätte …“

Doch das Vakuum sollte sich schon bald füllen. Geburtsstätten dessen, was Ende ’83/Anfang ’84 startete und dann unter dem Etikett „New Sincerity“ nationale Beachtung finden sollte, waren das „Sparky’s“, ein kleiner Raum über einer Autowerkstatt, und besonders das „Beach Cabaret“, nur einen Steinwurf vom Uni-Campus entfernt und immer noch erste Adresse für Newcomer.

Bis auf die True Believers entstammen alle Bands dem Umfeld der University Of Texas, deren Besucher ein beachtliches Zehntel der rund 500.000 Einwohner stellen. Das Gros der Studenten, stramm auf Erfolgskurs, begnügt sich in Sachen Musik mit MTV, Disco-Besuchen und gelegentlichen Stippvisiten auf die 6th Street, wo in überteuerten Bars zahlreiche Copy-Bands Rock ’n‘ Roll- und Motown-Standards herunterspulen.

Der szenebewußte „Austinite“ meidet dieses Pflaster, es sei denn, im „Ritz Theatre“ oder „Steamboat“ gastieren Touring Acts, die unbedingt zu begutachten sind; danach geht’s vielleicht noch auf ein Bier in die „Black Cat Lounge“.

Stilistisch deckt das „New Sincerity'“-Label ein breites Spektrum ab: Traditionell ausgerichtete Gitarren-Bands wie die True Believers, Wild Seeds, Doctor’s Mob oder Poison 13, experimentellere Töne von Glass Eye und Timbuk 3, irgendwo dazwischen die Gruppe Zeitgeist sowie die verqueren Folk-Songs eines Daniel Johnston.

Vielfalt schon im kleinen Rahmen, die erst recht das Gesamtbild ausmacht. Kein Begriff charakterisiert das. was hier allabendlich in den zahlreichen Clubs über die Bühnen geht: Ein Neben- und Miteinander von Blues/R&B- und Country-Klängen, Latino- und Hardcore-Bands. Roots-Rock, Jazz, Reggae- und Karibik-Sounds…

Ein Blick vom Südufer des Colorado River auf Downtown-Austin reicht aus, um festzustellen, daß die Stadt in den letzten Jahren ein rasantes Wachstum durchgemacht hat: Steil aufragende Bank- und Geschäftsgebäude sind dem State Capitol bedrohlich zu Leibe gerückt. Hi-Tech und Mikrochips haben Einzug gehalten — und zahlreiche Baukräne signalisieren, daß die Aktivitäten noch längst kein Ende gefunden haben. Schon stöhnen die Austinites über Verkehrs- und Umweltprobleme, die sie bisher nur aus dem Fernsehen kannten.

Enorm gestiegene Grundstückspreise und Mieten haben die Live-Szenerie um entscheidende Eckpfeiler gebracht. Schnell erkannten die Grundstücks-Spekulanten, daß es weitaus lukrativer ist. ein mehrstökkiges Office-Building hochzuziehen, als einen Club, so speziell er auch sein mag, am Leben zu erhalten.

So mußte am Neujahrstag ’81 das schon legendäre „Armadillo World Headquarters“. einst Geburtsort der „Country-Outlaws“, seine Pforten schließen, für John T. Davies „der Punkt, wo die Austin-Szene ihre Unschuld verloren hat“.

Nachdem wegen ähnlicher Probleme auch der „Club Foot“ aufgeben mußte, fehlt heute eine mittelgroße Arena, die auch interessante Touring Acts nach Austin locken könnte. Eine massive, von Polizeikontrollen begleitete „Don’t Drive Drunk“-Kampagne und die geplante Erhöhung des alkoholerwerbsfähigen Alters auf 21 (jetzt 19) dürften der Club-Prosperität auch nicht gerade zuträglich sein. Vorbei die Zeiten, da man in Texas locker ein Bier aus dem Autofenster streckte, um einen Left-Turn anzuzeigen…

So rege die Aktivitäten in den Clubs, so unglaublich die Anzahl der Bands und Musiker — die industriell-geschäftliche Seite der Musik-Medaille steht dieser Ballung diametral gegenüber. Es gibt kaum Managements, nur wenige Klein(st)-Plattenfirmen, oft Einmann-Betriebe, deren zweifellos vorhandener Unternehmungslust schon finanziell enge Grenzen gesteckt sind. Die große Plattenindustrie, schon fast krankhaft auf Ost- und Westküste fixiert, hat es bislang fertiggebracht, die „Fundgrube“ Austin weitestgehend zu ignorieren.

