Der letzte aufrechte Verlierer


Mit Joe Strummer starb ein Stück Rock'n 'Roll-Mythos. In einer Welt der Plastikstars, Imitationen und Marionetten war er eine der letzten großen Ausnahmen. Ein Nachruf von Michael Salier

Sommer 1976, ein Nachmittag auf der Londoner King’s Road: Drei junge (19, 20,21) Burschen, frisch verpackt in die Punkmode des Tages, treffen einen älteren (24), und ein paar Tage später erlebt London die Geburtsstunde der größten Rock’n’Roll-Band aller Zeiten. Alte Geschichte, oft erzählt, nur leider nicht wahr. In Wirklichkeit ist der Ältere (Joe Strummer) eine Art lokale Berühmtheit: Sänger und Gitarrist der 101ers, die sich seit Jahren in der Tretmühle limitierter Kommerzialität kaputtspielen , getragen von der Pubrock-Welle der mittleren 70er. In Wirklichkeit ist Strummer im Sommer 1976 ziemlich verzweifelt: Er hat einst seinem Zimmerkumpan im Internat geschworen, Popstar zu werden, ist unter dem Namen Woody Mellor als Landstreicher durch England und Wales gezogen, hat sich als britischer Bob Dylan gefühlt und bei einem 101ers-Auftritt den Schock seines Lebens erlebt: die Sex Pistols als Vorband. Da waren Joes gesamte Träume mit einem Schlag ein Haufen Mist; die Zukunft sah ganz anders aus.

Paul Simonon, Mick Jones und Keith Levine waren der Rettungsanker vor dem Abdriften ins Reich der überholten Altrocker. Er traf sie nicht zufällig, sondern sie waren von ihrem Manager Bernie Rhodes „gebeten“ worden, sich die 101ers anzusehen; Rhodes rief ihn danach an und gab ihm 24 Stunden Bedenkzeit: Wirf alles hin, vergiss deine Freunde, ändere dein Alter, fang ganz neu an, dann bist du dabei. Joe dachte nicht mal zwei Stunden nach.

Eine andere Geschichte, Frühjahr 1982 The Clash haben zwei einfache, ein Doppel- und ein Triple-Album abgeliefert und stehen vor der Aufgabe, mit Nummer fünf wenigstens einen Teil der Schulden, die bei ihrer Plattenfirma aufgelaufen sind (eine Dreiviertelmillion Pfund), wieder einzuspielen. Die Platte, von Joe im Alleingang zusammengeschnitten, rollt im Eilverfahren in die Läden, während die zerstrittene Band für die nicht ausverkaufte anstehende Tour probt. Da meldet am l.Mai der NME, dass Joe verschwunden ist. Bernie Rhodes verkündet, er sei wohl in Klausur gegangen, um die Situation des „sozial engagierten Rockkünstlers in der Kaugummi-Umwelt von heute“ zu überdenken.

In Wirklichkeit kam die Idee von Rhodes selbst: Joe sollte einige Zeit untertauchen, um das Interesse neu anzufachen. Der ging aber einen weiten Schritt zu weit: „Bernie sagte: „Geh nach Texas, quartier dich bei

Joe Ely ein und ruf mich jeden Morgen um 10 Uhr an. Ich fuhr aber nach Paris und dachte, es wäre ein guter Witz, wenn ich Bernie einfach gar nicht anrufe.“ Während Rhodes in London über seinem Scherz verzweifelte und ein entnervter Privatdetektiv vergeblich die Welt umreiste, hauste Joe in Paris bei einem Freund, zog durch die Cafes und nahm an einem Marathonlauf teil.

Zwischen diesen beiden Polen pendelte Joe Strummer sein Leben lang hin und her: der Sehnsucht, ein Volksheld zu sein, der womöglich eine Revolution auslöst – ein Woody Guthrie des Punkrock mit dem Gesicht von Sancho Pansa -, auf der anderen Seite der Diplomatensohn, der nichts lieber wäre als irgendein Kerl aus dem Pub nebenan. Der niemals einen Bodyguard in seiner Nähe akzeptierte, weder 1977, als Punkrocker in London Freiwild waren, noch 1983, als The Clash im Vorprogramm der Who durch die Stadien zogen und Millionen von Teenagern danach gierten, Joe ein Stück aus dem Leib zu reißen, um es zu Hause übers Bett zu hängen. Joe Strummers Garderobentür blieb immer offen.

