Der Boss liebt’s jetzt leise


Von großen Arenen in kleine Theater, von der Zukunft des Rock'n'Roll zurück zu Wandergitarre und Mundharmonika, von Hymnen für die Hitparaden zu nachdenklichen Songs übers eigene Land. Amerika erlebt einen neuen Springsteen. Deutschland muß warten.

Bruce Springsteen, der Mann mit dem knackigen Hintern in der zerrissenen Jeans, der Biker mit den schwarzen Stiefeln, „der größte Rockstar seit Elvis“, der Boss — auf einmal nur noch der junge mit der Mundharmonika? „Ganz genau“, antwortet mein Sitznachbar, ein treuer Springsteen-Fan, voller Vorfreude auf das Konzert: „Bruce, seine Mundharmonika und seine Gitarre — eben Boss pur.“ Gerüchten, wonach Springsteen doch noch einmal mit der E-Street Band auf Tour gehen soll, schenkt mein Nachbar keinen Glauben. Warum sollte er auch? Immerhin ist Bruce mit seinem aktuellen Album ‚The Ghost Of Tom Joad‘ nach Jahren herber Schelte wieder zum Kritikerliebling avanciert. Die neue Platte, das beste Studioalbum seit ‚Tunnel Of Love‘ und der direkte Nachfolger der 82er LP ‚Nebraska‘, handelt von den dunklen Seiten Amerikas — tote Gefühle, tote Erinnerungen, tote Körper. Wie ein Leichenbeschauer, der in seinem Leben schon zu viele Tote gesehen hat, um noch nach dem Warum zu fragen, erzählt Springsteen in seinen aktuellen Songs von mexikanischen Flüchtlingen, die Koks in Kondomen schmuggeln, um am Ende doch durch die Explosion in einem obskuren Drogenlabor ums Leben zu kommen; von Arbeitern, deren Jobs wegrationalisiert werden und die damit entbehrlich geworden sind; von einem endlosen Highway, der dann doch im Nirgendwo endet. Tom Joad, dessen Geist der Boss im ersten Song des aktuellen Albums beschwört, ist sein literarischer Bruder im Geiste, die Titelfigur aus John Steinbecks Roman ‚Früchte des Zorns‘. Kein Wunder also, daß Springsteens neue Lieder in Moll gehalten sind — keine Spur von poppigen Melodien, von mitreißenden Rhythmen, von hymnischem Hitparaden-Appeal. Frage also: Wie kann Bruce seine Metamorphose auf die Bühne bringen? Antwort: Im Grunde recht geschickt, aber eben auch leicht gequält. Für seine erste Akustik-Tour hat er keine Stadien, sondern vergleichsweise kleine Hallen und Theater buchen lassen. So auch in Boston. Im Orpheum Theater bittet er das Publikum gleich nach dem ersten Song, ‚The Ghost Of Tom Joad‘, um Stille: „Die Lieder der neuen Platte wurden in großer Ruhe geschrieben und brauchen auch live viel Ruhe.“ Damit die Stimmung aber nicht zu ernst wird, schiebt der Boss einen Scherz hinterher: „Ihr braucht mich nicht anzufeuern oder auszubuhen. Ich habe Drogen genommen und fühle mich so oder so wohl.“ Was folgt, sind 22 Songs, zwölf davon vom neuen Album, also überwiegend ernste Lieder. Dennoch schafft es Springsteen, die Konzertbesucher mit humoristischen Einlagen, Selbstkritik und Anekdoten bei der Stange zu halten. Die Fans —- es sind nicht die jüngsten, die zu dieser Show gekommen sind —- bringen ihrem veränderten Idol Respekt entgegen und geben sich manchmal sogar regelrecht begeistert. So lassen sie es sich gefallen, daß Springsteen gelegentliche „Bruuuce“-Rufe mit „Aaah, shut the fuck up“ quittiert. Sie nehmen es hin, daß er —- obwohl es die Jahreszeit geboten hätte —- zum erstenmal seit 20 Jahren nicht ‚Santa Claus Is Coming To Town‘ spielt. Und sie akzeptieren, daß Springsteen Erkennungssongs wie ‚The River‘, ‚Darkness On The Edge Of The Town‘, ‚Murder Incorporated‘ und —- allen voran —- ‚Born In The USA‘ verändert, letzteren Titel sogar bis auf eine kaum zu erkennende Slidegitarren-Klage minimiert. Was die Fans dem Mann auf der Bühne beinahe nicht verzeihen ist, daß er sich nach anderthalb Stunden auf einen Barhocker setzt und ohne Unterbrechung fünf Songs vom neuen Album spielt. Da werden dann doch böse Stimmen laut, und dem einen oder anderen Konzertbesucher fallen sogar die Augen zu. Springsteen rettet sich, indem er als Zugabe ‚Does This Bus Stop At 82nd Street?“ sowie ‚This Hard Land‘ schmettert und die Balladen-Fans im Publikum mit ‚Streets Of Philadelphia‘ befriedigt.

Als nach über zwei Stunden im Saal die Lichter angehen, ertönen Woodie Guthries ‚This Land Is My Land‘ und Ennio Morricones Titelmelodie zu ‚Once Upon A Time In The West‘. Spätestens jetzt wird deutlich, welchen Grundgedanken der neue Springsteen hegt: Amerika, so wie es einmal war, existiert nicht mehr. Es gibt eine neue Depression, und selbst Helden wie Tom Joad, die einst versprachen, zur Stelle zu sein, „wo immer jemand um seine Freiheit kämpft“, sind nur noch Geister, die nicht mehr helfen können.