Stevie Ray Vaughan dürfte tatsächlich der einzige sein, der in den letzten Jahren mit Original-Austin-Musik Gehör bei einem Major Label fand. Und da hat die Bowiebzw. Jagger/Richards-Connection sicher keine unwesentliche Rolle gespielt.

Charlie Sexton? Nun, der hat seiner Heimat den Rücken gekehrt und versucht sein Glück im fernen Los Angeles.

Dienstag morgen, ca. 4 Uhr: Jody Denberg muß arbeiten, aber das scheint ihm nichts auszumachen. Reine Gewöhnungssache: Schließlich sitzt er werktags immer um diese Zeit vor dem Mikrofon, um für KLBJ das Nachtprogramm zu „gestalten“. Alte Kinks- und Santana-Titel, dazwischen Wetterdurchsage und ein Werbe-Jingle, dann das Neueste von Saga, Julian Lennon, Peter Frampton oder Supertramp — die computererstellte Playlist kennt keine Gnade. „DJ’s sind schon lange keine DJ’s mehr“, seufzt Denberg, „sie sind Ansager …“

Nur zweimal pro Woche kann Denberg aus dem vorgestanzten Programm-Format ausbrechen: „Local Licks“, ein 30-Minuten-Feature, ist ausschließlich Austin-Acts vorbehalten, bei „Critic’s Choice“ ist der Titel Programm. Ed Ward, früher beim „Rolling Stone“ und seit 1979 in Austin tätig, erinnert sich besserer Zeiten: „Als ich hierher kam, spielte KLBJ diese bizarre Mischung aus alten und neuen Sachen — die einzige Station, die ich bis dahin kannte, wo du Donovan und die Clash innerhalb einer halben Stunde hören konntest. Doch dann entschied jemand, daß das nicht richtig sei, und die ganzen lokalen Sachen und alles, was nicht in die gängigen Formeln paßt, wurde nicht mehr gesendet. Frag Elvis Costello. frag die Police — KLBJ war damals einer der ersten Sender im Land, der ihre Platten gespielt hat. Noch heute wird dir Sting erzählen, daß KLBJ die erste Station war. die damals .Roxanne‘ spielte. Sie haben es zum Hit gemacht — heute machen sie keine Hits mehr, sie folgen brav den anderen …“

Die sogenannte „New Sincerity“-Szene hat heute ihren Höhepunkt längst überschritten, jedenfalls als Szene im eigentlichen Sinn. Doch die nächste Generation steht schon in den Startlöchern, um — quasi aus dem Nichts (?) — ein neues Kapitel Austin-Musik aufzuschlagen: Chlorine, Moto-X, die neue Band des Big Guitars-Gitarristen Frankie Camaro, Go Dog Go oder Bad Mutha Goose, eine Rap/Hip-Hop-Formation (ja. das gibt’s hier auch), sind nur einige von vielen neuen Namen, die während der vergangenen 12 Monate aufgetaucht sind und verstärkt Beachtung finden (werden). Austin ist 1986 eine Stadt im Umbruch; die nächsten Jahre werden Aufschluß geben, wie der Würfel fällt. Wird es gelingen, eine richtige Musikindustrie zu etablieren? Hat der Boom „den größten Schaden bereits angerichtet“ (wie Joe King Carrasco glaubt), oder kann die Stadt ihre Identität weiterhin bewahren?

Ed Ward wagt eine optimistische Prognose: „Ich glaube nicht, daß hier ein neues Houston entsteht. Der Boom wird zu einem Ende kommen, weil die finanzielle Misere bald auch den Leuten auffallen wird, die an ihm teilhaben wollen. Was die Musik anbetrifft, sind wir an einer entscheidenden Kreuzung angelangt: Die Leute hier müssen langsam ernst machen mit der geschäftlichen Seite. Wenn sie das tun, wird Austin auch weiterhin eine extrem vitale und kreative Szene haben. „