Das Problem war vielleicht seine Herkunft. Er war nicht in der Gosse, sondern in Ankara geboren, hatte ein relativ nobles Internat besucht. Er vernichtete seine Vergangenheit, verleugnete seine Familie, und als er merkte, was er sich damit angetan hatte, war es zu spät. 1985, als seine Tochter zur Welt kam, hatte er plötzlich das Gefühl, seine Eltern nie gekannt, nie verstanden zu haben. Es war zu spät- beide starben kurz darauf. Man kann das Desaster des letzten Clash-Albums „Cut The Crap“ so erklären und sich wundern, dass alles nicht noch viel schlimmer kam. Kurz darauf verschwand Joe erneut, während Bernie Rhodes versuchte, einen Sänger für eine neue The Clash-Besetzung zu finden, die aller-allerletzte, die es dann gar nicht mehr gab.

Im Herbst 1977 habe ich zum ersten Mal Joes Stimme gehört; während „White Riot“ aus dem Grundig-Weltempfänger schepperte, bekam ich eine Ahnung davon, wie aufregend, gefährlich, wichtig Rock’n’Roll sein kann: die perfekte musikalische Umsetzung der realen Welt, wie ich sie als uferlos gelangweilter Bub im betonierten Münchner „Glasscherbenviertel“ Giesing erlebte. „Joe Public“ erzählte mir alles, was ich von der Welt wissen wollte, und zwar so, dass ich dieser Welt mit gestrecktem Mittelfinger entgegentreten konnte und wusste, dass ich recht hatte.

Ich bin Joe Strummer nicht immer blind gefolgt. Weihnachten 1980 saß ich drei Stunden lang fassungslos auf dem Sofa, ehe ich so weit war, mir einzugestehen, dass „Sandinista!“, von zwei, drei Songs abgesehen, unerträglich war. Das war Joes Schuld nur insofern, als er den bis zur Oberkante mit Morphinen abgefüllten Topper Headon am Schlagzeug geduldet hatte, statt ihn in eine Klinik zu sperren. Als Topper rausflog, hatten in meinen Augen The Clash auch moralisch ihre weiße Weste in eine schmutzige Pfütze gelegt, um trockenen Fußes das Ufer des US-Millionenmarkts zu erreichen: „I believe in this andit’s been tested by research: he who fucks nuns, will later join the church“ („Death Or Glory“).

Die kulturelle Ironie, die Mitte der 70er Jahre mit dem ausgestreckten Mittelfinger der Punks begann und 25 Jahre später in den Schnöseleien einer blasierten „Postmoderne“ gipfelte, war Joe Zeit seines Lebens fremd. Er blieb der Solitär, den Jedediah Purdy in seinem Buch „Das Elend der Ironie“ beschreibt: ein Mensch, dem es nicht gelingt, sich und seine Überzeugungen je nach Tageslage neu zu „definieren“. Wenn ein derart antimoderner Mensch sich widersprüchlich verhält, den eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird, gilt er, so Purdy, „nicht als ‚menschlich-allzumenschlich‘, sondern als Heuchler“. In dem, was ihm so gegensätzliche „Nachgewachsene“ wie Bono und Nicky Wire nachriefen, wird spürbar, wie wertvoll einer wie er war, dessen Ansprüche immer hoch genug waren, dass er selber drunter durchtaumeln musste, und der sich dennoch nie „neu erfand und zur „Marke“ gestaltete. Strummer blieb noch als Toter er selbst: kein Elvis, kein Sid Vicious, bloß eine Erinnerung. Noch nicht mal der Mann mit dem Song aus dem Levi’s-Spot, denn da hat er kaum mitgespielt „Should I Stay Or Should I Go“ war eine Hasstirade gegen ihn, von Mick Jones, seinem kongenialen Todfeind, mit dem er sich ein paar Wochen vor seinem Tod endlich auf der Bühne versöhnte. Die ersehnte (oder befürchtete) Clash-Reunion schien in greifbarer Nähe. Hat also am Ende doch die Ironie gesiegt? Ich bin Joe Strummer ein einziges Mal begegnet, bei einem Konzert in London. Ich wollte ihm etwas sagen, aber er war zu betrunken, um mich zu verstehen, und antwortete irgend etwas, was ich nicht verstanden habe, weil ich zu betrunken war. Wir grinsten beide und gingen unserer Wege.

Berichten zufolge erlitt Joe am 21. Dezember beim Spaziergang mit seinem Hund einen Herzinfarkt. Er schaffte es nach Hause, aber der Arzt kam zu spät, und Joe starb friedlich in seinem Bett. Erzählt mir nochmal was von den Helden und ihren Stiefeln. Ich habe in den letzten Jahren so viel über The Clash geschrieben, dass ich das Wort „objektiv“ ganz bestimmt nicht zu hören kriege. Pah! Und wenn ihr euch alle auf den Kopf stellt: Die Songs von The Clash, die Stimme von Joe Strummer waren und bleiben der Soundtrack meines Lebens und meiner Welt, für alle Zeiten. Danke, Joe. Du wirst mir so sehr fehlen. www.strummersite.com